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Domenico Losurdo über Russland: Teil des globalen Südens
VERÖFFENTLICHT VON LZ ⋅ 18. JULI 2022
Andreas Wehr – http://www.andreas-wehr.eu
Der Historiker und Philosoph Domenico Losurdo gilt als einer der
bedeutendsten und zugleich produktivsten marxistischen Theoretiker der
Gegenwart. Er veröffentlichte nicht weniger als 32 Bücher. Und es gibt
weitere unveröffentlichte Manuskripte. Seine Bibliografie weist 200
Essays und Artikel auf. Darüber hinaus verfasste er Beiträge für 31
Bücher anderer Autoren. In Deutschland sind seine Werke vor allem im
PapyRossa Verlag aber auch beim Argument-Verlag sowie bei VSA
erschienen. Übersetzt wurden seine Bücher in zahlreiche Sprachen. Allein
das Werk „Freiheit als Privileg – Eine Gegengeschichte des
Liberalismus“ erschien in zwölf Sprachen.[1]
Wie keinem anderen gelang es Losurdo, den traditionell engen
eurozentristischen Horizont europäischer Marxisten zu überwinden.
Geschichte und Gegenwart des globalen Südens waren in seinem Denken und
seinen Arbeiten stets präsent. Und so überrascht es nicht, dass er heute
in vielen Ländern des Südens, etwa in Brasilien, intensiv gelesen wird.
Nirgendwo sonst wurden auch so viele Bücher von ihm verkauft wie in
diesem südamerikanischen Land.
Westlicher und östlicher Marxismus
Sein 2017 in Italien veröffentlichtes Buch „Il marxisme occidentale.
Come naque, come morì, come può rinascere“ – auf Deutsch 2021 unter dem
Titel „Der westliche Marxismus – Wie er entstand, verschied und
auferstehen könnte“ erschienen – hat die Entfremdung zwischen westlichem
und östlichem Marxismus zum Gegenstand. Was hat Losurdo unter diesen
beiden Marxismen verstanden? „Geboren im Herzen des Westens, hat sich
der Marxismus mit der Oktoberrevolution in jeden Winkel der Erde
ausgebreitet, wobei er entschieden auch in ökonomisch und sozial weniger
entwickelte Länder und Gebiete mit recht unterschiedlicher Kultur
eindrang. Mit der jüdisch-christlichen Tradition als Hintergrund
schwangen im westlichen Marxismus (…) nicht selten messianische Motive
mit (die Erwartung eines ‚Kommunismus‘, mit dem jeglicher Konflikt und
Widerspruch verschwinden sollte, damit eine Art ‚Ende der Geschichte‘).
Der Messianismus fehlt hingegen weitgehend in einer Kultur wie der
chinesischen, die in ihrer tausendjährigen Entwicklung vor allem durch
ihre Aufmerksamkeit für die weltliche und soziale Realität
gekennzeichnet ist. Die weltweite Ausbreitung des Marxismus ist der
Anfang eines Spaltungsprozesses, der die andere Seite seines
aufsehenerregenden Sieges ist.“ [2]
Zu den vom östlichen Marxismus geprägten Staaten zählte Losurdo neben
China auch Vietnam sowie Kuba, obwohl sich dieses Land in einer ganz
anderen Weltregion befindet und sich seine Führer – zumindest in den
ersten Jahren nach der Revolution – stark von messianischen Gefühlen
leiten ließen.
Die Überwindung der Spaltung zwischen westlichem und östlichem Marxismus
sah Losurdo als zentrale Aufgabe der Linken: „Während sich die
Gewitterwolken eines neuen großen Krieges verdichten, erweist sich eine
solche Spaltung als äußerst unglücklich. Es ist an der Zeit, sie nun zu
beenden. Natürlich werden dadurch nicht die Unterschiede verschwinden,
die weiter zwischen Ost und West bestehen, was die Kultur, den Stand der
ökonomischen, sozialen und politischen Entwicklung und die zu
bewältigenden Aufgaben angeht: Im Osten kann die sozialistische
Perspektive nicht von der Vollendung der antikolonialen Revolution auf
allen Ebenen absehen; im Westen führt der Weg zu einer sozialistischen
Perspektive über den Kampf gegen einen Kapitalismus, der gleichbedeutend
ist mit der Verschärfung der sozialen Polarisierung und zunehmenden
militärischen Versuchungen.“ [3]
Eine erweiterte dritte Welt
In seinem 2014 erschienenen Buches „La sinistra absente – Crisi, societá
dello spectacolo, guerra“ – auf Deutsch 2017 unter dem Titel „Wenn die
Linke fehlt…Gesellschaft des Spektakels, Krise, Krieg“ erschienen –
beschreibt Domenico Losurdo die Weltlage wie sie sich ihm darbot: „Die
Dritte Welt, die Gesamtheit der Länder, die eine mehr oder weniger lange
Periode der kolonialen oder halbkolonialen Herrschaft hinter sich
haben, ist vom politisch-militärischen Stadium des nationalen
Befreiungskampfes zum politisch-ökonomischen übergegangen. Was Lenin die
‚politische Annexion‘ nannte, d. h. die direkte über ein Volk ausgeübte
Kolonialherrschaft, dem das Recht verweigert wurde, sich als
unabhängiger Nationalstaat zu konstituieren, ist weitgehend
Vergangenheit. Was es noch gibt, ist die ‚ökonomische Annexion‘, heute
potenziert durch die militärische Bedrohung (in Form eines gigantischen
Militärapparats, der auch ohne Autorisierung durch den UN-Sicherheitsrat
in Aktion treten kann) und die juristische (die von einem weitgehend
vom Westen kontrollierten und benutzten ‚Internationalem
Strafgerichtshof‘ ausgeht).“ [4]
Nicht mehr vorhanden ist der alte Ost-West Systemgegensatz: „Während die
Dritte Welt sich in radikaler Weise geändert hat, ist die Zweite Welt
buchstäblich verschwunden. Mit diesem Ausdruck belegte man traditionell
die Länder sozialistischer Orientierung, die eine Zeit lang in einem
’sozialistischen Lager‘ ökonomischer und politisch-militärischer Art
zusammengeschlossen waren. Der Kapitalismus ist nach Osteuropa, heute zu
einem großen Teil in die NATO eingegliedert, zurückgekehrt. Auf der
anderen Seite stellen sich China, Vietnam und in letzter Zeit auch Kuba
auf internationaler Ebene nicht mehr als alternatives
Gesellschaftsmodell gegen das herrschende dar, beanspruchen nicht mehr,
der ‚Leuchtturm des Sozialismus‘ im einen oder anderen Teil der Welt zu
sein. An erster Stelle engagieren sie sich, zu den industriell und
technologisch weiter entwickelten Ländern aufzuschließen, um den
Lebensstandard der Bevölkerung anzuheben, mit dem Ziel auch, für die
regierende kommunistische Partei die gesellschaftliche Konsensbasis zu
verbreitern und zu konsolidieren sowie vom Westen und insbesondere
seiner Führungsmacht inszenierte Destabilisierungsversuche zu vereiteln.
Nicht weil die sozialistische Orientierung aufgegeben würde, sondern
aufgrund der neuen Prioritätenskala tendieren China, Vietnam und Kuba
dazu, Teil der Dritten Welt zu werden. (…)“ [5]
Anders verlief die Entwicklung in Europa. Die früheren europäischen
sozialistischen Länder Mittelosteuropas sind längst feste Bestandteile
der westlichen Welt. Bis auf einige Länder des Balkans sind sie
Mitglieder der NATO sowie der Europäischen Union, auch wenn sie in der
EU aufgrund ihres vergleichsweise niedrigen Entwicklungsstands lediglich
eine untergeordnete Rolle spielen. Mit den baltischen Staaten Estland,
Lettland und Litauen sind sogar Republiken der ehemaligen Sowjetunion
Mitglieder geworden. Und geht es nach den Machtzentralen des Westens, so
sollen auch Georgien, Moldawien, vor allem aber die Ukraine diesen Weg
gehen.
Russland als Teil der erweiterten dritten Welt
Einen anderen, geradezu entgegengesetzten Kurs schlug nach einigen
Kehrtwendungen Russland, das Kernland der ehemaligen Sowjetunion, ein.
Vorbei sind die Jahre, in denen es sich zwischen 1991 und 2014 – erst
unter Boris Jelzin und dann unter Wladimir Putin – selbst zum Westen
rechnete. Es war die Zeit der Mitgliedschaft des Landes im elitären Klub
der G 8, dem Machtzentrum der bedeutendsten Industrienationen der
westlichen Welt. Doch bereits Anfang der 2000er Jahre begann der
Entfremdungsprozess. Unter der Präsidentschaft Putins durchlief dieser
Prozess mehrere Etappen. Nach der Annexion der Krim kam es 2014 zum
Bruch. Moskau wurde aus der G8 geworfen und mit weitreichenden
Sanktionen belegt. In seinem in jenem Jahr erschienenen Buch „Wenn die
Linke fehlt…“ bewertet Losurdo diese Entwicklung: „Zu dieser erweiterten
Dritten Welt, die auch die Schwellenländer umfasst, ist in gewisser
Weise auch Russland hinzugekommen. Natürlich handelt es sich um ein
Land, das eine mit imperialistischem Expansionismus durchsetzte
Geschichte hinter sich hat, das aber aufgrund seiner ökonomisch-sozialen
Fragilität und seiner ethnischen Heterogenität schnell in eine
halbabhängige Lage geraten kann.“ [6]
Losurdo durchschreitet in großen Schritten die wechselvolle Geschichte
Russlands, wobei er besonders auf die wiederholten Versuche des
Deutschen Reiches hinweist, das Riesenland aufzuteilen und in eine
gigantische Kolonie – in das „deutsche Indien“, wie Hitler zu sagen
pflegte – zu verwandeln: „Nachdem es fast zwei Jahrhunderte die
Mongolenherrschaft ertragen und lange den Albtraum der Ordensritter
erlebt hatte, sah Russland Anfang 1600 seine Hauptstadt von den Polen
besetzt; ca. hundert Jahre später erfolgte die Invasion durch Karl XII.
von Schweden und wieder ein Jahrhundert später diejenige Napoleons; am
Ende des Ersten Weltkriegs hatte Russland nicht nur die Intervention der
Westmächte zu ertragen, sondern auch einen Balkanisierungsprozess, der
nicht aufzuhalten schien. Von diesem Prozess ging Hitler aus, um den
später mit der Operation Barbarossa umgesetzten Plan zu hegen, der das
riesige eurasische Land in eine immense Kolonie und einen immensen Pool
an Sklavenarbeitskraft verwandeln sollte. Am Ende der im Kalten Krieg
erlittenen Niederlage fiel Russland für einige Zeit zurück in eine Lage,
die derjenigen, die auf die Niederlage im Ersten Weltkrieg folgte,
ziemlich ähnlich war; noch heute schafft das unerbittliche Vordringen
der NATO in Osteuropa eine gefahrenreiche Situation. Wir haben damit
eine erweiterte Dritte Welt vor uns, die die Schwellenländer und die
sozialistisch orientierten Länder umfasst und insgesamt vom Kampf um die
Realisierung oder die endgültige Durchsetzung zweier Menschenrechte
charakterisiert ist, nämlich der ‚Freiheit von Not‘ und der ‚Freiheit
von Angst‘. Diese größere Dritte Welt, die natürlich reich an
Widersprüchen in ihrem Inneren und gewiss nicht frei von
Herausforderungen und Schwierigkeiten ist, stellt trotzdem eine
Alternative zur herrschenden Weltordnung dar, aber weniger auf der
internen Ebene der einzelnen Länder als bezüglich der internationalen
Arbeitsteilung, die so lang dadurch gekennzeichnet war, dass der Westen
die Hochtechnologie monopolisiert und den Rest der Welt auf einen
Lieferanten von Rohstoffen, von Niedriglohnarbeit und nicht zuletzt auf
einen Absatzmarkt für anspruchsvollere Waren aus den entwickelten
kapitalistischen Ländern reduziert hat.“ [7]
Diese Sichtweise ist auch die des Philosophen und Publizisten Arnold
Schölzel. In einem Artikel mit der Überschrift
„Imperialismus-Inflation“, in dem er sich kritisch mit Positionen
auseinandersetzt, die Russland heute als imperialistisches Land
bewerten, schreibt er: „Die Vernachlässigung dieser Perspektive auf
Russland, d. h. das seit mehr als 100 Jahren vorherrschende Bestreben,
dieses Land zu kolonialisieren, zu ignorieren, scheint mir ein
Hauptgrund für heutige unterschiedliche Beurteilungen des Ukraine-Kriegs
zu sein.“ [8]
„Die Gewitterwolken eines neuen großen Krieges“, die Losurdo schon vor
acht Jahren sah, sind inzwischen bedrohlich nahe gekommen. Tatsächlich
begann der Krieg um die Ukraine bereits 2014. Er ist mittlerweile „Der
längste Krieg in Europa seit 1945“, wie der Titel eines Buches von
Ulrich Heyden lautet. [9]
In der Reaktion der übrigen dritten Welt auf das russische Vorgehen
zeigt sich die Richtigkeit der damaligen Analyse Losurdos: China schloss
noch kurz vor dem russischen Angriff demonstrativ einen
Freundschaftsvertrag mit dem Land. Weitere gewichtige Staaten des Südens
wie Argentinien, Brasilien, Indien, Indonesien, Pakistan, Senegal,
Südafrika und Vietnam weigern sich beharrlich, die westliche
Sanktionspolitik gegenüber Russland mitzutragen. Im Gegenteil: Staaten
wie Indien und Indonesien weiten sogar ihren Wirtschaftsaustausch mit
dem verfemten Land aus! Mit der erweiterten dritten Welt entsteht zwar
kein neuer, in sich geschlossener Machtblock, dazu sind die Unterschiede
unter den einzelnen Ländern viel zu groß. Dennoch blockiert diese
heterogene Ablehnungsfront zumindest die vom Westen angestrebte totale
Isolation Russlands. Damit werden dem Westen seine Grenzen aufgezeigt.
Selbst die Frankfurter Allgemeine Zeitung muss das anerkennen. Über
Putin heißt es dort: „In einem hat er sich nicht vertan: Seine Allianz
mit China hält, und die Mittelposition von Ländern wie Indien kommt ihm
ebenfalls zugute, sogar materiell. Wenn man so will, ist der
Ukrainekrieg tatsächlich die erste Schlacht des multipolaren
Zeitalters.“ [10]
Die verbliebene westliche Linke sollte diese Ereignisse genau studieren,
denn „die Überwindung der verhängnisvollen zeitlichen und räumlichen
Amputation des Marxismus wird nicht möglich sein, wenn die Marxisten im
Westen die Beziehung zur weltweiten antikolonialen Revolution (oft
angeführt von kommunistischen Parteien) nicht wiederherstellen, jener
Revolution, die der Hauptinhalt des 20. Jahrhunderts war und weiterhin
eine wesentliche Rolle in dem Jahrhundert spielt, in das wir inzwischen
eingetreten sind. Eine solche Beziehung wiederherzustellen, bedeutet an
erster Stelle, die koloniale Frage wieder in vollem Umfange in die
historische Bilanz des 20. Jahrhunderts und des Marxismus des 20.
Jahrhunderts einzuführen.“ [11]
[1] Andreas Wehr zu seinem Leben und Werk: „Domenico Losurdo – Theoretiker des Marxismus“,
[2] Domenico Losurdo, Der westliche Marxismus – Wie er entstand,
verschied und auferstehen könnte, PapyRossa Verlag, Köln 2018, S. 258
[3] Domenico Losurdo, Der westliche Marxismus, a.a.O., S. 260 f.
[4] Domenico Losurdo, Wenn die Linke fehlt…Gesellschaft des Spektakels, Krise, Krieg, PapyRossa Verlag, Köln 2017, S. 341 f.
[5] Domenico Losurdo, Wenn die Linke fehlt…, S. 343
[6] Ebenda
[7] Domenico Losurdo, Wenn die Linke fehlt…, a.a.O., S. 344
[8] Arnold Schölzel, Imperialismus-Inflation, in: Junge Welt vom 06.07.2022
[9] Vgl. Andreas Wehr, Protokoll des ukrainischen Bürgerkriegs,
Rezension des Buches von Ulrich Heyden, Der längste Krieg in Europa seit
1945. Augenzeugenberichte aus dem Donbass
[10] Nicolas Busse, Die erste Schlacht der neuen Zeit, in: FAZ vom 14.07.2022
[11] Domenico Losurdo, Der westliche Marxismus, a.a.O. S. 249
https://www.andreas-wehr.eu/domenico-losurdo-ueber-russland-teil-des-globalen-suedens.html
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