NACH DEM DEUTSCHEN VERBRECHEN
UNSERE MUTTER IN DER KRYPTA
Vor Jahren: Langsam gehe ich auf das große Denkmal zu. Treptow. Der
Park. Sonne und Maienduft. Jahrzehnte war ich nicht mehr hier.
Eingesteckt habe ich ein Foto. Unsere russische Mutter Tamara
(1915-1984, sie kam 1935 aus Liebe nach Deutschland, unser deutscher
Vater lernte sie in der Sowjetunion kennen) mit sowjetischen Gästen. Im
Hintergrund das Ehrenmal. Wann? Irgendwie in den 70er Jahren? Dort in
der Krypta wurde sie verewigt – in einem Mosaik-Fries mit anderen
sowjetischen Männern und Frauen. Ich bin gespannt. 1949 war ich mit
unserer Mama als dreizehnjähriger in der Krypta, kurz nach der
offiziellen Eröffnung des Ehrenmals. In Erinnerung ist mir, dass sie
ihre rechte Hand auf die Schultern einer vor ihr stehenden Frau legt.
Zum Trost. dass der Krieg beendet ist, dass das Leben weitergeht, dass
sie endlich da ist – die Befreiung von der furchtbaren Last dieses
größten verbrecherischen Krieges in der Geschichte der Menschheit.
Meine Schritte verlangsame ich. Ich denke, grübele. An meiner Seite ein
guter Bekannter. Hans heißt er. Hat ebenso einen Lebensweg hinter sich
wie ich. Der Befreiung haben wir Nachdruck verliehen, damit es nie
wieder soweit kommt. Mit der Waffe in der Hand. Wir hatten unseren Sinn
des Lebens gefunden: Humanität muss mitunter hart verteidigt werden.
Die Stufen nach oben. Die Krypta, das Eisengitter geschlossen. So ein
Pech. Was nun? Stille. Leute, die Blumen ablegen. Auch wir. Ich trete
dicht ans Tor. Die Figuren geradeaus sind gut zu erkennen. Meine Mutter
aber soll im Rondell ganz links abgebildet sein. So weiß ich das noch
von 1949. Aber den Kopf kann ich nicht durchs Gitter stecken, dafür aber
meinen Fotoapparat. Ich richte ihn wohl zu weit nach links, es wurde
nichts. Schade. Aber Hans versucht sich ebenfalls. Vielleicht schafft er
es?
Plötzlich träume ich: „Na, wie geht’s, mein guter Junge?“ Mir stockt das
Herz. Was soll ich sagen in der Kürze? Sie, die stets sich zu befreien
wusste von Kleinmut, Egoismus, Herzlosigkeit. Aber Härte konnte sie
ebenfalls zeigen: Bei Dummheit, bei kleingeistigem Denken und Verhalten,
bei blödem Geschwätz, sie war selbst immer politisch hellwach. Dazu
schön, klug und begabt. Und tapfer, als russische Mutter von vier
Kindern im faschistischen Deutschland zu überleben. In der DDR war sie
Dolmetscherin für ihre Landsleute – vorwiegend sowjetische
Wissenschaftler, die Gäste der DDR waren. Die umsorgte sie warmherzig
und mit fachlichem Können.
Verträgt sie die Wahrheit über unsere jetzigen Zustände in Deutschland?
Durch vorwiegend auch eigene Schuld, füge ich hinzu. Ist sie
erschüttert? Ich beruhige sie. Brot ist da, Kleidung, Sachwerte - alles
in Überfülle. Ich glaube, sie müde lächeln zu sehen, so von der Seite.
Nein, nur Materielles war nie der jungen Russin alleiniges Ding. Sie
liebte Musik, Literatur, Gemälde vor allem, Geistiges. Und wollte auch
reisen. Das war begrenzt, sehr sogar. Und nun, höre ich sie im Geiste
fragen? Sie verlangte stets ein klares Wort, keine Heuchelei, keine
Unehrlichkeit. Und so rede ich Klartext: das ALTE hat uns wieder in
seinem Schoß. Hart erkämpftes Soziales gibt es zwar – allerdings mit
sehr vielen Abstrichen, mit zunehmend größeren Widersprüchen. Und das
Schlimme – auch Kriege und Gewalt gibt es wieder. Weltweit. Die
Gelddiktatur schüttelt die Menschen und Verhältnisse durcheinander.
Mein Blick fällt erst Tage später auf ihre damals sehr schlanke
Frauenfigur. Abgebildet auf einem Foto von Hans, der sie mit seiner
Kamera doch noch erwischt hat. Danke, lieber Hans. Nun kann ich es ihr
nicht mehr tröstend zurufen: Wir sind wieder auf dem Weg, auf einem
zunehmend harten Weg. Und wissen nicht, wie das und wo das alles enden
wird. „Tschüß, liebste Mama!“ Dein Optimismus – er wirkt nach, er steht
fürs ewige gute Hoffen. Und fürs Tun…
Dein Sohn H.
Nachtrag vom 14. Mai 2012: Vor der Krypta fragten Hans und mich zwei
Damen an dem besagten 08. Mai, ob die Denkmal-Figur und das Kind
authentisch seien. Hans bejahte und ich ergänzte, der sowjetische
Militärjournalist Boris Polewoi habe dazu als Augenzeuge den
Tatsachenbericht geliefert.
Zu Hause habe ich mich – nach zig Jahren - bei Boris Polewoi noch einmal
schlau gemacht. Ja, er hat die Rettung des kleinen blonden Mädchens
durch den Obersergeanten Trifon Lukjanowitsch, ein Belorusse, in seinen
Büchern "Berlin 896 km" und "Die Reportagen meines Lebens" geschildert,
also selbst miterlebt. Interessant: Er schrieb von einer "Eisenstraße"
in Berlin, wo der Obersergeant über das unter feindlichem Beschuss
liegende Straßenpflaster kroch und das Kind aus den Trümmern rettete,
als es um die tote Mutter wimmerte und schluchzte. Später fand er diese
Straße nicht. Es stellte sich aber heraus, dass es die "Elsenstraße" in
Trepow war. Das war 1945 offensichtlich von einem Geschoss getroffen
worden, und so irrte er mit dem angeblichen Namen Eisenstraße.
Übrigens hatte er auch erfahren, dass es noch eine weitere Rettung eines
Kindes in Berlin gab, wie General W.I. Tschuikow einem Bildhauer
erzählt habe. Nun denn, jetzt ist mir wohler, da ich´s nochmals gelesen
hatte. Polewoi wurde später durch den Bildhauer, der das Ehrenmal schuf,
über das Aussehen des Helden tüchtig ausgefragt. Dieser Held starb
allerdings Tage später an seiner Verletzung, die ihm ein Faschist durch
einen einzigen Schuss - unmittelbar, nachdem er das Kind in die eigene
Stellung zurückgebracht hatte - zufügte.
Wen interessiert es heute noch???? Frage per E-Mail an meinen Bekannten
Hans. Seine Antwort: Bei alten Höhlenmalereien wusste auch niemand, wer
das mal sehen und bewundern wird…
Ach so: Vor uns auf den Stufen eine Schulklasse zum Ehrenmal. Sie lässt
sich fotografieren!! Und nach uns kamen noch viele – vereinzelt und in
Gruppen…
Autor, Blogger, Rezensent, Hobbymaler http://cleo-schreiber.blogspot.com
AUSBRUCH AUS DER STILLE. Persönliche Lebensbilder in Umbruchzeiten. Taschenbuch: 500 Seiten, Verlag: epubli; Auflage 1 (18. Februar 2019), Sprache: Deutsch, ISBN-10: 3748512988, ISBN-13: ISBN: 9783748512981, Preis: 26,99 Euro
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