»Marxistische Positionen
geraten unter Pauschalverdacht«
Geheimdienst gegen junge
Welt: Gewerkschafter könnten die nächsten Leidtragenden sein. Ein
Gespräch mit Hans-Jürgen Urban
Von Simon Zeise
(Hans-Jürgen
Urban ist geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall)
Herr
Urban, sind Sie Verfassungsfeind?
Bisher
dachte ich: nein. Aber nachdem ich die Begründung aus dem
Innenministerium für die Beobachtung der jungen Welt gelesen habe,
bin ich mir nicht mehr so sicher.
Das
Bundesamt für Verfassungsschutz ist der Überzeugung, man ist
Extremist, sobald man in der kapitalistischen Gesellschaft einen
Klassengegensatz zwischen Kapital und Arbeit wahrnimmt. Bekennen Sie
sich schuldig?
In diesem Sinne ja. Ich
muss aber hinzufügen: Nachdem ich die Begründung gelesen hatte, bin
ich mit einem Gefühl zwischen Ratlosigkeit und Entsetzen
zurückgeblieben. Ratlosigkeit ob des Niveaus der Argumentation und
Entsetzen über das Verständnis von Wissenschafts- und
Medienpluralismus, das darin zum Ausdruck kommt.
Der
Marxismus wird von der Behörde als verfassungsfeindliche Ideologie
diskreditiert. Gleichwohl spielt er in der Arbeiterbewegung eine
bedeutende Rolle. Wie sehr sind die Gewerkschaften von der
Entscheidung des Verfassungsschutzes beeinträchtigt?
Die
Aussage, dass auch die Bundesrepublik durch soziale Klassen
strukturiert ist, ist in Wissenschaft und Gesellschaft ein durchaus
umstrittener Standpunkt. Aber es ist zweifellos einer, der im Rahmen
eines demokratischen Pluralismus nicht nur seinen Platz hat, sondern
der, bei aller berechtigter Kritik, auch mehr zeitdiagnostische
Erklärungskraft als viele andere besitzt. Das gilt auch und gerade
aus der Perspektive der Gewerkschaften. Nehmen wir etwa die aktuelle
Debatte über Klimaschutz und Dekarbonisierung. Marx und Engels haben
den Zusammenhang zwischen den Wachstumszwängen einer
kapitalistischen, profitorientierten Marktökonomie und der
Überforderung und Zerstörung der Ökosysteme so treffend wie nur
sehr wenig andere analysiert. Dieses analytische Potential zu
verschenken wäre angesichts der aktuellen Aufgabe der
sozialökologischen Transformation geradezu verantwortungslos.
Der
Armutsforscher Christoph Butterwegge hat geschrieben, die
Klassenspaltung werde einem in der Coronakrise wie in einem Brennglas
vor Augen geführt. Sollen Stimmen, die für Lohnabhängige und
Ausgebeutete Partei ergreifen, zum verstummen gebracht werden?
Es
kann gut sein, dass dies eine Absicht ist. Aber das nahezu absurd
geringe Niveau der Argumentation erschwert eine sachliche Analyse.
Wenn der Verfassungsschutz argumentiert, dass die Charakterisierung
der Bundesrepublik als Klassengesellschaft gegen die Grundgesetznorm
der individuellen Freiheit und der Wertschätzung des einzelnen als
Individuum verstößt, dann kommt darin vor allem analytisches
Unvermögen zum Ausdruck. Eine Observationsbegründung, die nicht
einmal zwischen einer analytischen Aussage – die Bundesrepublik ist
eine Klassengesellschaft – und einer verfassungsrechtlichen Norm –
die Menschenwürde ist zu schützen – zu unterscheiden vermag,
spricht doch Bände über ihre Urheber.
Ich bin gerne bereit,
darüber zu diskutieren, dass auch die deutsche Klassengesellschaft
soziale Grundrechte und die Würde großer Teile der subalternen
Bevölkerung verletzt. Stichworte sind prekäre Arbeit, Armutslöhne
und sozial ungleich verteilte Lebenserwartungen. Aber der Grundimpuls
der Marxschen Kapitalismuskritik war doch gerade die Auffassung, dass
die klassengespaltene Gesellschaft den lohnabhängigen Individuen die
elementaren Freiheitsrechte vorenthält; und dass in der wirklich
freien Gesellschaft die Freiheit des einzelnen die Voraussetzung der
Freiheit aller ist.
Die Feststellung der zunehmenden sozialen
Spaltung infolge der Coronapandemie ist eine völlig richtige
Diagnose, die in der politischen Diskussion mehr Gehör finden muss.
Aber die marxistische Analyse kapitalistischer Klassengesellschaften
geht ja weiter. Sie prangert nicht nur ungerechte
Verteilungsverhältnisse an. Sie zielt auf das, was man die
sozial-ökonomische Tiefenstruktur der Gesellschaft nennen kann, und
sie will aufzeigen, warum die sozialen Ungerechtigkeiten kein Zufall,
sondern Folge von gesellschaftlichen Strukturen und Spielregeln sind.
Hier kommen die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse und die
Mechanismen profitgetriebener Märkte ins Spiel. Mit anderen Worten.
Das Eindringen in die Tiefenstruktur unserer Wirtschaftsordnung und
das Aufzeigen, dass ökonomische Krisen, soziale Verwerfungen und
Naturzerstörung keine Zufälle sind, das ist der analytische
Mehrwert der marxistischen Kapitalismusanalyse. Diesen Ansatz
illegalisieren zu wollen, spricht für ein Wissenschafts- und
Medienverständnis, das wohl stärker mit der Verfassung kollidiert
als die Formulierung marxistischer Positionen.
Der
Marxismus ist tief in der Arbeiterbewegung verwurzelt. Wird Ihnen als
Gewerkschafter nicht angst und bange, dass Sie ins Visier des
Verfassungsschutzes geraten könnten?
In
wesentlichen Bereichen der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit ist der
Interessengegensatz zwischen Kapital und Arbeit analytischer
Ausgangspunkt. Man muss aber gar nicht so abstrakt bleiben. Es gehört
schlicht zur gewerkschaftlichen Alltagserfahrung, dass etwa der
Versuch, die ökologische Transformation zu einer sozial-ökologischen
zu machen und die sozialen Interessen der von Arbeit abhängig
lebenden Menschen zur Geltung zu bringen, immer wieder an die Grenzen
stößt, die durch die benannten Strukturen und Spielregeln gezogen
werden. Die Profitzwänge kapitalistischer Märkte und das
Machtgefälle zwischen Kapital und Arbeit aufgrund der
Eigentumsverhältnisse blockieren vielfach die notwendigen
Veränderungen. Deshalb brauchen wir ja wirtschaftsdemokratische
Interventionen durch Grenzwerte, Auflagen und verbindliche Vorgaben,
um die Märkte zu regulieren. Und deshalb brauchen wir Gegenmacht
durch Betriebsräte und Gewerkschaften, um das Machtungleichgewicht
zu korrigieren und Einkommen, Beschäftigung und Mitbestimmung zu
schützen.
Es ist nicht das erste Mal,
das der Verfassungsschutz die Rechte der abhängig Beschäftigten
beschneiden will. 2022 jähren sich die Berufsverbote zum 50. Mal.
Befürchten Sie ein härteres Vorgehen auch gegen Arbeiter und
Angestellte?
Die Berufsverbote sind
die Geschichte eines politischen Desasters. Selbst Protagonisten, die
damals aktiv dafür eingetreten sind, wie etwa Willy Brandt, haben
das im Nachhinein eingestanden. Das ist aber nur ein Element. Wenn
man sich die Entwicklung des Verfassungsschutzes in den vergangenen
Jahren anschaut, merkt man: Nach rechts wird er immer kurzsichtiger,
nach links werden die Argumente immer skurriler. Nebenbei erfährt
man, dass der Geheimdienst Abgeordnete und halbe Parlamente
überwacht. Zusätzlich wird bekannt, dass die Behörde von Personen
geführt wird, die in radikale rechte Lager verstrickt sind. Es wird
Zeit, Praxis und Selbstverständnis der Behörde einer
grundsätzlichen Prüfung zu unterziehen, um zu schauen, ob die
Verfassung bei ihren vermeintlichen Schützern wirklich in guten
Händen ist.
Die Behörde will die
junge Welt nicht nur ideologisch bekämpfen. Vielmehr hat sie offen
erklärt, der Zeitung soll der Nährboden entzogen, sprich
ökonomischer Schaden zugefügt werden. Die Repression gegen
Marxisten und ihre Analyse des Kapitalismus erreicht eine neue
Qualität. Was ist, wenn das Beispiel Schule macht?
Wenn
sich diese Interpretationen durchsetzen und Leitlinie für die
weitere Praxis der Behörde, Ministerien oder anderen politischen
Akteuren werden sollte, dann hätte das fatale Folgen. Es würde
marxistische Positionen diskreditieren und ihre Vertreterinnen und
Vertreter unter den Pauschalverdacht der Verfassungsfeindlichkeit
stellen. Man muss deshalb deutlich auf das
Demokratiegefährdungspotential hinweisen und möglichst früh diese
Praxis des Verfassungsschutzes und ihre Rechtfertigung durch die
aufsichtführende Behörde skandalisieren, um zu verhindern, dass
diese Sicht in weitere Bereiche übergreift
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