Entnommen: https://www.nachdenkseiten.de/?p=73471
Aus Sicht der
„Sieger der Geschichte“
Lutz Hausstein
Dass die Geschichte (samt
ihren dazugehörigen Geschichten) von den Siegern geschrieben wird,
ist nicht nur ein geflügeltes Wort, sondern schon lange eine
Binsenweisheit. Dabei denken die meisten Menschen jedoch eher an
längst vergangene Zeiten vor hunderten oder tausenden Jahren, als
mangels alternativer Aufzeichnungen der Hergang der Geschichte
ausschließlich von den Siegern festgehalten wurde. Und dieser
Hergang wurde durch einseitige, beschönigende oder gar vollständig
falsche Darstellungen mehr oder minder stark verzerrt oder gar
komplett entstellt. Dass Geschichte jedoch auch heute, unter unser
aller Augen, falsch geschrieben wird, vermag sich kaum jemand
vorzustellen. Von Lutz Hausstein.
Wir hören und sehen die
Geschichtsschreibung unserer jüngsten Vergangenheit und dennoch
hören und sehen wir nicht, wie die Geschichte verfälscht wird.
Gerade den Deutschen begegnet dies Tag für Tag, Woche für Woche,
Monat für Monat. Seit mehr als 30 Jahren. In Reden von Politikern,
in politischen Kommentaren in Tageszeitungen und im Fernsehen, ja,
inzwischen sogar in unserer eigenen privaten Kommunikation abseits
der Medien, denn diese verzerrte Sicht auf die Geschichte ist längst
in unser eigenes Geschichtsbild übergegangen. Und dennoch sehen wir
es nicht, hören es nicht, begreifen es nicht. Denn die Geschichte
Ostdeutschlands wurde und wird bis heute in Teilen massiv
umgeschrieben.
Schon einmal hatte ich auf dieses Phänomen
hingewiesen, im Zusammenhang der Betrachtung des außenpolitischen
Verhältnisses „der“ Deutschen zu den USA auf der einen Seite und
zu Russland andererseits. Die Tatsache, dass die beiden Teile
Deutschlands zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der
Wiedervereinigung vollständig getrennte Länder mit jeweils eigenen
außen-, aber auch innenpolitischen Gegebenheiten waren, wird nur
selten auch genau so zur Kenntnis genommen und medial wiedergegeben.
Stattdessen existiert Geschichte in der Zeit der
Parallelstaatlichkeit von DDR und BRD in der Regel nur als Geschichte
aus dem Blickwinkel der alten Bundesrepublik. Lassen wir einmal ein
paar Beispiele in Ruhe auf uns wirken.
Wenn heute in der
Öffentlichkeit über die Fußball-Weltmeisterschaft 1974 gesprochen
wird, verklärt sich der allgemeine Blick und mit einem seligen
Lächeln fällt der Satz: „Wir sind Weltmeister geworden. Mit der
Achse Maier, Beckenbauer, Overath und Gerd Müller.“ Alternativ
vielleicht auch: „Deutschland wurde Fußball-Weltmeister 1974.“
Kaum jemand würde dies heute in Abrede stellen. Doch war dies
wirklich so? Sind wir Weltmeister geworden? Oder sind wir nicht in
der Zwischenrunde gegen Brasilien, die Niederlande und Argentinien
ausgeschieden? Das vereinnahmende „Wir“ – und erst recht
natürlich das völlig falsche und dennoch damals durchgängig und
selbst heute noch häufig gebrauchte „Deutschland“ – negiert
die Existenz des anderen Teils des damals zweigeteilten Deutschlands.
Diese Ignoranz ist umso bemerkenswerter, da die DDR-Mannschaft ja
sogar unmittelbarer Teilnehmer dieser WM-Endrunde war – und hier
sogar gegen das auch so benannte „Deutschland“ in der Vorrunde
spielte – und somit jeder vor Augen haben müsste, dass weder „wir“
noch „Deutschland“ Weltmeister geworden sein konnten.
Doch
nicht nur in diesem Punkt wird den Menschen im Land vermittelt, dass
es nur eine einzige Vergangenheit – nämlich die Westdeutschlands,
sprich der BRD – gibt. Der deutsche Raumfahrer Ulrich Walter wies
bei Markus Lanz einmal darauf hin, dass er auf die Frage, wer der
erste Deutsche im Weltraum war, entweder betretenes Schweigen ernte
oder ein eher fragendes „Ulf Merbold“ als Antwort erhält. Dass
jedoch der DDR-Bürger Sigmund Jähn der erste Deutsche war, der 1978
ins All geflogen ist, ist im westdeutschen Geschichtsbewusstsein bei
nur Wenigen verankert. Dazu trug auch der unwürdige Umgang der
Bundesregierung mit der Persönlichkeit Sigmund Jähn zeitlebens wie
auch ein weiteres Mal zu seinem Tod maßgeblich bei. Dem war schon
eine gepflegte Ignoranz anlässlich des 80. Geburtstages von Jähn
wie auch des 40. Jahrestages seines Weltraumfluges vorausgegangen.
Sigmund Jähn als einer der DDR-Bürger mit den größten
wissenschaftlichen Verdiensten fand nach der Wiedervereinigung in der
Öffentlichkeit einfach nicht mehr statt.
Derlei Beispiele
ließen sich noch viele finden. Den meisten, in West wie in Ost, ist
der großartige Zoologe, Tierverhaltensforscher und Zoodirektor
Bernhard Grzimek wenigstens dem Namen nach ein Begriff. Für viele
ist Grzimek auch heute noch, über 30 Jahre nach seinem Tod, ein
Idol. Doch wer kennt im Westen schon den Namen Heinrich Dathe, der
sich als Zoologe und Direktor des Tierparks Berlin ein weltweites
Renommee erwarb? Während Dathe nach dem Ende der DDR schlagartig dem
Vergessen anheimfiel und an ihn nur noch äußerst sporadisch und mit
ausschließlich regionaler Beschränkung erinnert wird, wird die
Erinnerung an Bernhard Grzimek auch heute noch aktiv wachgehalten. So
steht für die Zeit der getrennten Staatlichkeit einer größtenteils
funktionierenden westdeutschen Erinnerungskultur ein großes
ostdeutsches Nichts gegenüber. Die DDR hat – außerhalb des 17.
Juni 1953, des 13. August 1961, der Staatssicherheit, der Existenz
der Mauer und der friedlichen Revolution – einfach nicht
stattgefunden.
Es ist genau dieses Kontinuum, dass die
Geschichtszeichnung für Deutschland zu Zeiten der getrennten
Staatlichkeit so einseitig verzerrt. Während man von ostdeutsch
Sozialisierten wie selbstverständlich erwartet, Kenntnisse über die
bundesrepublikanische Vergangenheit auch der Zeit von 1945-1990 zu
haben, da dies zum Allgemeinwissen gehöre, gilt das umgekehrt nicht.
DDR-Geschichte, egal ob sie geschichtliche Vorgänge oder
verschiedenste Personen der Öffentlichkeit betrifft, ist
vernachlässigbar, während die Historie der alten BRD die einzig
wahre Geschichte ist. Denn der Sieger (der Wiedervereinigung)
schreibt die Geschichte. Das ist jedoch nicht nur eine völlig
unzulässige Verzerrung der Geschichtsschreibung, sondern es ist auch
genau der Aspekt, den Ostdeutsche in diesem Zusammenhang als die
mangelnde Anerkennung ihrer eigenen Lebensleistungen und die anderer
DDR-Sozialisierter beklagen.
Dieser Tatsachen bin ich mir
schon seit Längerem bewusst. Ein neues, tieferes Verständnis für
die Gründe dieser einseitigen Darstellung und der Verzerrung der
Geschichte erhielt ich jedoch, als ich den Artikel von Stefan Sasse,
der u.a. Geschichte studiert und mehrere Bücher zu historischen
Themen veröffentlicht hat, auf seinem Blog „Deliberation Daily“
gelesen hatte, der sich mit der „Bilderstürmerei“ in Zuge der
Black-Lives-Matter-Bewegung im vergangenen Jahr auseinandergesetzt
hat. Seinen Ausführungen zu diesen Vorgängen verdanke ich einen
neuartigen Zugang zum Umgang mit der DDR-Geschichte.
In seinem
Artikel hinterfragt Stefan Sasse die rituelle Bedeutung von
Denkmälern oder der Benennung von Straßen, Schulen oder Kasernen
nach bestimmten Personen. Darin beschreibt er, dass Statuen – sowie
alle weiteren vorgenannten Gedenkrituale – weniger der Huldigung
dieser Personen an sich dienen, sondern vielmehr die dahinterstehende
Idee repräsentieren. Werden durch eine Gesellschaft Statuen
aufgestellt, symbolisiert dies die Macht der dahinterstehenden Idee.
Werden die Statuen durch eine darauffolgende, gegnerische Macht
gestürzt, vernichtet oder anderweitig beseitigt, ist in diesem
Verständnis der Sturz der damit verbundenen Idee zu verstehen. Nicht
die Huldigung der jeweiligen Person soll mit dem Sturz oder der
Ausradierung seines Namens beendet werden, sondern der Sieg der neuen
Idee, der neuen Macht über die alte.
Wer erinnert sich nicht
an die Umbenennung von x-tausenden Straßen in Ostdeutschland zu
Beginn bis Mitte der 90er Jahre. Die wenigsten davon waren sachlich
gerechtfertigt. Den überschaubar wenigen Menschen, die sich echter
Verbrechen während der sozialistischen Herrschaftszeit schuldig
gemacht hatten und denen dennoch mit der Benennung von Straßen, aber
auch Gebäuden gehuldigt wurde, stehen Abertausende gegenüber, denen
kein einziges Verbrechen, außer einer mehr oder minder starken
Verbundenheit zum vergangenen System, zur Last gelegt werden konnte.
Mehr noch. Selbst historische Persönlichkeiten, die schon seit
Jahrhunderten tot sind und die schon allein aus diesem Grund keine
diesbezügliche Schuld auf sich geladen haben konnten, fielen der
modernen „Namensstürmerei“ anheim. Selbst der Name eines Thomas
Müntzer, des legendären Revolutionärs der Bauernkriege, der aktiv
Maßnahmen zu mehr sozialer Gerechtigkeit im 16. Jahrhundert
vorantrieb, wurde mancherorts durch Umbenennungen aus der Erinnerung
getilgt. Und das einzig und allein deswegen, weil der Name Thomas
Müntzer symbolhaft für das Streben nach mehr sozialer Gerechtigkeit
und Gleichheit und für den Kampf gegen die „gottgegebene“
Herrschaftskaste stand und die DDR ihm aus ebendiesem Grund gehuldigt
hatte. Stattdessen erhielten diese Straßen und Gebäude teils
zweifelhafte „Ehrennamen“ diverser Militaristen oder
Industrieller des 19. und 20. Jahrhunderts. Dies ist wohl eines der
deutlichsten Beispiele, anhand dessen sich zeigen lässt, wie der
Kapitalismus mit der Namensstreichung vor allem die Idee, für die
der Namensgeber symbolisch steht, als besiegt darstellen und
delegitimieren wollte und stattdessen mit seinen eigenen Symbolen als
siegreiche Idee füllte.
Wenn viele Ostdeutsche seit Längerem
beklagen, dass sie ihre Lebensleistungen zu wenig oder gar nicht
geachtet fühlen, hat es vor allem seine Ursache darin, dass nach der
„feindlichen Übernahme der DDR auf Wunsch der Übernommenen“
(Daniela Dahn) der Kapitalismus alles daran setzte, die Idee des
Sozialismus zu delegitimieren, indem er seine Symbole diskreditierte
oder verschwinden ließ. Wenn Thomas-Müntzer-Straßen und
Rosa-Luxemburg-Plätze umbenannt wurden, wenn Heinrich Dathe fast
vollständig dem Vergessen anheimfiel (bzw. anheimgefallen lassen
wurde) und Sigmund Jähn ebenfalls mit allen Mitteln aus dem
kollektiven Gedächtnis gelöscht werden soll, indem die Stadt Halle
im Februar dieses Jahres beschloss, das seit 1978 mit dem Namen
Sigmund Jähns versehene Raumflugplanetarium, das aufgrund von
Hochwasserschäden an einem neuen Standort errichtet werden musste,
nun ohne seinen Namen neu zu eröffnen, fühlen sich viele
Ostdeutsche ihrer eigenen Vergangenheit beraubt. Sämtliche
klingelnden Beteuerungen von Politikern, dies nun aber ändern zu
wollen, klingen nach über 30 Jahren in den Ohren der Ostdeutschen
nur noch wie Hohn.
So stellt sich den Menschen im gemeinsamen
Deutschland vor allem eine Aufgabe: Wir können zwar die medialen und
politisch vorangetriebenen Falschdarstellungen der getrennt erlebten
deutschen Geschichte an diesen exponierten Stellen nicht
beeinflussen. Umso mehr ist es aber unsere gemeinsame Aufgabe, uns im
gegenseitigen Austausch diese unsere Geschichte wechselseitig zu
vermitteln. Auch hier gilt wie in allen anderen Bereichen des Lebens:
Um den Anderen zu verstehen, müssen wir ihn seine Geschichte
erzählen lassen, ihm zuhören und seine Beweggründe begreifen
lernen. Das ist der beste Weg, um Ressentiments abzubauen und sich
selbst einen objektiveren Blick auf die Geschichte zu verschaffen.
Verspielen wir diese Chance, wird dieser Teil der Geschichte
dauerhaft von den Siegern umgeschrieben worden sein. Etwas anderes
können wir von den Geschichte(n)erzählern leider nicht erwarten.
SSSSSSSSSSSSSSSS
Sehr geehrter Herr Lutz Hausstein, als einstiger DDR-Bürger bedanke ich mich sehr für Ihre eindringliche Mahnung, die Vergangenheit und ihre Lehren nicht unter den Teppich zu kehren. In meinen Augen vollzieht die Kapitalmacht der BRD nicht nur einen Trennstrich, ja, sogar eine Mauer, zwischen ihrem machterhaltenden Streben und der DDR, sondern auch zur deutschen Geschichte, ja, sogar zu den deutschen Dichtern und Denkern, z.B. auch zur Goethezeit. Alles was in Richtung Humanismus weist zur Überwindung des global agierenden Imperialismus wird negiert und totgeschwiegen. Ich bin davon überzeugt, dass sich der Pack der Teufel sein eigenes Grab schaufelt. Früher oder später. Alles Gute für Sie, Herr Hausstein. Ihr Harry Popow
Sehr geehrter Herr Lutz Hausstein, als einstiger DDR-Bürger bedanke ich mich sehr für Ihre eindringliche Mahnung, die Vergangenheit und ihre Lehren nicht unter den Teppich zu kehren. In meinen Augen vollzieht die Kapitalmacht der BRD nicht nur einen Trennstrich, ja, sogar eine Mauer, zwischen ihrem machterhaltenden Streben und der DDR, sondern auch zur deutschen Geschichte, ja, sogar zu den deutschen Dichtern und Denkern, z.B. auch zur Goethezeit. Alles was in Richtung Humanismus weist zur Überwindung des globsl agierenden Imperialismus wird negiert und totgeschwiegen. Ich bin davon überzeugt, dass sich der Packt der Teufel sein eigenes Grab schaufelt. Früher oder später. Alles Gute für Sie, Herr Hausstein. Ihr Harry Popow
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