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Josef Bramls „Die transatlantische Illusion“ – Weshalb Deutschland aufrüstet
VERÖFFENTLICHT VON LZ ⋅ 7. JUNI 2022 ⋅ 3 KOMMENTARE
von Peter Schwarz – http://www.wsws.org
Am vergangenen Freitag verabschiedete der Bundestag mit großer Mehrheit
das „Sondervermögen Bundeswehr“ in Höhe von 100 Milliarden Euro, das den
deutschen Rüstungshauhalt auf einen Schlag verdreifacht. Die Bundeswehr
werde „die größte konventionelle Armee im europäischen NATO-System
sein“, verkündete Bundeskanzler Olaf Scholz.
Was ist der Grund für diese Aufrüstungsoffensive?
Offiziell wird sie als Reaktion auf den Ukrainekrieg dargestellt.
Russland habe den Krieg nach Europa zurückgebracht, Deutschland und die
Nato müssten „Demokratie“ und „westliche Werte“ auch mit militärischen
Mitteln gegen „Autokratien“ wie Russland verteidigen, lautet die
Begründung, die Tag und Nacht über alle verfügbaren Kanäle verbreitet
wird.
Doch das ist Propaganda. Der Ukrainekrieg dient als willkommener
Vorwand, ist aber nicht der Grund, weshalb Deutschland nach über 75
Jahren erzwungener Zurückhaltung wieder zur militärischen Großmacht
werden soll. Entsprechende Pläne sind seit langem in Diskussion und
werden nun aus den Schubladen geholt.
Besonders deutlich zeigt dies das Buch „Die Transatlantische Illusion“
von Josef Braml, das kurz vor dem russischen Angriff auf die Ukraine
fertiggestellt wurde und Mitte März im Verlag C.H.Beck erschien.
Braml ist ein anerkannter und bestens vernetzter Politikwissenschaftler.
Er arbeitet seit 2006 für die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige
Politik (DGAP), wo er das Amerika-Programm leitet. Seit zwei Jahren ist
er zudem Generalsekretär der Deutschen Gruppe der Trilateralen
Kommission. Zuvor war er u.a. für die Stiftung Wissenschaft und Politik
(SWP), für die Brookings Institution und als legislativer Berater im
US-Abgeordnetenhaus tätig. Er schreibt also nicht als Außenseiter.
In den Medien erntete sein Buch nur Lob. Seine „weitsichtige
Empfehlungen für eine umfassende ‚europäische Souveränität‘“ seien
„angesichts des Ukrainekrieges aktueller denn je,“ schreibt die
Süddeutschen Zeitung. Und die Frankfurter Allgemeine Zeitung bezeichnet
sein Buch als „eine Vorwegnahme des nun verkündeten
100-Milliarden-Nachrüstungsprogramms der Ampelkoalition“.
Russland spielt in Bramls Buch nur eine sekundäre Rolle. Er erwähnt zwar
begierig, dass das „flächenmäßig größte Land der Erde … auch die
weltweit größten Rohstoffvorkommen besitzt“. Aus europäischer Sicht gehe
es aber darum, „Russland einzubinden und einzuhegen und es nicht
gänzlich an die Seite Chinas zu treiben“. Dafür schlägt er eine Politik
vor, die „Wandel durch diplomatische Annäherung“ mit „glaubwürdiger
militärischer Abschreckung“ verbindet.
Braml gibt unumwunden zu, dass Russland von der Nato in den Krieg
getrieben wurde. Auch in den westlichen Hauptstädten wisse man, „dass
die bisherige Osterweiterung der Nato und die
Mitgliedschaftsperspektiven für Georgien und Ukraine sowie die
militärische Zusammenarbeit von USA und Nato mit post-sowjetische
Staaten im Kreml als Bedrohung wahrgenommen“ würden, schreibt er.
„Einmal umgekehrt gefragt: Würde Washington die freie Bündniswahl
respektieren, wenn Mexiko ein Militärbündnis mit China schlösse?“
Er gelangt zum Schluss, dass Europa derzeit gar nicht in der Lage sei,
„eine eigenständige Russlandpolitik zu betreiben“. Nur Washington könne
die Garantien geben, „auf die es dem Kreml ankommt“. Er schließt auch
nicht aus, dass sich die USA in Zukunft mit Russland verbünden und damit
die Europäer „vor völlig anders geartete“ Probleme stellen könnten.
Herausforderung USA
Die größte Herausforderung der zukünftigen deutschen Außenpolitik macht
Braml nicht in Moskau und auch nicht in Peking fest, sondern in
Washington. Deutschland müsse seine wirtschaftlichen und geopolitischen
Interessen wieder aus eigener Kraft wahrnehmen, lautet die Kernthese
seines Buchs – nicht nur gegen Russland und China, sondern auch und vor
allem gegen die USA.
„Wenn die Europäische Union ein ‚Global Player‘ und nicht Spielball
anderer Mächte sein soll, muss allen voran Deutschland seine
Außenpolitik auch gegenüber den USA entscheidend korrigieren,“ fordert
er. Die Interessen Deutschlands seien „nicht immer identisch oder
kompatibel mit denen anderer Staaten, auch nicht mit jenen der
vermeintlichen Schutzmacht USA“.
Deutschland und Europa – Braml schreibt gern „Europa“, wenn er deutsche
Interessen meint – sollten sich „nicht länger der transatlantischen
Illusion hingeben, dass die ‚Schutzmacht‘ USA für die Sicherheit und den
Wohlstand der Alten Welt mit sorgt. Sonst drohen sie zum
Kollateralschaden des weltumspannenden Konfliktes zwischen der
angeschlagenen Weltmacht USA und dem aufstrebenden China zu werden.“
Und weiter: „Die strategischen und wirtschaftlichen Interessen ihrer
europäischen Verbündeten stimmen inzwischen in einer ganzen Reihe von
Bereichen nicht mehr mit denen der amerikanischen Führungsmacht
überein.“ „Kommt es zu ernsthaften Interessenkonflikten mit der
westlichen Führungsmacht, steht Europa strategisch vollkommen blank da,“
laute die beunruhigende Erkenntnis aus dem einseitigen Bruch des
Atomabkommens mit dem Iran durch die Trump-Administration.
So geht es seitenlang weiter. Unter Präsident Biden habe sich das
Verhältnis zwischen Europa und den USA zwar etwas verbessert, meint
Braml, aber die „innenpolitischen Entwicklungen in den USA“ könnten
Trump erneut ins Amt befördern. Hinzu komme, „dass die Demokraten schon
aus innenpolitischen Gründen ebenfalls eine ‚America First‘-Politik
betreiben“.
Auch rückblickend kommt die Außenpolitik der USA bei Braml ziemlich
schlecht weg. Washington habe „allzu oft die hehren Werte bloß
beschworen, um eine interessengeleitete Machtpolitik zu kaschieren,“
schreibt er. Nirgends sei dies in den letzten Jahrzehnten so deutlich
geworden wie im Mittleren Osten. „Der Irakkrieg von 2003 war ein
völkerrechtswidriger Angriffskrieg.“ Immer wieder hätten sich die USA,
wie im Iran, die Feinde selbst geschaffen, „die sie anschließend
aufwändig bekämpfen mussten“.
„Die moralische Führungsmacht USA“ habe „Federn gelassen“; bilanziert
er. „In der Regierungszeit von George W. Bush ist Washington vom Pfad
abgekommen und hat ihn bis heute nicht wiedergefunden.“ Auch aus anderen
Gründen falle „Washington derzeit als Garant der liberalen Weltordnung
aus, auf den Deutschland und Europa angewiesen sind“.
Braml belässt es nicht bei dem Vorwurf, die USA würden in Zukunft als
„Schutzmacht“ Europas ausfallen. Er beschuldigt Washington, es werde
versuchen, seine Probleme auf Kosten der Europäer lösen.
Das heiße jedoch nicht, fährt er fort, „dass sich die USA aus der Welt
zurückziehen werden. Washington wird vielmehr geostrategisch wichtige
Regionen wie Europa, den Mittleren Osten und Asien umso mehr durch
Realpolitik zu kontrollieren versuchen und dieses Vorgehen durch hehre
Werte kaschieren“. Deshalb müsse Europa in die Lage versetzt werden,
„seine Probleme selbst zu lösen“.
Aufgrund des eskalierenden Konflikts mit China sei in jedem Fall „davon
auszugehen, dass die USA stärker als bisher versuchen werden, die
militärische Abhängigkeit ihrer Verbündeten umzumünzen in eine
Unterstützung der geo-ökonomischen Interessen der USA“. Deutschland und
die Europäer würden „es in Zukunft also eher schwerer haben, ihre
wirtschafts-, handels- und währungspolitischen Interessen gegenüber
ihrer ‚Schutzmacht‘ zu wahren, insbesondere, wenn es um China geht“.
Den USA sei „jedes Mittel recht, um den Aufstieg Chinas einzudämmen oder
gar zurückzudrängen. Für Europa kann das gravierende Folgen haben, da
unsere Wirtschaft stark mit China vernetzt ist.“ Im „neuen
Systemwettbewerb zwischen China und den USA“ drohe Europa „zum zentralen
Verlierer“ zu werden, „wenn es nicht schnell entscheidungs- und
handlungsfähig wird und seine Interessen verteidigt“.
Das Bündnis mit den USA ist laut Braml so lange attraktiv, wie diese
„sich auf die Erhaltung einer liberalen internationalen Ordnung“
konzentrieren, „den Freihandel garantieren“ und sich „um Sicherheit und
Stabilität kümmern“ – also so lange, wie die deutsche Wirtschaft im
Windschatten amerikanischer Armeen ungehinderten Zugang zu globalen
Rohstoffen, Absatzmärkten und Investitionsmöglichkeiten hat.
Dies sei nicht länger der Fall. „Die strategischen und wirtschaftlichen
Interessen ihrer europäischen Verbündeten stimmen inzwischen in einer
ganzen Reihe von Bereichen nicht mehr mit denen der amerikanischen
Führungsmacht überein.“ Braml warnt ausdrücklich davor, sich weiter der
„transatlantischen Illusion hinzugeben, dass die Vereinigten Staaten
wieder zu ihren alten Tugenden zurückfinden und auch Europas Interessen
wahrnehmen würden“.
„Das Gegenteil ist realistischer,“ meint er. „Dass die USA weder zu
früherer Stärke und Dominanz gelangen, wäre in einer mittlerweile
multipolaren Welt nur um den Preis zu haben, den andere, vor allem auch
Europa, zu zahlen hätten. Um den drohenden Kollaps abzuwenden und ihre
dominante Weltnachtrolle zu bewahren, werden die Verantwortlichen in den
USA alles daransetzen, ihre Interessen noch rücksichtloser
durchzusetzen und auf Freund und Feind abzuwälzen.“
Aufrüstung zur Atommacht
Braml geht nicht so weit, die Auflösung der Nato oder den Austritt aus
dem Militärbündnis zu fordern. Das hält er in der gegenwärtigen Lage für
„sicherheitspolitisches Harakiri“. Es gehe darum, „den Weg in Richtung
einer von den USA unabhängigen Verteidigungsfähigkeit Europas
einzuschlagen, mit dem langfristigen Ziel eines Bündnisses auf
Augenhöhe“. Deutschland müsse „auf ein starkes und handlungsfähiges
Europa setzen,“ wirtschaftlich und technologisch stärker werden und „den
Euro zu einem geo-ökonomischen Machtmittel“ entwickeln.
Doch das ganze Buch macht deutlich, dass Braml längerfristig nicht nur
einen Bruch, sondern auch einen offenen militärischen Konflikt mit den
USA für unvermeidlich hält. Deshalb drängt er darauf, Deutschland nicht
nur zur größten Militärmacht Europas, sondern auch zur Atommacht
aufzurüsten. Er befürwortet eine deutsche Beteiligung an der
französischen Atomstreitmacht, der „Force de frappe“.
Frankreichs nukleare Abschreckung sei „von Beginn an auch durch sein
Bestreben motiviert“ gewesen, „seinen Großmachtstatus aufrechtzuerhalten
und sich aus der militärstrategischen Abhängigkeit von den USA zu
lösen“, begründet er seine Forderung. Völkerrechtlich wäre es „für
Deutschland durchaus möglich, Frankreichs Atomwaffen mitzufinanzieren,
um am französischen Schutzschild teilzuhaben“. Präsident Macron habe
seine Bereitschaft dazu angedeutet.
Große Bedeutung misst Braml auch „einer möglichst engen Zusammenarbeit
der Rüstungsindustrien“ zu, insbesondere dem geplanten
deutsch-französischen Future Combat Air System (FCAS), mit dem „die
Europäer nicht nur ihre militärische, sondern auch ihre technologische
Abhängigkeit von den USA verringern und ihre eigene Souveränität
behaupten“ würden.
Gefahr eines dritten Weltkriegs
Bramls Buch bestätigt die Einschätzung des Internationalen Komitees der
Vierten Internationale (IKVI), dass der Krieg in der Ukraine – der
längst ein Krieg der Nato gegen die Atommacht Russland ist – ein Schritt
in Richtung dritter Weltkrieg ist.
Bereits vor dreißig Jahren, als die bürgerliche Propaganda die Auflösung
der DDR und das Ende der Sowjetunion als endgültigen Triumph des
Kapitalismus feierte, hatte das IKVI gewarnt, dass dieselben
Widersprüche – „zwischen gesellschaftlicher Produktion und
Privateigentum, zwischen dem internationalen Charakter der Produktion
und dem Nationalstaatensystem“ –, die im Laufe des zwanzigsten
Jahrhunderts zu zahlreichen „wirtschaftlichen Zusammenbrüchen und
gewaltsamen politischen Eruptionen“ geführt hatten, sich abermals zu
einer Explosion zuspitzen.
Im Aufruf „Gegen imperialistischen Krieg und Kolonialismus!“, den es am
1. Mai 1991 wenige Wochen nach dem Ersten Irakkrieg veröffentlichte,
schrieb das IKVI: „Trotz der vielen Veränderungen, die seit 1945 in der
Form und Struktur des Weltkapitalismus stattgefunden haben, treiben ihn
dieselben Konflikte – über Märkte, Rohstoffquellen und den Zugang zu
billigen Arbeitskräften –, die bereits zum Ersten und Zweiten Weltkrieg
geführt haben, unerbittlich in den Dritten.“
Seither haben die USA, unterstützt von ihren Nato-Verbündeten, dreißig
Jahre lang fast ununterbrochen Krieg geführt und nicht nur den Irak ein
zweites Mal, sondern auch Afghanistan, Libyen, Syrien und zahlreiche
andere Länder zerstört.
Deutschland spielte dabei eine wachsende Rolle. 1999 beteiligten sich in
Jugoslawien erstmals wieder deutsche Soldaten an einem internationalen
Kriegseinsatz, danach kämpfte die Bundeswehr in Afghanistan, Mali und
zahlreichen anderen Ländern. 2014 verkündete die Bundesregierung ganz
offen die Rückkehr des deutschen Militarismus und seitdem steigt der
deutsche Rüstungshaushalt Jahr für Jahr. Das
100-Milliarden-Sondervermögen bedeutet einen Quantensprung. Und es wird
nicht der letzte sein.
Der deutsche Imperialismus ist wieder mit denselben Widersprüchen
konfrontiert, die ihn schon im Ersten und vor allem im Zweiten Weltkrieg
zur aggressivsten Kriegspartei machten. Eingeklemmt im engmaschigen
Europa und ausgestattet mit einer dynamischen Exportindustrie, muss er
Europa dominieren und Zugang zu großen Teilen der Welt haben, um seinen
Hunger nach Rohstoffen, Absatzmärkten und Investitionsmöglichkeiten zu
stillen.
In beiden Weltkriegen hatte dies Deutschland in Konflikt mit den USA
gebracht. Im Ersten Weltkrieg opferte der Kaiser zwei Millionen junge
Männer in den Schützengräben, um diese Ziele zu erreichen. Im Zweiten
Weltkrieg ließ Hitler rund 30 Millionen Juden, Polen, Sowjetbürger und
Kriegsgefangene brutal ermorden. Auch große Teile Deutschland lagen bei
Kriegsende in Trümmern. Ein dritter Weltkrieg würde von Europa und
großen Teilen der Welt nichts übriglassen.
Eine solche Katastrophe darf nicht stattfinden. Die einzige
gesellschaftliche Kraft, die sie verhindern kann, ist die internationale
Arbeiterklasse, die die Kosten von Rüstung, Militarismus und Krieg zu
tragen hat. Es muss eine mächtige Antikriegsbewegung aufgebaut werden,
die den Kampf gegen Krieg mit dem Kampf gegen seine Ursache, den
Kapitalismus, verbindet. Das erfordert den Aufbau des Internationalen
Komitees der Vierten Internationale in jedem Land der Welt.
https://www.wsws.org/de/articles/2022/06/06/bram-j06.html
Mittwoch, 8. Juni 2022
"...Weshalb Deutschland aufrüstet" - Josef Bramls - LZ
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