Wieso es nach dem Ende des Krieges um die Ukraine keine stabile Nachkriegsordnung geben wird.
31.05.2022: Is this the big one? Ist dies der große Krach, der alles
umwerfen wird, was sich an globalen Strukturen und Dynamiken seit dem
Durchbruch des Neoliberalismus in den 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts
etabliert hat? Der Krieg um die Ukraine könnte tatsächlich rückblickend
als ein Epochenbruch, als ein Kipppunkt des globalen Krisenprozesses
betrachtet werden, bei dessen Überschreiten das kriselnde
spätkapitalistische Weltsystem in eine neue Krisenqualität überging.
Dass sich das kapitalistische Weltsystem in einer schweren Systemkrise
befindet,[1] ist nach Dekaden der Ignoranz und Marginalisierung[2]
wertkritischer Krisentheorie selbst in der deutschen Linken inzwischen
allgemein akzeptiert, doch scheint der Charakter des Krisenprozesses
immer noch unterbelichtet zu sein. Denn die spätkapitalistische
Systemkrise ist kein punktuelles Ereignis, kein bloßer "großer Krach",
sondern ein historischer Prozess, der sich über Jahrzehnte in Schüben
entfaltet und dabei von der Peripherie in die Zentren des Weltsystems
frisst. Die Schuldenkrisen der Dritten Welt, die in den 80ern, am Anfang
des nun kollabierenden neoliberalen Zeitalters, standen und dort
reihenweise Bürgerkriege und "gescheiterte Staaten" hinterließen, haben
längst die Zentren des Weltsystems erfasst. Evident wird es etwa an den
zunehmenden Stagflationstendenzen, die an die Stagflationsperiode in den
70er-Jahren des 20. Jahrhunderts erinnern – und die damals dem
Neoliberalismus erst zum Durchbruch verhalf.[3]
Die Systemkrise ist also kein "großer Kladderadatsch",[4] sondern ein in
Schüben ablaufender, historischer Prozess zunehmender innerer und
äußerer Widerspruchsentfaltung des Kapitals, das sich aufgrund
konkurrenzvermittelter Rationalisierung seiner eigenen Substanz, der
wertbildenden Arbeit in der Warenproduktion, entledigt und sowohl eine
ökonomisch überflüssige Menschheit[5] als auch eine ökologisch
verwüstete Welt hinterlässt.[6] Hierbei ist dieser historische
Krisenprozess, der eben den Neoliberalismus als ein System der
Krisenverzögerung hervorbrachte, durch Phasen der Latenz gekennzeichnet,
die durch manifeste Krisenschübe in den Zentren unterbrochen werden:
wie die Dot-Com-Blase 2000, die Immobilienblase 2008, den
pandemiebedingten Krisenschub von 2020, und die nun mit dem Krieg
einsetzenden Umbrüche.
Die Dialektik der Krise
Den an Intensität gewinnenden Krisenschüben, in denen die Krise manifest
wird, geht somit eine lange latente Phase voraus, in der das aus dem
Selbstwiderspruch des Kapitals resultierende Krisenpotenzial sich
akkumuliert, zumeist in Gestalt ansteigender Schuldenberge oder
Finanzmarktblasen,[7] die dem hyperproduktiven System durch
kreditfinanzierte Nachfrage noch eine Art zombiehaftes Scheinleben[8]
ermöglichen – und eben dieser Schuldenturmbau stößt aufgrund der
gegenwärtigen Inflationsdynamik an seine inneren Grenzen.[9] Der
quantitative Prozess, die Akkumulation von Schulden und das Aufsteigen
von Spekulationsblasen, führt nach dem Überschreiten eines Kipppunkts zu
einem qualitativen Umbruch, zum Ausbruch einer Schuldenkrise oder dem
Platzen einer Schuldenblase, die dann auch öffentlich als "Krise"
wahrgenommen werden.
Dieselbe materialistische Dialektik des Umschlags quantitativer
Veränderungen in eine neue Qualität kann auch bei der kapitalistischen
Klimakrise[10] konstatiert werden.[11] Hier ist es die quantitative
Zunahme von Treibhausgasen in der Atmosphäre, die ab dem Überschreiten
bestimmter Kipppunkte zu einer fundamentalen, qualitativen Veränderung
des Klimasystems führt. (Die Gewöhnungseffekte zwischen den ökonomischen
oder ökologischen Krisenschüben beförderten übrigens auch die
Krisenignoranz, da die Folgen eines Krisenschubs in den Zentren oder der
Peripherie sehr schnell in der geschichtslosen Öffentlichkeit zu einer
neuen "Normalität" sedimentierten).
Die finanzmarktgetriebene neoliberale Variante des Kapitalismus, die
sich in Reaktion auf die Stagflation und das Auslaufen des großen
Nachkriegsbooms in den 70ern durchsetzte, hat den Kapitalismus sowohl in
ökonomischer wie in ökologischer Hinsicht gewissermaßen "auf Pump"
betrieben. Seit den 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts steigt die globale
Schuldenlast schneller als die Weltwirtschaftsleistung, was zu immer
stärkeren Finanzmarktbeben in Form von Spekulationsblasen und
Schuldenkrisen führte. Und auch ökologisch ging die neoliberale
kapitalistische Globalisierung mit beständig steigenden CO2-Emissionen
einher, die bislang nur um den Preis von ökonomischen Krisenschüben
kurzfristig reduziert werden konnten. Und es sind eben die zunehmenden
klimatischen und wirtschaftlichen Verwerfungen, die das System in seiner
neoliberalen Ausformung immer instabiler machen.
Der neoliberale Schuldenturmbau, der die Grundlage dieser Ära bildet,
kann nicht ad infinitum fortgesetzt werden. Dasselbe gilt für die
fossile globale Weltverbrennungsmaschine,[12] die durch die neoliberale
Globalisierung – die faktisch eine Globalisierung der
Verschuldungsdynamik mittels Defizitkreisläufen ist – hervorgebracht
wurde. Die quantitative Zunahme des Krisenpotenzials, die einen globalen
Schuldenberg von 356 Prozent der Weltwirtschaftsleistung[13] und eine
CO2-Konzentration von 419.82 ppm[14] hervorbrachte, führt den
Kapitalismus an seine innere und äußere Schranke, zumindest an die
Entwicklungsgrenze der neoliberalen Ära des Kapitals. Ein qualitativer
Umschlag in eine andere Form kapitalistischer Krisenverarbeitung scheint
unausweichlich (eine Überwindung der ökonomischen und ökologischen
Krise des Kapitals ist im Rahmen der kapitalistischen
Gesellschaftsformation unmöglich).
Dieser dialektische Umschlag von Quantität zu Qualität vollzieht sich
insbesondere hinsichtlich des Prozesses der Globalisierung, die in ihr
Gegenteil umzuschlagen scheint. Gerade hier treten die Umrisse einer
neuen Krisenphase deutlich hervor, die durch eine "Fragmentierung der
Weltwirtschaft in geopolitische Blöcke" geprägt wäre, in denen auch
"unterschiedliche Handels- und Technologiestandards, Zahlungssysteme und
Währungsreserven" verwendet würden, wie der Internationale
Währungsfonds (IWF) im April 2022 in einem Beitrag warnte.[15] Schon
Mitte März bezeichnete der IWF den Krieg als einen "schweren Schlag für
die Weltwirtschaft", der nicht nur die "weltweite wirtschaftliche und
geopolitische Ordnung grundlegend verändern" werde, sondern auch mit dem
Risiko verstärkter Instabilität in peripheren Regionen wie Afrika oder
Lateinamerika einherginge, die von zunehmender Ernährungsunsicherheit
betroffen sein würden.[16]
De-Globalisierung
Die mit dem Krieg einhergehenden Sanktionen unterbrechen wichtige
globale Handelsströme und führen zu rasanten Preissteigerungen nicht nur
bei Energie, sonder auch bei Nahrungsmitteln, da Russland, Belarus und
Ukraine zu den wichtigsten globalen Exporteuren von Getreide und
Düngemitteln gehören.[17] Bei essenziellen Gütern, bei Nahrungsmitteln
und fossilen Energieträgern, ist die kapitalistische Globalisierung
faktisch schon zusammengebrochen. Die westlichen Sanktionen auf
russische und belarussische Düngemittel dürften die landwirtschaftliche
Produktion in vielen Ländern verringern.[18]
Aber es ist nicht nur die imperialistische Frontstellung zwischen Ost
und West im Ukrainekrieg, die zur Preisexplosion beiträgt – längst
greifen auch unbeteiligte Länder zu protektionistischen Maßnahmen, um
Ernährungssicherheit und innenpolitische Stabilität zu gewährleisten.
Aufgrund der massiv steigenden Preise und drohender Versorgungslücken
erließ etwa Indonesien ein Exportverbot für Palmöl, was die
Versorgungslage insbesondere im globalen Süden zusätzlich verschärfte,
da der Krieg schon den Export von ukrainischem Sonnenblumenöl
kollabieren ließ.[19] Ähnlich agierte Indien bei dem jüngst erlassenen
Exportverbot für Weizen.[20]
Die Inflation und die Versorgungsengpässe, die schon vor dem Krieg
aufgrund der Pandemiebekämpfung auftraten, gewinnen nun im Rahmen der
schlagartig sich durchsetzenden De-Globalisierung an Wucht. Doch auch
dieser große Knall, mit dem die globalen Waren- und Finanzströme
erschüttert werden, kommt nicht aus heiterem Himmel. Die Bestrebungen
zur Revision der Globalisierung waren schon jahrelang virulent, vor
allem in Gestalt des US-Präsidenten Donald Trump, der wie kein anderer
die Widersprüche kapitalistischer Warenproduktion personifiziert. Trump
wurde von Teilen der pauperisierten US-Mittelklasse gewählt und war
angetreten, das deindustrialisierte und von einem gigantischen
Handelsdefizit geplagte Amerika wieder "groß" zu machen – indem er
Handelsschranken errichtete. Das Ziel des trumpschen Protektionismus:
Eine Reindustrialisierung der Vereinigen Staaten.
Die während der neoliberalen Finanzialisierung ausgebildete
Verschuldungsdynamik, die nach dem Auslaufen des großen fordistischen
Nachkriegsbooms einsetzte und das Weltsystem zunehmend auf Pump laufen
ließ,[21] entwickelte sich ja nicht gleichmäßig. Regionen mit starker
Defizitbildung, wie etwa die USA oder Südeuropa, standen Ländern mit
hohen Exportüberschüssen gegenüber. Dies führte zur Ausbildung von
Defizitkreisläufen, die während der Globalisierung immer weiter an
Gewicht gewannen und den Verlauf der Krisenschübe in den ersten beiden
Dekaden des 21. Jahrhunderts prägten (Immobilienblase, Eurokrise). Die
Globalisierung bildet somit offensichtlich nicht die Ursache des
kapitalistischen Krisenprozesses mit seinen Verwerfungen, wie
Finanzmarktblasen und Schuldenkrisen, sondern ist seine historische
Verlaufsform.
Der größte, pazifische Defizitkreislauf zwischen den Vereinigten Staaten
und China war dadurch gekennzeichnet, dass die zur neuen "Werkstatt der
Welt" aufsteigende Volksrepublik gigantische Warenmengen über den
Pazifik in die sich deindustrialisierenden USA exportierte und somit
enorme Handelsüberschüsse ausbildete, während in die Gegenrichtung ein
Finanzmarktstrom von Schuldverschreibungen der Vereinigten Staaten
floss, sodass China zum größten Auslandsgläubiger Washingtons
aufstieg.[22] Ein ähnlicher, kleinerer Defizitkreislauf bildete sich in
der Periode von der Euroeinführung bis zur Eurokrise zwischen der BRD
und der südlichen Peripherie der Eurozone aus.[23]
Die Globalisierung war somit nicht nur durch den Aufbau globaler
Lieferketten geprägt, sie bestand auch aus einer korrespondierenden,
durch Defizitkreisläufe realisierten Globalisierung der
Verschuldungsdynamik, die, wie erwähnt, in den vergangenen Dekaden
schneller anstieg als die Weltwirtschaftsleistung – und folglich als ein
wichtiger Konjunkturmotor durch Generierung kreditfinanzierter
Nachfrage fungierte. Die Globalisierung, die diese gigantischen globalen
Ungleichgewichte hervorbrachte, war eine Systemreaktion, eine Flucht
nach vorn vor den zunehmenden inneren Widersprüchen der kapitalistischen
Produktionsweise, die an ihrer eigenen Produktivitätsentfaltung
erstickt.
Was sich nun global entfaltet, konnte anhand der Eurokrise in Ansätzen
studiert werden: Solange die Schuldenberge wachsen und die
Finanzmarktblasen im Aufstieg begriffen sind, scheinen alle beteiligten
Staaten von diesem Wachstum auf Pump zu profitieren. Doch sobald die
Blasen platzen, setzt der Kampf darum ein, wer die Krisenkosten zu
tragen hat. In Europa hat bekanntlich Berlin die Krise genutzt, um die
Krisenkosten in Gestalt der berüchtigten Schäubleschen Spardiktate auf
Südeuropa abzuwälzen. Nun steht auf globaler Ebene der Zusammenbruch der
viel größeren schuldenfinanzierten Defizitkonjunktur an, die zuletzt
vor allem durch die expansive Geldpolitik der Notenbanken am Leben
erhalten wurde.
Der in der Finanzsphäre akkumulierte Wert, das "fiktive", nicht durch
Verwertung von Arbeitskraft generierte Kapital, wird aufgrund eines
fehlenden neuen Akkumulationsregimes in der Warenproduktion entwertet
werden.[24] Die zunehmende Inflation, angesichts derer die bürgerliche
Geldpolitik sich in einer Krisenfalle wiederfindet,[25] die nur den Weg
in Inflation und/oder Rezession erlaubt, ist gerade Ausdruck der
unweigerlich anstehenden Entwertung des Werts. Für viele Staaten, die
zuvor an die Globalisierung vermittels Defizitkreisläufen und in
Standortkonkurrenz gekettet waren, übersteigen die zunehmenden
Krisenkosten die erodierenden Vorteile der Defizitkonjunkturen, sodass
nationale und regionale Zentrifugaltendenzen überhandnehmen und den
Kollaps der Globalisierung forcieren. Das ist ein krisenbedingter
Widerspruch. Der Kapitalismus ist voll davon.
China als neuer Hegemon?
Es ist eben diese Erschöpfung des neoliberalen Schuldenturmbaus der
vergangenen Dekaden, die die spätkapitalistischen Staatsmonster immer
öfter in äußerer Expansion Zuflucht suchen lässt vor den eskalierenden
inneren Widersprüchen. Die von einer hohen zweistelligen Inflation
geplagte Türkei, die von Erdogan in immer neue imperialistische
Eroberungsfeldzüge getrieben wird, bildet sozusagen nur die Blaupause
für den manifesten Krisenimperialismus, der vielerorts um sich greift.
Auch im Fall Russlands, das in den Monaten vor der Invasion der Ukraine
etliche Aufstände und Unruhen in seinem postsowjetischen "Hinterhof"
niederschlagen musste, ist diese krisenbedingte, neo-imperiale Flucht in
den Krieg evident.[26]
Dieser kausale Zusammenhang zwischen Krise und Krieg manifestiert sich
aber auch im expansiven Vorgehen des Westens im postsowjetischen Raum,
der mit seiner Weigerung, Neutralitätsgarantien für die Ukraine
zuzustimmen, den russischen Angriffskrieg im geopolitischen "Hinterhof"
des Kremls eindeutig provozierte.
Für die USA ist der Kampf gegen Eurasien, wie es sich in der Allianz von
China und Russland andeutet, ein Kampf um die Hegemonie und den
US-Dollar in seiner Funktion als Weltleitwährung.[27] Die Vereinigten
Staaten fungierten aufgrund ihres extremen Handelsdefizits gewissermaßen
als ein Schwarzes Loch der Weltwirtschaft, das einen großen Teil der
Überschussproduktion der hyperproduktiven spätkapitalistischen Industrie
aufnahm. Mit der sich rasch beschleunigenden Inflation, die ja nicht
nur durch die expansive Geldpolitik der Notenbanken, sondern auch durch
Ressourcenengpässe und die voll einsetzende Klimakrise befeuert
wird,[28] steht nun dieses Vermögen Washingtons auf der Kippe, sich in
der Weltleitwährung, im Wertmaß aller Warendinge, frei verschulden zu
können.
Zugleich fällt für China, das gemeinsam mit Russland einen eurasischen
Machtblock zu formen bestrebt ist, mit dem sich abzeichnenden Ende der
US-Defizitkonjunktur ein wichtiger Anreiz weg, die US-Hegemonie zu
tolerieren: Die extremen chinesischen Exportüberschüsse, die in den
90ern und zu Beginn des 21. Jahrhunderts maßgeblich zur nachholenden
kapitalistischen Industrialisierung der Volksrepublik beitrugen, spielen
schon seit dem Ausbruch der Immobilienkrise 2008 keine zentrale Rolle
als Konjunkturtreiber – und sie dürften auch gegenüber den USA künftig
rasch an Gewicht verlieren.
Und dennoch handelt es sich um einen Trugschluss, den derzeitigen
globalen Umbruch als einen Übergang zu einem neuen Hegemonialsystem zu
interpretieren, bei dem China gewissermaßen die USA "beerben" würde. Das
Reich der Mitte scheint zwar dabei zu sein, die Vereinigten Staaten als
die globale kapitalistische Hegemonialmacht abzulösen – doch zugleich
ist dieser Umbruch im Rahmen der kapitalistischen Produktionsweise
aufgrund der eskalierenden sozioökologischen Krise nicht mehr möglich.
Die im 16. Jahrhundert beginnende Geschichte der globalen Expansion des
kapitalistischen Weltsystems vollzieht sich in Hegemonialzyklen, wie sie
etwa von Giovanni Arrighi in seinem faszinierenden Werk "Adam Smith in
Beijing" beschrieben worden sind:[29] Eine aufstrebende Macht erringt
eine dominierende Stellung innerhalb des Systems, nach einer gewissen
Dominanzperiode geht diese Hegemonialmacht in den imperialen Abstieg
über und wird schließlich von einem neuen Hegemon abgelöst.
Ein jeder Hegemonialzyklus hat nach Arrighi zwei Phasen: Zuerst findet
eine Phase des imperialen Aufstiegs statt, die durch eine "materielle
Expansion", also durch die Dominanz der warenproduzierenden Industrie
der neuen Hegemonialmacht, geprägt ist. Nach dem Ausbruch einer – durch
Überakkumulationsprozesse ausgelösten – ökonomischen "Signalkrise" setzt
die Phase des imperialen Abstiegs ein, die mit einer finanziellen
Expansion und der Dominanz der Finanzindustrie einhergeht und dem
absteigenden Hegemon nochmals eine letzte ökonomische und imperiale
Blütezeit beschert.
Und diese Abfolge kann sowohl im Fall Großbritanniens wie der USA
eindeutig empirisch bestätigt werden. Das englische Empire, das im
Rahmen der Industrialisierung im 18. Jahrhundert zur "Werkstatt der
Welt" aufstieg, wandelte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
zum Weltfinanzzentrum, bevor es in der ersten Hälfte des 20.
Jahrhunderts von den ökonomisch aufsteigenden USA abgelöst wurde, die
wiederum ihre "Signalkrise" während der Krisenphase der Stagflation in
den 70ern erfuhren. Hiernach setzte die Deindustrialisierung und
Finanzialisierung der USA ein, die zu einer ökonomischen Dominanz des
Finanzsektors führte.
Zudem argumentiert Arrighi, dass der Wechsel zwischen zwei
Hegemonialzyklen mit einer Verschuldung der absteigenden Hegemonialmacht
bei dem aufsteigenden Hegemon einhergehe, wie es im Buch am Beispiel
der zunehmenden ökonomischen Abhängigkeit Großbritanniens von den USA
während des Ersten Weltkriegs dargelegt wurde. Großbritannien bildete
während der Weltkriegsperiode ein riesiges Handelsdefizit gegenüber den
USA aus, "die Munition und Nahrungsmittel im Wert von Milliarden von
Dollar an die Alliierten lieferten, aber wenige Güter dafür erhielten."
Ähnlich agierte übrigens auch Großbritannien in seiner Rolle als
"Bankier" der antinapoleonischen Koalition rund hundert Jahre zuvor. Und
genau dieses Abhängigkeitsverhältnis zwischen den absteigenden USA und
dem aufsteigenden China wurde anhand des pazifischen Defizitkreislaufs
beschrieben, bei dem chinesische Exportüberschüsse zur exportgetriebenen
Industrialisierung Chinas und der Defizitbildung in den Vereinigten
Staaten beitrugen.
So, what is wrong here? Was stimmt diesmal nicht, sodass ein neuer,
chinesischer Hegemonialzyklus unmöglich ist? Wieso kann das 20.
"amerikanische" Jahrhundert nicht vom "chinesischen" 21. Jahrhundert
abgelöst werden? Zum einen hat China offensichtlich seine "Signalkrise",
die den Übergang zu einem finanzmarktgetriebenen Wachstumsmodell
markiert, schon 2008 hinter sich gebracht. Mit dem Platzen der
Immobilienblasen in den USA und Europa gingen die extremen chinesischen
Exportüberschüsse zurück (mit Ausnahme der USA), während die
gigantischen Konjunkturpakete, die Peking damals zur Stützung der
Wirtschaft auflegte, zu einer Transformation der chinesischen
Konjunkturdynamik führten: der Export verlor an Gewicht, die
kreditfinanzierte Bauwirtschaft, der Immobiliensektor bildeten fortan
die zentralen Triebfedern des Wirtschaftswachstums.
Chinas Wachstum läuft somit ebenfalls auf Pump, die "Volksrepublik" ist
ähnlich hoch verschuldet wie die absteigenden westlichen Zentren des
Weltsystems (Mehr noch: auch der Aufstieg Chinas zur "Werkstatt der
Welt" beruhte ja aufgrund der chinesischen Exportüberschüsse im Rahmen
der besagten Defizitkreisläufe auf Verschuldungsprozessen in Westeuropa
und den USA).[30] Und diese chinesische Defizitkonjunktur bringt noch
weitaus größere Spekulationsexzesse hervor wie in den USA oder
Westeuropa, was die Verwerfungen auf dem absurd aufgeblähten
chinesischen Immobilienmarkt 2021 evident machten.[31]
Dieser Mangel eines neuen Akkumulationsregimes in der Warenproduktion,
in dem sich die innere Schranke des Kapitals manifestiert, bildet den
großen Unterschied zwischen China und den USA: Washington konnte nach
dem 2. Weltkrieg, am Beginn seiner Hegemonie, auf zwei Dekaden der
kommenden Kapitalexpansion im Rahmen des Fordismus aufbauen. China
hingegen wirkt aufgrund seiner einstürzenden Schuldentürme in einem
überschuldeten spätkapitalistischen Weltsystem, als ob es schon vor dem
Erringen der Hegemonie im Abstieg befindlich wäre.
Ein weiteres Moment, dass eine chinesische Hegemonie im
spätkapitalistischen Weltsystem in ökologischer Hinsicht unmöglich
macht, beschrieb Arrighi in seinem besagten Werk als die historische
Tendenz zur Progression innerhalb der Hegemonialzyklen: Das Territorium,
die Bevölkerungszahl, wie auch das ökonomische Gewicht der
Hegemonialmächte nehmen in der Geschichte des kapitalistischen
Weltsystems zu. Von den wenigen Millionen Untertanen des britischen
Empire, über Hunderte Millionen US-Bürger des kontinentartigen Hegemons
USA, bis hin zu der letzten möglichen Steigerungsstufe des
Milliardenstaates China. Hiermit werden aber auch die ökologischen
Grenzen des kapitalistischen Weltsystems gesprengt,[32] da China bereits
der größte Emittent von Treibhausgasen ist und die Klimakrise schon
jetzt katastrophale Folgen nach sich zieht, die gerade auch die
Volksrepublik verheeren.[33]
Ozeanien vs. Eurasien?
Der Zusammenbruch der globalen Defizitkonjunktur und die eskalierende
Klimakrise stehen einer neuen, von Peking geformten "Weltordnung", einem
chinesischen Hegemonialzyklus im Weg. Hegemonie bedeutet ja, dass die
Stellung des Hegemons zumindest toleriert wird, da sie mit Vorteilen für
die anderen Staaten in diesem Hegemonialsystem einhergeht. Im Fall der
USA war es der lange fordistische Nachkriegsboom, sowie – ab den 80ern –
die auf der Weltleitwährung Dollar beruhende Defizitkonjunktur, die
Washington die Hegemonie ermöglichte. Chinas Aufstieg hingegen kann
nicht mehr auf solch einem ökonomischen Fundament fußen.
Der historische Hegemonialzyklus des kapitalistischen Weltsystems wird
somit überlagert von dem sozioökologischen Krisenprozess des Kapitals,
er tritt mit ihm in Wechselwirkung und lässt Chinas hegemonialen
Aufstieg und Zerfall ineinander übergehen. An die Stelle des
US-Hegemonialsystems, das mit der Invasion des Irak ab 2003 in offene
Auflösung überging, scheint nun eine globale Blockbildung zu treten, bei
der sich in einer Realdystopie Eurasien (Russland und China) und
Ozeanien (USA samt ihren atlantischen und pazifischen Bündnissystemen)
in einem immerwährenden Konflikt befinden. Doch selbst diese
Frontstellung, die an den – in der Ukraine in einen offenen Konflikt
eskalierten – Kalten Krieg erinnert, dürfte instabil und unbeständig
bleiben. Es ließe sich gar argumentieren, dass Washington und London als
treibende Kräfte im Ukraine-Konflikt dabei auch das Ziel verfolgen, das
erodierende westliche Bündnissystem durch eine gemeinsame Frontstellung
gegen Moskau in den Schützengräben der östlichen Ukraine
zusammenzuschweißen.
Der Zusammenbruch der Globalisierung ist gleichbedeutend mit dem
Zusammenbruch der obig dargelegten globalen Defizitkonjunktur, die das
Weltsystem in der neoliberalen Epoche stabilisierte. Das ist der
entscheidende Faktor, der den weiteren Krisenverlauf prägen wird. Der
zuletzt mittels Gelddruckerei der Notenbanken aufrecht erhaltene
Schuldenturmbau, der den manifesten Krisenausbruch in der neoliberalen
Periode hinauszögerte, kollabiert gerade, ohne dass ein neues
Akkumulationsregime absehbar wäre, was die Intensivierung der blinden
Krisenkonkurrenz auf allen Ebenen kapitalistischer Vergesellschaftung
zur Folge hat. Eine "Nachkriegsordnung" scheint aufgrund der zunehmenden
Kriseneinschläge und der damit zunehmenden Krisenkonkurrenz kaum noch
möglich.
Dies gilt auch für den Krisenimperialismus, der zwar Erinnerungen an das
19. Jahrhundert wachruft, aber von einer umgekehrten Entwicklungslogik
angetrieben wird. Fand das erste imperialistische "Great Game" in einer
Phase der globalen Expansion des Kapitals statt, in der immer neue
periphere Regionen in das kapitalistische Weltsystem mittels Feuer und
Schwert integriert worden sind, so findet dessen Reenactment im 21.
Jahrhundert vor dem Hintergrund der Kontraktion des Verwertungsprozesses
statt, die immer mehr ökonomisch und ökologisch "verbrannte Erde" samt
den korrespondieren "gescheiterten Staaten" hinterlässt.
In an nutshell: Da das Kapital sein auf Pump finanziertes Zombieleben
nicht mehr fortsetzen kann, fallen die spätkapitalistischen
Staatsmonster übereinander her, was auch alle derzeitigen Allianzen
unbeständig werden lässt, da der krisenbedingte Konkurrenzdruck auch
zwischen der EU und den USA, zwischen Peking und Moskau zunimmt. Dem
Ganzen wohnt eine gewisse Zwangsläufigkeit inne, da das Streben nach
Weltgeltung in der Weltkrise des Kapitals faktisch einem Kampf gegen den
sozialen und ökonomischen Abstieg gleichkommt, einem Kampf auf der
Titanic des in offenen Zerfall übergehenden spätkapitalistischen
Weltsystems. Abschottung vor ökonomisch Überflüssigen, die Sicherung von
Ressourcen bilden zentrale Momente dieses Krisenimperialismus, während
die hierbei unterlegenen Mächte und Weltregionen in den Staatszerfall
taumeln.
Dies wird gerade am Beispiel des Krieges um die Ukraine deutlich, wo ja
beide Seiten faktisch bemüht sind, Tendenzen des staatlichen Zerfalls
für ihre Interessen zu instrumentalisieren. Moskau arbeitet daran, in
den okkupierten russischsprachigen Regionen der Ukraine – nach dem
Beispiel von Donezk und Lugansk – entsprechende "Volksrepubliken" zu
gründen, um diese in die Russische Föderation eingliedern zu können. Die
extreme Rechte der Ukraine, die derzeit die fanatische Speerspitze des
ukrainischen Militärs bildet, sieht hingegen den Krieg als eine Chance,
den staatlichen Zerfall Russlands zu beschleunigen, um in dessen
Windschatten imperiale Ambitionen realisieren zu können.[34]
Es ist eine Taliban-Logik, die sich hier entfaltet, bei der – ähnlich
der westlichen Militärhilfe für Afghanistans Gotteskrieger in den 80ern –
eine extremistische Bewegung hochgerüstet wird, die im weiteren
Krisenverlauf die Region destabilisieren und die ohnehin gegebenen
anomischen Tendenzen im morschen ukrainischen Staatsapparat (der genauso
korrupt ist wie derjenige Russlands) zur vollen Entfaltung bringen
wird. Auch die derzeit rasch an Einfluss gewinnenden[35] Nazis der
Ukraine folgen – ähnlich dem geschilderten Krisenimperialismus – nur
oberflächlich ihrem historischen Vorbild. Angetreten, das übliche
nationale Großreich in Staatsform zu erkämpfen, sind sie faktisch
Subjekt der sich objektiv im Krisenverlauf entfaltenden anomischen
Barbarei, also des rasch voranschreitenden Staatszerfalls.
Ein weiteres Moment der neuen Krisenphase, in der die äußeren und
inneren Schranken des Kapitals in Wechselwirkung treten, wird ebenfalls
während des Ukraine-Krieges deutlich erkennbar: Der rasch um sich
greifende Mangel an Ressourcen und Nahrungsmitteln, der jetzt noch als
eine Kriegsfolge verkauft werden kann, wird sich zu einem dauerhaften
Phänomen wandeln.[36] Das spätkapitalistische globale Agrarsystem, das
die natürlichen Ressourcen und Lebensgrundlagen der Menschheit zum
Träger von Wert zurichtete und deren Verbrennung zwecks uferloser
Wertverwertung betreibt,[37] ist angesichts der eskalierenden Klimakrise
und der kollabierenden Globalisierung außerstande, die
Lebensmittelversorgung weiter Teile der Menschheit in der Peripherie des
Weltsystems aufrecht zu erhalten – auch wenn dies in einem
ressourcenschonenden postkapitalistischen System weiterhin trotz
eskalierender Klimakrise immer noch möglich wäre.
Mit dem sich immer deutlicher abzeichnenden Zusammenbruch der globalen
Defizitkonjunktur samt den geschilderten Defizitkreisläufen, mit der nun
auch in den Zentren, dem Euro- wie Dollarraum, anstehenden Entwertung
des Werts, die aller Wahrscheinlichkeit nach mit der Stagflation sich
ankündigt, dürften globale Versorgungsketten für Rohstoffe, Ressourcen
und Grundnahrungsmittel ebenfalls zusammenbrechen oder zumindest stark
beschädigt werden. Die für die neue Krisenqualität charakteristische
Mangelkrise, die in der Peripherie bereits um sich greift,[38] ist somit
Produkt der dargelegten eskalierenden Widersprüche, die dem
Wachstumszwang des Kapitals innewohnen – und auch hier bildete der
"Versorgungsengpass", unter dem etwa die deutsche Industrie stöhnt, im
Pandemieverlauf nur den Vorschein dieser neuen Krisenqualität eines in
offenen Zerfall übergehenden Weltsystems.
Der Charakter des neo-imperialistischen "Great Game" um die Ukraine hat
sich seit 2014 – als der Westen intervenierte,[39] um die Bildung der
von Putin propagierten "Eurasischen Union" zu verhindern – folglich
gewandelt. Mit dem Kampf um die südlichen und südöstlichen Regionen der
Ukraine, die der Kreml in sein morsches Imperium eingliedern will,
findet nun auch ein archaisch anmutender Ressourcenkrieg statt. Diese
Landstriche weisen die höchsten landwirtschaftlichen Erträge auf.[40]
Moskau, das an der Modernisierung der russischen Wirtschaft scheiterte,
weitet somit seine Strategie eines "Energieimperiums", bei der die
weitgehende Kontrolle der "Wertschöpfungskette" von Energieträgern
angestrebt wird, um weitere, "knappe" Ressourcen aus: um
Grundnahrungsmittel. Russland will nicht nur eine atomar bewaffnete
Gastankstelle, es will auch ein Getreidespeicher sein – gerade in
Antizipation der Klimakrise.
Die russische Invasion der Ukraine verschafft somit einen Ausblick auf
die kommende Krisenperiode, in der ein in Auflösung übergehendes
kapitalistischen Weltsystem aufgrund der zunehmenden ökonomischen und
ökologischen Einschläge keine feste Hegemonie oder Blockbildung mehr
erlaubt, während offen kriegerische Auseinandersetzungen auch zwischen
den sich zunehmend gegen die Peripherie abschottenden Großmächten um
essenzielle Ressourcen zunehmen dürften. Gewissermaßen wird alles zum Öl
werden – zumal der Krisenprozess sich ja nicht an die Verdinglichung im
bürgerlichen Krisendiskurs hält und die einzelnen Momente dieser
Dynamik, die in der öffentlichen Wahrnehmung schön säuberlich
voneinander getrennt als "Wirtschaftskrise", "Klimakrise", "politische
Instabilität" oder "Versorgungsengpässe" diskutiert werden, verstärkt
miteinander in Wechselwirkung treten werden.
Ihren Fluchtpunkt hat diese neue Krisenqualität auf geopolitischer,
"neo-imperialer" Ebene letztendlich im nuklearen Schlagabtausch, der mit
zunehmender ökologischer wie ökonomischer Krisenintensität, mit immer
neuen, heftigeren "Kriseneinschlägen", immer wahrscheinlicher wird.
Autoritäre Staatsformierung und Staatszerfall
Da die De-Globalisierung mit dem Zusammenbruch der globalen
Defizitkonjunktur einhergeht, was den neoliberalen Schuldenberg der
Entwertung zuführen wird, scheinen schwerste wirtschaftliche und soziale
Verwerfungen, wie sie im neoliberalen Zeitalter weite Teile der
Peripherie in Gestalt von Schuldenkrisen und Wirtschaftszusammenbrüchen
verheerten, diesmal auch in den Zentren wahrscheinlich. Sollte den
kapitalistischen Funktionseliten keine weitere Methode der
Krisenverzögerung zur Verfügung stehen, würde der von der Peripherie in
die Zentren seit den 80ern schubweise voranschreitende Krisenprozess
somit bei seinem logischen Endpunkt ankommen. Nicht nur die unter einer
absurden privaten wie staatlichen Schuldenlast stöhnenden USA stehen
angesichts der notwendigen geldpolitischen Zinswende vor dem
konjunkturellen Abgrund; es sind gerade exportfixierte Volkswirtschaften
wie diejenige der BRD, die im hohen Ausmaß von der globalen
Defizitkonjunktur vermittels ihrer Exportüberschüsse, die ja faktisch
einen Schuldenexport darstellen, abhängig sind – und die nun von der
De-Globalisierung besonders hart getroffen werden könnten.
Somit scheint auf den ersten Blick eine Tendenz, die sich schon in der
Endphase des neoliberalen Zeitalters abzeichnete, zu einem zentralen
Moment der neuen Krisenperiode zu avancieren: Der Staat als ökonomischer
Akteur, der in den vergangenen Jahren mit Konjunkturpaketen und
exzessiver Gelddruckerei im Rahmen der letzten großen
Liquiditätsblase[41] das System stabilisierte, dürfte aufgrund der neuen
Qualität des Krisenprozesses zur dominanten wirtschaftliche Größe
aufsteigen. Generell agiert der kapitalistische Staat, der schon in
seiner absolutistischen Frühform im Rahmen der europäischen "Ökonomie
der Feuerwaffen" (Robert Kurz) als wichtigster Impulsgeber des Take-Off
des Verwertungsprozesses fungierte, in Kriegs- und Krisenzeiten als
zentraler ökonomischer Akteur. Der Staat ist keine Alternative zum
Markt, wie es in der verkürzten Kapitalismuskritik oft erscheint,
sondern notwendiges Korrektiv der blinden Marktdynamik, die tendenziell
autodestruktiv ist. Sobald die der Kapitalverwertung eigenen
Widersprüche das System durch Krise oder Krieg in seinen Grundfesten
erschüttern, muss der Staat – der immer ein kapitalistischer Staat ist –
intervenieren, um das System zu stabilisieren. Zuletzt etwa in der
Krisen- und Kriegsperiode in den 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts.
Auch derzeit werden angesichts von Klimakrise und Krieg in der
veröffentlichten Meinung Stimmen laut, die den offenen Übergang zum
Verzichtsdenken,[42] in den Staatskapitalismus, in die Kriegswirtschaft
fordern.[43] Der Staat soll nicht nur die "Wirtschaft" durch
Konjunkturprogramme, den Aufbau der neuen, "ökologischen" Infrastruktur
und Gelddruckerei stützen, wie in der Endphase des Neoliberalismus;
inzwischen scheint auch die kostspielige Grundlagenforschung, die
Subventionierung von Konsum oder Produktion, und die Organisation von
Warendistribution in Krisenschüben in Staatsregie denkbar zu sein.
Strategische staatliche Weichenstellungen bei der Industrieentwicklung
sind ohnehin schon Teil der bürgerlichen Politik, etwa in der BRD in
Gestalt der Förderung von "Industriechampions", die mit staatlicher
Rückendeckung die Weltmärkte erobern sollen (Auch hierbei folgt der
Westen eigentlich nur China und Russland).[44] Absehbar sind auch, in
Reaktion auf kommende Krisenschübe, abermalige Verstaatlichungen,
insbesondere im maroden und krisenanfälligen spätkapitalistischen
Infrastruktursektor.
Diese notwendige Rolle des Staates als "Krisenmanager" wird aber
unterminiert durch die geschilderte Erschöpfung der
finanzmarktgetriebenen Globalisierung der Defizitkonjunktur im
neoliberalen Zeitalter, die angesichts schwindelerregender
Schuldenberge, heiß gelaufener Finanzmärkte und einer rasch zunehmenden
Inflation die Politik in eine Sackgasse, eine Krisenfalle treibt: Die
kapitalistische Krisenpolitik müsste eigentlich einerseits die Zinsen
senken, Geld drucken und die Wirtschaft durch Konjunkturprogramme
stützen, um die konjunkturellen Folgen des Ukraine-Krieges zu
minimieren, doch zugleich wäre es notwendig, die Zinsen anzuheben und
einen konsequenten Austeritätskurs zu verfolgen, um der Inflation
zumindest etwas Herr zu werden.
Diese sich immer deutlicher abzeichnende Krisenfalle,[45] die das Ende
der kreditfinanzierten neoliberalen Verzögerung des manifesten
Krisendurchbruchs in den Zentren markiert, wird nach ihrem Zuschnappen
schwerste wirtschaftliche und soziale Verwerfungen nach sich ziehen –
gerade auch in den Zentren, gerade auch in deren Mittelklassen. Mit dem
Verelendungsschub wird die seit Dekaden ablaufende, graduelle Verrohung
der bürgerlichen Metropolengesellschaften in offene Barbarisierung
übergehen, angetrieben von einer eskalierenden, ins Anomische treibenden
Krisenkonkurrenz auf allen Ebenen. Der krisenbedingte sozialpolitische
Rückzug des Staates wird diesen auf seine ursprüngliche Rolle als
Repressionsinstrument reduzieren. Der neue Krisenschub wird somit eine
entsprechende staatliche Reaktion nach sich ziehen. Die autoritären
staatlichen Bestrebungen, im Neoliberalismus in Form von Demokratieabbau
und Ausbau des Überwachungsstaates präsent, werden offen zutage treten.
Der rechte US-Präsident Trump war in dieser Hinsicht nur ein Vorspiel.
Und auch in der Bundesrepublik dürfte das latent gärende, faschistische
Potenzial erst dann gänzlich manifest werden, wenn die zivilisatorische
Wirkung der hohen Außenhandelsüberschüsse, die Deutschlands
Funktionseliten zur Rücksichtnahme auf die Auslandsmeinung nötigt, im
Krisenverlauf wegfällt.
Gerade der Krieg um die Ukraine macht diese Wechselwirkung von
Krisenschub, Verrohung und autoritärem Staatsreflex klar. Lukaschenko,
einstmals als "letzter Diktator Europas" beschimpft, scheint eher der
Vorläufer all jener autoritären Bestrebungen zu sein, die gerade in der
EU, etwa in Ungarn oder Polen, in der Nato, insbesondere in Gestalt des
islamofaschistischen Regimes in der Türkei, oder in der Ukraine selber
um sich greifen, die bereits mit Verhaftungen von Oppositionellen und
Parteiverboten auf Russlands Spuren wandelt.[46]
Es ist ein grundlegender Fehler, den Krieg in der Ukraine als einen
Kampf zwischen Demokratie und Diktatur zu interpretieren, der eigentlich
schon bei einem Blick auf die Zustände in Warschau, Budapest oder
Ankara korrigiert werden könnte. Die neue Krisenphase dürfte folglich
eher durch den orwellschen Kampf autoritärer oder faschistischer Regime
um Ressourcen geprägt sein als durch eine Neuauflage des "Kalten
Krieges".
Und dennoch handelt es sich bei dieser Tendenz zu autoritärer, in
letzter Konsequenz offen faschistischer Krisenverwaltung um ein
Oberflächenphänomen, das nur äußerlich an den Faschismus des 20.
Jahrhunderts anknüpft. Die totale und totalitäre Mobilisierung während
des Zweiten Weltkriegs ermöglichte den fordistischen Nachkriegsboom, da
es nach dem Kriegsende faktisch keine Demobilisierung gab und die
Massenproduktion von Tanks in die Automobilmachung der kapitalistischen
Nachkriegsgesellschaften überging; doch ein ähnliches
Akkumulationsregime, bei dem massenhaft Lohnarbeit in der
Warenproduktion verwertet würde, ist diesmal nicht in Sicht. Da ist nur
noch der Abgrund der totalen Überschuldung in der einsetzenden
Klimakatastrophe, was der objektiven Funktion des Faschismus als einer
terroristischen Krisenform kapitalistischer Herrschaft eine andere
Verlaufsform verschafft. Das schon immer gegebene Moment des Faschismus
als Herrschaft der Rackets, also konkurrierender Beutegemeinschaften,
wie es die Kritische Theorie hellsichtig konstatierte, wird in der
gegenwärtigen Systemkrise dominant.
Die autoritäre Formierung des Staates, der zunehmend zur Beute von
Rackets wird, geht somit mit dessen innerer Erosion einher, was gerade
in der Bundesrepublik in Ansätzen schon sich entfaltet: gerade
hinsichtlich der zunehmenden rechtsextremen Umtriebe[47] im
Staatsapparat.[48]
In der Ukraine ist dieser Prozess schon viel weiter vorangeschritten, wo
die Oligarchenherrschaft nach dem Regierungssturz und dem Ausbruch des
Bürgerkrieges bereits in offene rechtsextreme Milizbildung überging,[49]
die im Vorfeld des Krieges offen den ukrainischen Staat herausfordern
konnte.[50]
Der desaströse russische Invasionsverlauf legte überdies offen, wie weit
die staatlichen Erosionstendenzen auch innerhalb der russischen
Staatsoligarchie vorangeschritten sind, da selbst die für die
Machtprojektion des Kremls essenzielle Armee hiervon voll erfasst wurde.
Die Spaltung innerhalb der deutschen Rechten, die sich im Ukraine-Krieg
nicht eindeutig hinter den ukrainischen Nazis oder dem russischen
Präfaschismus positionieren kann, verweist gerade auf die Allgegenwart
dieser autoritär-anomischen Tendenzen in diesem Konflikt.[51]
Ein Paradebeispiel für die Fragilität autoritärer Herrschaft im
Kapitalismus und das Umschlagen von Diktatur in Anomie bietet der
Arabische Frühling, in dessen Verlauf monolithisch scheinende Diktaturen
wie diejenigen in Syrien und Libyen kollabierten und die ihnen
innewohnenden Zentrifugalkräfte freisetzten. Autoritäre Strukturen sind
kein Zeichen der inneren Stärkte des kapitalistischen Systems, das die
Optimierung der Selbstausbeutung der Lohnabhängigen im Rahmen der
kapitalistischen Demokratie präferiert, sondern dessen Krisenform, die
bei Weitem nicht so effizient den Verwertungsprozess organisieren kann
wie der übliche veröffentlichte Diskurs in den Zentren des Weltsystems
über Wege zur Wachstumsoptimierung und Steigerung – der aber ein
gewisses Maß an sozialer Stabilität benötigt, um dessen ideologische
Grundlagen zu gewährleisten.
Amok oder Emanzipation
Die Ära offen autoritärer Krisenverwaltung, die sich inzwischen etwa in
der öffentlich artikulierten Präferenz westlicher Oligarchen für
Rechtspopulisten ankündigt,[52] wird also auch innenpolitisch keine
dekadenlange Nachkriegsordnung mit sich bringen können, wie sie
zumindest in den Zentren in der neoliberalen Ära allen schleichenden
Erosionsprozessen und den zunehmenden Widersprüchen zum Trotz herrschte.
Die klimatischen, wirtschaftlichen und geopolitischen Kriseneinschläge
kommen immer häufiger, weshalb eine Stabilisierung, die eine neue
historische Periode der Krisenverwaltung einläuten würde, selbst mittels
autoritärer, diktatorischer Methoden kaum wahrscheinlich ist. Zumal,
wie schon erwähnt, die unterschiedlichen Momente des Krisenprozesses
immer stärker in Wechselwirkung treten, sodass etwa die Klimakrise einen
wachsenden ökonomischen und sozialen Fallout aufweisen wird.
Die Zeit der Monster, wie Gramsci die Durchbruchskrise zum Fordismus in
den 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts bezeichnete, scheint nicht mehr
enden zu können.
Es ließe sich gar argumentieren, dass – mit dem Krisenimperialismus und
dem ins Anomische strebenden Faschismus als offenem Todeskult[53] – in
der Niedergangsphase des Kapitals Momente seiner Expansionsdynamik noch
einmal kurz aufscheinen, sich überschneiden, in Wechselwirkung treten –
ganz im Sinne einer dialektischen Negation der Negation, sodass vertraut
scheinende Phänomene auf einer höheren Stufe der kapitalistischen
Widerspruchsentwicklung einer umgekehrten, von der Kontraktion des
Verwertungsprozesses angetriebenen Entwicklungslogik folgen. Es sind
bluttriefende frühkapitalistische Mementos aus der Aufstiegsphase des
Kapitals, die das in Agonie übergehende Weltsystem nochmals auf die
Menschheit loslässt. Selbst der Söldner, der derzeit in den
neo-imperialistischen Verteilungs- und Zusammenbruchskriegen wieder ein
Comeback feiert, ist ein Produkt des Frühkapitalismus, als die ersten
"Soldempfänger" massenhaft im 30-jährigen Krieg als Keimform des
Lohnabhängigen aufkamen und die Bevölkerung terrorisierten.
Ohne emanzipatorische Überwindung des Kapitals in seinem
fetischistischen Blindflug in die Weltzerstörung[54] hat die Krise ihren
letzten Fluchtpunkt in der Panik, in der durch eskalierende
Krisenkonkurrenz ausgelösten Kappung aller libidinösen Bindungen
zwischen den Gesellschaftsmitgliedern, als deren Vorschein der
individuelle Amoklauf[55] bereits regelmäßig auftritt.
Neben dem globalen Atomkrieg, der im Krisenimperialismus mit wachsender
Krisenintensität zu einer immer größeren Bedrohung wird, ist es die
Klimakrise, die als größter Produzent von Panik fungierten dürfte:
Konkret die sich immer deutlicher abzeichnende Unbewohnbarkeit weiter
Teile des globalen Südens,[56] die allen, selbst den brutalsten, offen
terroristischen Formen der Krisenverwaltung objektive Grenzen setzt.
Dies würde den Übergang in den blanken Zivilisationszusammenbruch
markieren.
Aus diesem inzwischen doch offen auf der Hand liegenden Systemdrang zur
Selbstzerstörung erwächst die Überlebensnotwendigkeit der
emanzipatorischen Überwindung des Kapitals, die quasi den letzten
Sachzwang bildet, mit dem das kapitalistische Sachzwangregime in
Geschichte überführt werden muss. Der Kampf um die Systemtransformation
müsste somit zentrales Moment linker Praxis sein, anstatt sich im
Jubelpersertum für Nato oder Putin zu verlieren, das derzeit angesichts
des Ukraine-Krieges weite Teile der deutschen Linken praktizieren.
Anmerkungen:
[1] https://oxiblog.de/die-mythen-der-krise/
[2] http://www.konicz.info/?p=4136
[3] https://www.xn--untergrund-blttle-2qb.ch/wirtschaft/theorie/stagflation-inflationsrate-6794.html
[4]4 https://de.wikipedia.org/wiki/Gro%C3%9Fer_Kladderadatsch
[5] https://www.heise.de/tp/features/Freihandel-und-Fluechtlinge-3336741.html
[6] https://www.mandelbaum.at/buch.php?id=962
[7] https://www.xn--untergrund-blttle-2qb.ch/wirtschaft/weltfinanzsystem-finanzmaerkte-notenbanken-6360.html
[8] https://www.xn--untergrund-blttle-2qb.ch/kultur/film/george_andrew_romero_zombie_4234.html
[9] https://www.xn--untergrund-blttle-2qb.ch/wirtschaft/theorie/stagflation-inflationsrate-6794.html
[10] https://www.mandelbaum.at/buecher/tomasz-konicz/klimakiller-kapital/
[11] https://www.xn--untergrund-blttle-2qb.ch/politik/theorie/die-klimakrise-und-die-aeusseren-grenzen-des-kapitals-6832.html
[12] https://www.lunapark21.net/das-kapital-als-weltverbrennungsmaschine/
[13] https://carnegieendowment.org/chinafinancialmarkets/86397
[14] https://www.co2.earth/daily-co2
[15] https://www.imf.org/en/News/Articles/2022/04/14/sp041422-curtain-raiser-sm2022
[16]
https://www.spiegel.de/wirtschaft/iwf-ukrainekrieg-kann-weltwirtschaftsordnung-fundamental-aendern-a-af821a51-222d-42d2-9038-d29180574e3d
[17] http://www.konicz.info/?p=4876
[18] https://www.dw.com/en/high-fertilizer-costs-threaten-farmers-amid-sanctions-on-russia/a-61163444
[19] https://www.reuters.com/business/indonesia-seeks-balance-international-local-palm-oil-demand-official-2022-05-11/
[20] https://twitter.com/spectatorindex/status/1525327269707022336
[21] https://www.heise.de/tp/features/Die-Urspruenge-der-gegenwaertigen-Wirtschaftskrise-4285127.html
[22] http://www.konicz.info/?p=1409
[23] https://www.heise.de/tp/features/Der-Aufstieg-des-deutschen-Europa-3370752.html
[24] https://lowerclassmag.com/2021/04/13/oekonomie-im-zuckerrausch-weltfinanzsystem-in-einer-gigantischen-liquiditaetsblase/
[25] https://www.heise.de/tp/features/Politik-in-der-Krisenfalle-3390890.html
[26] https://www.untergrund-blättle.ch/politik/europa/russland-ukraine-krise-konflikt-neoimperialismus-6830.html
[27] https://www.ft.com/content/e5735375-75df-4859-bbf0-ae22e4fe2ff6
[28] http://www.konicz.info/?p=4389
[29] https://www.versobooks.com/books/347-adam-smith-in-beijing
[30] https://www.heise.de/tp/features/Wachstum-der-Schuldenberge-3762292.html
[31] http://www.konicz.info/?p=4643
[32] https://oxiblog.de/klimakrise-und-china/
[33] https://www.buzzfeednews.com/article/kirstenchilstrom/china-flooding-photos
[34] https://www.youtube.com/watch?v=DOBntnuYCMA&t=5s
[35] https://unherd.com/2022/03/the-truth-about-ukraines-nazi-militias/
[36] http://www.konicz.info/?p=4566
[37] https://www.streifzuege.org/2021/das-globale-agrarsystem-wahnsinn-mit-methode/
[38] https://www.tagesschau.de/ausland/asien/sri-lanka-ausnahmezustand-101.html
[39] https://www.heise.de/tp/features/Ost-oder-West-3363061.html
[40] https://ipad.fas.usda.gov/rssiws/al/crop_production_maps/Ukraine/Ukraine_wheat.jpg
[41] https://lowerclassmag.com/2021/04/13/oekonomie-im-zuckerrausch-weltfinanzsystem-in-einer-gigantischen-liquiditaetsblase/
[42] https://www.ft.com/content/d8e565b0-c769-46cc-9be3-4ed9a806d8e8
[43]
https://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/ukraine-krieg-und-gas-dann-eben-kriegswirtschaft-aber-richtig-kolumne-a-532bb9fa-15e4-4b9b-8e50-d6e082a93f04
[44] https://www.zeit.de/wirtschaft/2019-05/nationale-industriestrategie-2030-peter-altmaier-industriepolitik-faq
[45] https://www.heise.de/tp/features/Politik-in-der-Krisenfalle-3390890.html
[4]6 http://www.konicz.info/?p=4832
[47] https://www.heise.de/tp/features/Braun-von-KSK-bis-USK-4355668.html
[48] https://www.heise.de/tp/features/Inflation-der-Einzelfaelle-4259590.html
[49] https://www.streifzuege.org/2014/oligarchie-und-staatszerfall/
[50] https://consortiumnews.com/2022/03/04/how-zelensky-made-peace-with-neo-nazis/
[51] https://www.endstation-rechts.de/news/die-deutsche-rechte-und-ihr-umgang-mit-dem-krieg-der-ukraine
[52] https://winfuture.de/news,129707.html
[53] https://www.heise.de/tp/features/Der-alte-Todesdrang-der-Neuen-Rechten-4509009.html
[54] https://www.heise.de/tp/features/Die-subjektlose-Herrschaft-des-Kapitals-4406088.html
[55] https://www.heise.de/tp/features/Fluchtpunkt-Amok-3263142.html
[56]
https://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/extremwetter-und-klimaforschung-klimakrise-macht-hitzewellen-in-indien-100-mal-wahrscheinlicher-a-aa4a67a0-96f2-4be0-911f-a83f33abcaec
übernommen von : konicz.info, 24.05.2022
http://www.konicz.info/?p=4892
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