Sonntag, 19. Juni 2022

MORGENROT - Buchtipp von Harry Popow

 

MORGENROT


LEBENS-TRÄUME

IN

TITANIC-ZEITEN


Unter diesem Titel veröffentlicht der Autor Harry Popow im Juni 2022 aus aktuellem Anlass sein neues Buch.



Sprache: Deutsch

Format: DIN A5 hoch

Seiten: 480

Altersempfehlung: Erwachsene (18 - 99)

Erscheinungsdatum: 18.06.2022

ISBN: 9783756506316


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Klappentext:


Das von Harry Popow vorgelegte Werk nennt sich nicht ohne Grund „MORGENROT“. Ein Titel, der vor allem an jene Generation erinnern soll, die nach der Befreiung vom Faschismus mit viel Mühe aus den Trümmern an materiellen Werten und denen in den Köpfen versucht haben, zunächst mit viel Erfolg, einen neuen Staat zu errichten, dem als wichtigstes Anliegen nicht nur die Entmachtung der einst herrschenden Geldeliten, die Beerdigung sämtlicher Kriegsgelüste als geschichtliche Notwendigkeit oblag, sondern vor allem dem friedlichen Aufbau sowie dem militärischen Schutz des Arbeiter- und Bauern- Staates.


Die 480 Seiten umfassende Lektüre teilt der Autor in fünf Abschnitte: Mit "Vorkriegszeit" skizziert er die erneute brandgefährliche Vorkriegssituation des Jahres 2022. In den weiteren Kapiteln berichtet er vom persönlichen Erleben vor und nach 1945, den neunjährigen Aufenthalt in Schweden nach der Annexion der DDR, die Rückkehr nach Deutschland sowie die nach wie vor geistig intensiven Jahre am Rande Berlins als Blogger, Rezensent und Autor.


Der bald 86-Jährige versteht dies als sehr kleinen persönlichen Beitrag im Widerstand gegen die Diktatur der Kapitalmacht, als Traum von einem Neubeginn hin zu einem neuen MORGENROT.


Das Buch ist gleichzeitig ein nach über 60 Ehejahren sehr authentischer Liebesroman zwischen seiner Frau Cleo und ihm, zwischen allen Kindern, Enkeln und Urenkeln einer großen und wunderbaren Familie.


Kurzvita

Geboren 1936 in Berlin Tegel, erlebte Harry Popow noch die letzten Kriegsjahre und Tage. Ab 1953 war er Berglehrling im Zwickauer Steinkohlenrevier. Eigentlich wollte er Geologe werden, und so begann Harry Popow ab September 1954 eine Arbeit als Kollektor in der Außenstelle der Staatlichen Geologischen Kommission der DDR in Schwerin. Unter dem Versprechen, Militärgeologie studieren zu können, warb man ihn für eine Offizierslaufbahn in der KVP/NVA. In den bewaffneten Kräften diente er zunächst als Ausbilder und danach 22 Jahre als Reporter und Redakteur in der Wochenzeitung „Volksarmee“. Das Zeugnis Diplomjournalist erwarb der junge Offizier im fünfjährigen Fernstudium an der Karl-Marx-Universität Leipzig. Nach Beendigung der fast 32-jährigen Dienstzeit arbeitete er bis Ende 1991 als Journalist und Berater im Fernsehen der DDR. Von 1996 bis 2005 lebte der Autor mit seiner Frau in Schweden. Beide kehrten 2005 nach Deutschland zurück. Sie sind seit über 60 Jahren sehr glücklich verheiratet und haben drei Kinder, zwei Enkel, zwei Enkelinnen und einen Urenkel.


Zum Inhalt

Nach dem obligatorischen Prolog fällt der Autor dem Leser mit der Tür ins Haus. Im Buch I schreibt er von der “Vorkriegszeit” im Jahre 2022. Sodann blättert er zurück bis vor 1945 und das Erleben in der SBZ/DDR als Berglehrling, Offizier und Militärjournalist in der NVA und nach Beendigung der Dienstzeit als Berater im Fernsehen der DDR, wo alle der Mauerfall erwischte. Vor allem durchzieht das gesamte Buch die große Liebe zu seiner Frau, die er Cleo nennt, mit der er bisher über 60 glückliche diamantene Jahre erlebte.

In allen Lebensdetails erfährt der Leser vor allem die Motive der handelnden Personen kennen, der Eltern von Cleo und von Henry und ihre eigenen. Vor dem Hintergrund des Bemühens in der DDR, endlich die Fesseln der einstigen nazistischen Gewaltherrscher ein für allemal abzuschütteln und einen sozialistischen Staat aufzubauen, geraten Jung und Alt in eine gesellschaftlich und politisch aufregende Zeit.

Der Autor Henry, den seine spätere Cleo bereits beim ersten Anblick als Träumer zu identifizieren weiß, erfüllt mit viel Nachdenklichkeit und auch innerer Genugtuung seine Arbeit, sowohl im Bergbau, in der Arbeit als zukünftiger Geologe als auch später als Militärjournalist. Was er von seinem Vater als Maschineningenieur und von seiner russischen Mutter an Lebenserfahrungen und politischen Haltungen erfährt und erlebt, prägt auch sein späteres Handeln.

So ist zu erfahren, dass Henry nach der Rückkehr aus Schweden emsig am Computer sitzt und mehr als 8o Buchrezensionen zu politischen und gesellschaftskritischen Sachbüchern schreibt und in seinem Blog und in den Portalen NRhZ und in Linke Zeitung veröffentlicht. Nicht nur das, er greift nochmals Erinnerungen auf über das Leben in der DDR. So zum Beispiel, wie er nach dem Abschied aus der NVA den Umbruch im Fernsehen erlebt, deren Mitarbeiter er in einer Abteilung wird, die sich mit der Unterstützung des Fernsehens in militärischen Fragen befasst.


Leseproben


Seite 38:

Träumender Trommler


Mama Tamara arbeitet inzwischen als Personalchefin beim 2. Gleisbau, eine wichtige Strecke für die WISMUT von Johanngeorgenstadt nach Aue im Erzgebirge. Henry und seine Geschwister werden von Tante Lotte versorgt. Mit ihr fahren sie im Sommer 1949 nach Rathen im Elbsandsteingebirge. Sie wohnen in der romantischen Burgruine Rathen, direkt über der Elbe. In der Burg ist ein Hotel untergebracht. Früher gehörte sie einem Schweizer Bankier, so ist zu erfahren. Später wird sich eine Sparkasse aus Berlin die „Ruine“ als Ferienheim einrichten. In Erinnerung bleiben die Wanderungen zum Amselsee und zur Bastei, in der Felsenbühne Rathen begeistert sie die Operette „Schwarzwaldmädel“. Die Burgkost ist schmal, deshalb holen sie beim Fleischer für fünfzig Pfennige heiße Knochenbrühe, denn der Hunger ist noch ein ständiger Begleiter. Henry zeichnet eine Skizze von der Burg. Außerdem will er „wissenschaftlich“ arbeiten, so beobachtet er mit seinem einrohrigen Fernglas, das er von seinem Papa hat, die täglichen Wolkenbewegungen und notiert`s in einem Heftchen. Er fühlt sich wohl. Schließlich ist eine Karte an Mama fällig: Ich schreibe Dir den ersten Gruß aus Kurort Rathen. Sei bitte nicht traurig, dass ich solange nicht geschrieben habe. Eben kommen wir von einem Spaziergang zurück. Es geht uns hier sehr gut. Ich freue mich sehr über die herrliche Gegend. Gestern waren wir trotz schlechtem Wetter mit Eberhardt zum Felsen ‚Talwächter‘. Mama, ich bin wirklich schreibfaul. Herzliche Küsse von Deinem Henry.


Zurück nach Berlin-Friedrichshagen. In der Bölschestraße, der Hauptstraße, wird ein Jugendklub gegründet. Der gehört der neuen Pionierorganisation. Dort trifft man sich und bekommt auch blaue Halstücher. Henry will auch mitmachen. Er geht einfach hin. Der soeben gegründete Fanfarenzug zieht ihn an, vor allem das Trommeln. Man übt oft. Erst im Keller des Klubs, dann auf der Straße, wo viele interessiert zusehen. Das gefällt Henry. Und dann heißt es: „Wir bereiten uns auf eine große Sache vor ...“ Nach der Schule wird tüchtig geprobt. Fast jeden Abend. Dann ist es soweit. Ein neuer Staat wurde am 7. Oktober 1949 gegründet – die DDR! Der Fanfarenzug trifft sich am 11. Oktober mit Tausenden anderen im Lustgarten. Fackeln, Fanfaren, Menschen über Menschen. Und alle fröhlich und voller Erwartung. Extra für diesen Anlaß wurden viele kleine Bäumchen am Rande des Platzes gepflanzt. Dieser historische Abend war ein unauslöschliches Erlebnis. Wenige Tage danach bekommt auch Henry sein blaues Halstuch. In der Pioniergruppe geht es lebendiger zu als in der Schule. Da gibt es Bücherabende, man übt sich im Laienspiel, man lernt Lieder wie „Du hast ja ein Ziel vor den Augen“, „Dem Morgenrot entgegen“ und „Dunja unser Blümelein ...“ Er fühlt sich wohl, ist mittenmang. „Disziplin Pioniere!“, ermahnt oft der Gruppenleiter. Neue Worte für die Schüler. Langsam nisten sie sich ein in den Köpfen. Im Kino von Karlshorst besuchen die „Jungen Pioniere“ eine Veranstaltung mit Erich Weinert. Wer das ist? Der Gruppenleiter erklärt, es ist ein Schriftsteller, der in die Sowjetunion emigrieren musste und dort im Nationalkomitee Freies Deutschland gegen die Faschisten gekämpft hat. Dieser Mann beeindruckte Henry ungemein. Er tastet sich unbewusst vor zur Schönheit eines friedlichen Lebens auf der Erde... Aphrodite ist noch nicht in Sicht, dem Symbol für hohe Menschlichkeit.


Henry ist seit der Scheidung der Eltern mit seinen Geschwistern oft alleine. Mama arbeitet im Erzgebirge, zum Vater gibt es keine Kontakte und Tante Lotte hat andere Sorgen, als die vielen Fragen zu beantworten, besonders die von Henry. Es interessiert ihn, warum wird denn soviel aufgebaut, wenn doch wieder Krieg kommen könnte, wie man im

Radio immer hört... Aber er bleibt alleine mit seinen Fragen. Er weiß noch nicht, dass das Denken mit Fragen beginnt. So geht er in die Spur auf der Suche nach Aphrodite, von der er noch nie etwas gehört hatte.


Seite 32:


1945: Weiße Armbinden


Donnerwetter, so ein Glück, sagen Mama und Papa, als sie ihr Mietwohnhaus in Berlin–Schöneberg unzerstört wiedersehen. Hier hat die Familie vor der Evakuierung gewohnt. Aber deren Wohnung in der dritten Etage links ist inzwischen besetzt, die Ziebells dürfen in die zweite Etage rechts. Aber noch heulen herzzerreißend und furchterregend die Sirenen. Nacht für Nacht, manchmal auch tagsüber. Sie müssen im Keller bleiben. Provisorisch sind Bettgestelle aufgebaut, manchmal liegen nur Matratzen da. Brot auf Zuteilung, gleich für mehrere Tage. Wenn irgendwo Bomben heulend und krachend in Häuser schlagen und die Erde bebt, dröhnt und stöhnt, dann bleibt das Herz stehen vor Angst. Jede Sekunde kann es auch das eigene Miethaus erwischen, jede Minute ... Papa muss nun doch noch an die Front, zum Volkssturm, wie er sagt. Nach drei Tagen ist er wieder da. Dort, wo er sich melden sollte, seien schon die Russen. Wie froh die Kinder sind ... Henry hört, wie er Mama von Menschen berichtet, die an Laternen aufgehängt wurden, an ihnen ein Schild mit der Aufschrift: Ich bin ein Verräter. Es ist alles so schrecklich und gruselig. Eines Nachts nimmt Papa seinen Größten mit aufs Dach des Hauses. Der Ängstliche sieht die langen bläulich-weißen Strahlen der Scheinwerfer, die den Himmel nach Flugzeugen abtasten. Dann schrillen wieder die Sirenen. Henry schaut tapfer und zitternd. Papa lässt ihn wieder frei und Mama schimpft unten im Keller.



Seite 45:

Steinkohlen-Zeit


Als Berglehrling „Unter Tage“


Zwickau, Seminarstraße 1. Ein großes graues Gebäude - die Bergbauberufsschule. Glück für Henry. Die Lehrzeit beginnt erst Mitte September, also noch über zehn Tage Zeit. Er meldet sich jedenfalls an und wohnt ab 15.9. im Lehrlingswohnheim. Das Bergwerk der Steinkohle heißt „Karl Marx“. Es gibt noch ein zweites Bergwerk - „Martin Hoop“. In den Schaufenstern der Stadt sieht er die ersten Fernsehapparate mit den kleinen Bildschirmen. Aber so etwas Technisches macht ihn nicht an. Zuerst paukt er nur Theoretisches. Über die Geschichte des Bergbaus, über die Untertagearbeiten, wie die Technik heißt, die die jungen Leute da unten erwartet, und dass die Steinkohlenflöze noch Vorräte für weitere siebzig Jahre im Berg festhalten. Also ganz schöne Aussichten. Im Sommer beginnt die praktische Arbeit unter Tage. Zuvor Kleider wechseln in einer großen Halle. Von der Decke herab baumeln an langen eisernen Ketten wie geräucherte Ware die dunklen Arbeitsklamotten. Der Lehrling öffnet das Sicherheitsschloss, lässt die Kette herunter. Sein sauberes Zeug kommt an den Haken, alles hochziehen, fertig. Grubenlampe empfangen. Rein in die Fahrt, so nennt sich der „Fahrstuhl“, und ab in die Tiefe. Kribbeln im Bauch, denn die Mannschaftsfahrt hat eine Sinkgeschwindigkeit von sechs Metern pro Sekunde. (Die Produktenfahrt ist doppelt so schnell.) 900 Meter Tiefe (Teufe). Eine unheimliche Stille empfängt die jungen Bergleute. Irgendwo kreischt ein „Hunt“ in den Weichen, so heißen die kleinen Wägelchen für den Kohletransport. Langsam tasten die Lehrlinge sich vorwärts, die elektrisch betriebenen Grubenlampen in ihren Händen werfen nur ein spärliches Licht auf den dunklen Stollenboden. Manchmal blitzt eine kleine Wasserpfütze auf. Dann und wann müssen die Männer eine „Schleuse“ passieren, ein Wetter, durch die der Grubenwind geregelt wird. Endlich am Ziel, man sagt „vor Ort“. Aus einer Kiste holt Henry sein Gezähe (Werkzeug), lockert mit dem Picker das Schwarz aus der Grubenwand, haut Stempel (Stützbalken) zurecht, hilft mit, den neu entstehenden Stollen abzusichern, übt sich im Handversatz, verletzt sich an der Schüttelrutsche, trinkt schwarzen Kaffee aus der großen Blechkanne, wartet sehnsüchtig auf das Ende der Schicht, auf den hellen Himmel über der Stadt ... Nach der Ausfahrt unter die Dusche. Er lernt, sich richtig zu waschen. Beim zweiten Mal glaubt er, jetzt geht‘s. Ein Blick in den Spiegel überzeugt ihn vom Gegenteil: Die Augenbrauen, der Haaransatz am Kopf, die Ohrmuscheln – alles ist noch pechrabenschwarz. Zum Teufel noch mal! Das ganze noch einmal.



Seite 52:

Knobelbecher-Zeit


Was ist also zu tun? Das wissen sicherlich die da oben. Henry denkt an die großen Zusammenhänge noch nicht. Jetzt ist er auf den nächsten Augenblick fixiert. Was wird ihn erwarten, den Ahnungslosen? Es ist der 23. November 1954. Erfurt. Ein Jüngling, schmal, etwas blass, knapp 18 Jahre alt, im hellen und dünnen Sommermantel, ein kleines Köfferchen in der Rechten, meldet sich an einem Kasernentor. Dann ist er drin. Noch weiß er nicht, dass ein Rückzug nicht mehr in Frage kommen wird, selbst bis zum ersten Ausgang werden Wochen vergehen. Eine Schule für zukünftige Offiziere – sie wird ihn und all die anderen Schüler festhalten für drei Jahre, soviel ist klar. Am nächsten Tag geht es bereits in die B/A- Kammer, das heißt Bekleidung und Ausrüstung. Henry sieht die Knobelbecher und ihm zieht sich das Herz zusammen. „Die sollen nun mein Schuhwerk sein, diese klobigen Dinger“, denkt er. Damit nicht genug. Die von der Aufnahmekommission haben wegen der „Militärgeologie“ kaum merklich gegrinst. Ja, bei den Pionieren, da beschäftige man sich mit so etwas, aber dazu wiederum sei er zu schwach gebaut, solle er doch allgemeiner Truppenkommandeur werden, da habe man Befehlsgewalt über alle, über die Infanterie, die Flugzeuge und über die Schiffe, und einer der Offiziere breitet weit die Arme aus ... Dem sensiblen jungen Mann wird beinahe schwarz vor Augen, über andere herrschen, das will er ja gar nicht.

Er spürt, da kommt was auf ihn zu. Doch nun ist es wohl zu spät. Soll er sich zurückziehen? Feige und kleinmütig? Zurück in den Betrieb, der ihn so „patriotisch“ verabschiedet hat? Der ihm das restliche Gehalt von November, etwa 50 DM, erlassen und ihm eine gute Beurteilung mitgegeben hat? „Nach Aussagen des Leiters der Außenstelle kann seine Arbeit mit sehr gut bewertet werden“, so steht es in dem Papier. Nein, ausgeschlossen. Er wird, er muss sich durchbeißen. Sich abhärten, sich standhafter machen. Bedenkt er, dass sich hinter ihm mit dem Kasernentor auch seine noch nicht einmal gelebte Jugendzeit schließt, nahezu eingegrenzt und beschnitten wird? Nein, das erscheint ihm nicht wichtig genug. Und so soll’s denn sein ... Henry stürzt sich in die Zeit der Fußlappen und der Stiefel. Aus dem im Sternenbild Schütze geborenen soll nun ein echter Schütze werden.



Seite 249:

Kampfplatz“ Adlershof


Es ist der erste Dezember 1986, da geht Henry das erste Mal wieder seit dem Herbst 1954, also seit 32 Jahren, in Zivil zur Arbeit. Mit der S-Bahn von Friedrichshagen nach Köpenick, von dort fährt er mit der Straßenbahn nach Adlershof, betritt dann diesen riesigen Gebäudekomplex des Fernsehens der DDR: Sein neuer Arbeitsplatz. Konkreter: Die Räume der Beratergruppe. Die ist im grauen Verwaltungsgebäude im obersten Stockwerk untergebracht. Einige Mitarbeiter sind dafür verantwortlich, dass in Drehbüchern über die Armee und bei allen zu bearbeitenden militärischen Problemen keine fachlichen und politischen Unebenheiten stehen. Ein Oberst ist Henrys Vorgesetzter, sehr korrekt im Umgang mit seinen zwei Zivilleuten, zu denen auch Detlef gehört, ein äußerst beweglicher Geist mit immer neuen Ideen. Vor allem: Er hilft Henry, in der für ihn fremden Welt des Fernsehens allmählich Fuss zu fassen, die einzelnen Bereiche wie Unterhaltung und Dramatik kennenzulernen, aber auch die Leute von „Radar", dem militärpolitischen Magazin. Er muss an „Abnahmen“ – seien es die Radar-, seien es publizistische Beiträge, seien es Spielfilme mit Armeeproblematik – teilnehmen und den jeweiligen Inhalt mit begutachten.


Seite 257:


Aufruhr in Leipziger Kinosälen


Neubrandenburg - Henry liebt diese Stadt, in der er mit Cleo und den drei Kindern so gute Jahre gelebt hatte. Nun ist er erneut hier – vom 10.10.-13.10.88 zum 11. Nationalen Festival des Dokumentar- und Kurzfilms der DDR. Er stellt fest: Besonders beeindruckend: die Beiträge „Die Karbidfabrik“, „Das Singen im Dom“, „Winter ade“, „Erich Fried, ein Porträt“. Dann ein Streifen über die Armee - „Was jeder muss“. Ein junger Mann zwischen Verweigerung, Hoffnung und berechtigten Fragen. Aber das Schlussbild: Im Hintergrund die Kaserne in der Abenddämmerung, im Vordergrund ein Ausschnitt der Sturmbahn, und zwar so gefilmt, dass er wie ein Galgen aussieht. Widerlich. Welch ein Bild wird da suggeriert! Ich rege mich auf. Innerlich! Soll ich in der Diskussion dazu etwas sagen? Andererseits, habe ich den Film überhaupt richtig verstanden? Würde ich mich, der ich von der Filmsprache im Grunde wenig Dunst habe, mich mit giftigen und unqualifizierten Bemerkungen nicht absolut lächerlich machen? Ich unterdrücke mein „Pflichtgefühl“. Manchmal muss man schweigen. Oder feige sein? So reibungslos geht’s nicht mehr wie gedacht... Was deutet sich an?


November 1988 in Leipzig. Bin das dritte Mal hier zur Dokumentar- und Kurzfilmwoche. Soviel Kritisches zum Leben in sozialistischen Ländern habe ich überhaupt noch nie gesehen. Ein großer Lacher bei studentischem Publikum, als der Film über den Zeiss-Biermann und die DDR-Ships gezeigt wurde. Stinkendes Eigenlob, das zu selbstherrlich daherkommt – das will man nicht, denn das ist unehrlich. Und hinter dem Lachen hört man das Knistern steigender Unzufriedenheit. Ich staune nur, und das Staunen wird zum Nachdenken. Mehr als bisher. Ein Mitarbeiter vom Magazin „Radar“, er sitzt in der Jury, kommt zu mir, flüsternd, sich fast schon vorsichtig umsehend: „Du, da soll noch ein Streifen aus Moskau eintreffen, aber ob der gezeigt wird?“ Ich sitze oft bis früh zwei Uhr im Saal, großartige Stimmung, auch als „Winter ade“ abläuft, Beifall auf offener Szene.


Wieder in Berlin. Bin aufgeladen. Stehe noch unter Strom. Will einen Diskussionsbeitrag für die Parteiversammlung über Erlebnisse in Leipzig halten. Vor allem über den Widerspruch zwischen dem vom Politbüro hochgejubelten Mikroship-Film und der gar nicht rosigen Resonanz bei jungen und sehr kritischen Zuschauern. Man macht sich was vor!! Den Vorgesetzten fährt der Schreck in die Glieder, ich sehe in ablehnende, verständnislose Gesichter meiner Genossen: „Um Gottes willen, bleibe bei der Militärpolitik, willst du etwa gegen die Einschätzung von ganz oben wettern?“ Mir ist richtig unwohl. So offensichtliche Fehleinschätzungen, so ein hausgemachter „Erfolg“, so viel Mittelmäßigkeit, so drastisch und niederschmetternd.



Seite 314:

Schwedische Gastfreundschaft


Silvester 1996. 17 Uhr sind Erna und Gerd bei uns, die älteren Nachbarn. Sie ist eine weltoffene, charmante, weißhaarige Frau, liebenswert und gastfreundlich, versteht sich mit Cleo sehr gut. Er zeigt mir auf der Karte, dass in der Nähe des Stjönsees (Steinsee) sein Vater gewohnt hat. Gegen 22 Uhr ruft Cleo bei Diana und Thomacz an, sie möchten herüberkommen. Auch die Familie von Johannes, unsere deutschen Nachbarn, ist kurz bei uns. Wir tanzen nach Herzenslust bis in den schwedischen Morgen. Wir fühlen uns frei und glücklich wie noch nie. Habe ich nicht die für mich tollste Frau? Beste Geliebte und guter Kamerad? Haben wir Sorgen? Gibt es Termine? Müssen wir etwa noch die hohe deutsche Miete bezahlen? Haben wir nicht sehr schnell neue schwedische Bekannte gefunden? Winken uns nicht etwa interessante Jahre? Im Haus, in den endlosen Wäldern, an Seen, in der Hafenstadt Kalmar und anderswo?


Nach Neujahr 1997. Wir schnallen vor der Türe die Skier an. Plötzlich entdeckt Cleo im Schnee einen Flaschenhals, zieht eine noch halbvolle „Korn“ heraus, hält sie fragend in die Höhe. Ich hatte die Flasche in der Silvesternacht kalt gestellt und dann glatt vergessen. So tun sich nichtsahnend Reserven auf. Wir jubeln.



Seite 389:


Am „Ortsrand“ Berlin


Pünktlich zu Cleos Geburtstag treffen wir, von Schweden kommend, mit unserem Skoda in Schöneiche bei Berlin ein. Große Überraschung: Unsere Kinder haben nicht nur unsere neue Wohnung gemalert, sondern auch Helfer mitgebracht, die Möbel in den zweiten Stock dieser hübschen Drei-Zimmer-Wohnung zu tragen. Großartig fühlen wir uns. Der wievielte Umzug ist es für uns? Leider kein Sinn dafür, nachzuzählen...


Seite 447:

Innerlich gesteht er sich ein, ein Träumer zu sein. So, wie Fjodor Dostojewski (1821-1881) seinen Helden in seinem Roman „Der Traum eines lächerlichen Menschen“ beschreibt? Dem russischen Autor ging es um die unermüdliche Suche nach „Erneuerung des untergegangenen Menschen“.

Nun aber stürzen die Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg ins Hirn. Soll das nach der Befreiung vom Faschismus eine Erneuerung des Menschen sein? Es ist zweifelsohne ein Rückfall in die kriegerische Barbarei, diese Tragödie in der Ukraine.

Im Klappentext des Buches von Dostojewski heißt es: Es sei die Enttäuschung „über die Ergebnisse der bürgerlichen Revolutionen Westeuropas und über das Scheitern der utopischen sozialistischen Versuche, die Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft zu überwinden...“

Ergibt sich die Frage: Kann der „lächerliche Mensch“ auch nach diesem Rückfall wieder zum Propheten eines humanistischen Menschheitsideals werden, gänzlich ohne Kriege?





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