Entnommen: https://www.jungewelt.de/artikel/402169.junge-welt-und-verfassungsschutz-doppelte-standards.html
Doppelte
Standards
»Erwiesen
verfassungsfeindlich«. Die Bundesregierung antwortet auf eine kleine
Anfrage der Fraktion Die Linke zu »presse- und
wettbewerbsrechtlichen Behinderungen durch Nennung der Tageszeitung
junge Welt im Verfassungsschutzbericht«. Redaktionell kommentierte
Dokumentation
Seit 2004 beobachtet der deutsche Inlandsgeheimdienst
die Tageszeitung junge Welt. Seither wird das Blatt in den
Jahresberichten des Bundesamtes für Verfassungsschutz als einzige
Tageszeitung mit einem eigenen Eintrag bedacht. Auf die nachteiligen,
nicht zuletzt wettbewerbsrechtlichen Folgen dieser regelmäßigen
Nennung haben Redaktion und Verlag in einem offenen Brief an die
Fraktionen des Bundestages hingewiesen und sie um eine Stellungnahme
gebeten. Die Fraktion Die Linke hat daraufhin mit Datum vom 29. März
eine kleine Anfrage an die Bundesregierung gestellt (veröffentlicht
auf der Website des Bundestages am 23. April mit der
Drucksachennummer 19/28956). Darin wird um Auskunft vor allem zu
folgenden Fragen gebeten: Warum wird die junge Welt im
Verfassungsschutzbericht als »verfassungsfeindlich« eingestuft?
Warum wird sie als »extremistische Gruppierung« eingestuft?
Inwieweit und unter welchen Voraussetzungen rechtfertigt ein
marxistisches Selbstverständnis einer Publikation deren Überwachung
durch den Verfassungsschutz und ihre Nennung als linksextremistische
Bestrebungen im Verfassungsschutzbericht? Darf eine staatliche
Behörde die politische Haltung einer Tageszeitung bewerten und so
Einfluss auf deren Geschäftstätigkeit nehmen?
Die zuständige
Behörde, das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat,
antwortete am 5. Mai in Person des Parlamentarischen Staatssekretärs
Günter Krings. Die erteilten Antworten sind mit Blick auf das von
der Bundesregierung präsentierte Verständnis von Meinungs-, Presse-
und Gewerbefreiheit sehr aufschlussreich.
»Gesichert
extremistisch«
Auf die Frage, warum junge Welt, Verlag 8. Mai und
Genossenschaft im Verfassungsschutzbericht genannt werden, antwortet
die Bundesregierung, sie »verfolgen Bestrebungen gegen die
freiheitliche demokratische Grundordnung« bzw. »gesichert
extremistische Bestrebungen«. Dieser Einstufung liegen die folgenden
»Erwägungen« zugrunde: »Bei der jW handelt es sich um eine
eindeutig kommunistisch ausgerichtete Tageszeitung. Ihre marxistische
Grundüberzeugung enthält als wesentliches Ziel, die freiheitliche
Demokratie durch eine sozialistische/kommunistische
Gesellschaftsordnung zu ersetzen.« Für die Bundesregierung ist der
Marxismus ein generelles Problem: »Revolutionäre marxistische
Grundüberzeugungen basieren auf verschiedenen Aspekten, die sich
gegen Grundprinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung
richten.«
Welche Aspekte richten sich gegen welche
Grundprinzipien? Auskunft der Bundesregierung: »Beispielsweise
widerspricht die Aufteilung einer Gesellschaft nach dem Merkmal der
produktionsorientierten Klassenzugehörigkeit der Garantie der
Menschenwürde. Menschen dürfen nicht zum ›bloßen Objekt‹
degradiert oder einem Kollektiv untergeordnet werden, sondern der
einzelne ist stets als grundsätzlich frei zu behandeln.«
Abgesehen
davon, dass die Bundesregierung hier jeden Nachweis schuldig bleibt,
wann und auf welche Weise die junge Welt Menschen zum »›bloßen
Objekt‹ degradiert« haben soll, ist das, gelinde gesagt, eine
gewagte Argumentation: Nach Ansicht der Bundesregierung verstößt
offenbar schon die Feststellung, dass wir in einer
Klassengesellschaft leben, gegen die »freiheitliche demokratische
Grundordnung«. Gemäß dieser Logik träte jeder Soziologe, der die
Position der Menschen innerhalb der Gesellschaft nach objektiven
Kriterien (z. B. die Stellung im Produktionsprozess) zu ordnen
versucht, die Menschenwürde mit Füßen. Und wenn die Existenz von
Klassen gegen die grundgesetzliche Garantie der Menschenwürde
verstößt, dann wäre das Eintreten für die klassenlose
Gesellschaft, das der jungen Welt an anderer Stelle von der
Bundesregierung doch gerade vorgeworfen wird, ganz im Sinne des
Grundgesetzes.
»Die marxistische Ausrichtung der jW« sieht
die Bundesregierung zudem dadurch belegt, »dass die Zeitung sich mit
Ideologien von Klassikern des Marxismus-Leninismus als Grundlage für
ihre eigenen Bestrebungen befasst« und »positiv Bezug« nimmt »auf
die kommunistischen Vordenker (vor allem Wladimir I. Lenin, Rosa
Luxemburg, Karl Liebknecht, Karl Marx und Friedrich
Engels).«
Verdächtig macht sich junge Welt nach Auffassung
der Bundesregierung auch deshalb, weil ihre »Themenauswahl und
Intensität der Berichterstattung« auf die »Darstellung ›linker‹
und linksextremistischer Politikvorstellungen« zielten und sich »am
Selbstverständnis der jW als marxistische Tageszeitung«
orientierten. Die Schlussfolgerung: »Demzufolge spiegelt die jW auch
kein breites Spektrum von verschiedenen Meinungen und Ansichten
wider; Gegenstimmen und konträre Meinungen sind in der jW eher
selten vertreten. Die Zeitung verbreitet ihre eigene subjektive
Wahrheit und will insofern ›Gegenöffentlichkeit‹ schaffen.« Der
schwerwiegende Vorwurf: »Die Auswahl der Artikel und
Meinungsäußerungen lässt eine bestimmte inhaltliche Linie
erkennen.«
Allen Ernstes gerät hier zum Problem, das die
Beobachtung durch den Verfassungsschutz rechtfertigt, dass eine
Tageszeitung eine »bestimmte inhaltliche Linie erkennen« lasse und
kein »breites Spektrum von verschiedenen Meinungen und Ansichten«
widerspiegele. Hat man je den Vorwurf vernommen, dass sich die FAZ in
ihrem Wirtschaftsteil immerzu auf Vordenker des Neoliberalismus
beruft und kaum je auf marxistische Ökonomen? Kommt hinzu, dass die
tatsächliche Breite linker Anschauungen, die in jW durch Artikel,
Interviews, Kommentare zu finden ist (von linken Sozialdemokraten und
Linkspartei über DKP bis Anarchisten, Pazifisten, Humanisten,
nationalen Befreiungsbewegungen), aus Sicht der Bundesregierung alles
das gleiche ist. Da gibt es nur den einen monolithischen, homogenen
»Linksextremismus« ohne jegliche Abstufungen. In der Nacht sind
alle Katzen grau.
Die argumentative Logik der Bundesregierung
ist bestechend: Die junge Welt ist verfassungsfeindlich, weil sie
marxistisch ist. Der Marxismus ist ein Verstoß gegen die
»freiheitlich demokratische Grundordnung«, weil er von einer in
Klassen gespaltenen Gesellschaft ausgeht, und eine solche Annahme
verstößt gegen die Menschenwürde. »Marxisten«, heißt es in der
Antwort der Bundesregierung, »haben ein vitales Interesse daran, die
Meinungsbildung der Bevölkerung im Sinne der eigenen ideologischen
Leitsätze zu fördern, da ein entsprechendes Bewusstsein
grundlegende Voraussetzung für die Entwicklung des revolutionären
Prozesses, für die ›Formierung des Widerstands‹, ist.« Der
erste Teil des Satzes ist eine Binse. Alle politischen
Organisationen, Gruppen und Strömungen haben ein Interesse daran,
»die Meinungsbildung der Bevölkerung« zu beeinflussen. Doch die
hier präsentierte Auffassung riecht nach dem Antikommunismus der
bleiernen Adenauer-Ära, und vor allem greift sie weit über den
Kasus junge Welt hinaus. Hiermit geraten alle Organisationen,
Publikationen etc., die sich auf die eine oder andere Weise auf den
Marxismus berufen, unter einen drohenden Generalverdacht der
Bundesregierung.
»Ausdrücklich
aktionsorientiert«
Nicht nur die inhaltliche Ausrichtung der Zeitung
rechtfertigt nach Einschätzung der Bundesregierung ihre Beobachtung
durch den Verfassungsschutz, sondern auch der Umstand, dass sie auch
für »Aktionen mobilisieren und den Widerstand formieren« wolle:
»Die jW informiert nicht nur über Aktivitäten des
linksextremistischen Spektrums, sondern sie mobilisiert auch dafür,
indem sie gemeinsam mit anderen Linksextremisten Veranstaltungen
durchführt, sich an Aktivitäten beteiligt oder dafür wirbt. (…)
Die Zeitung bietet damit Linksextremisten nicht nur ein Forum sowie
eine Informationsplattform, sondern beteiligt sich selbst aktiv
unterstützend an zahlreichen Aktivitäten.« Der Nachweis: »Erstmals
bekannte sich die jW 2018 ausdrücklich dazu, dass sie neben ihrer
primären journalistischen Arbeit auch ausdrücklich
aktionsorientiert handeln will.« (Immerhin wird hier die »primäre
journalistische Arbeit« anerkannt.) Was meinen die Antwortgeber
damit? Sie berufen sich auf eine Aktionsseite 16 der jW vom 22.
September 2018. Darin geht es jedoch unmissverständlich um die
Verteilung von Zeitungsexemplaren auf Großveranstaltungen – also
um Marketing.
Zur inkriminierten Aktionsorientierung zählt
die Bundesregierung auch die von junge Welt jährlich veranstaltete
»Internationale Rosa-Luxemburg-Konferenz«, »an der sich
überwiegend Linksextremisten aus dem In- und Ausland beteiligen«
bzw. die »von zahlreichen linksextremistischen Organisationen und
Publikationen unterstützt wird«. Die weitere »Beantwortung zu
etwaigen dem linksextremistisch oder linksextremistisch beeinflussten
Spektrum zugeordneten Personen« könne »aus Gründen des
Staatswohls nicht erfolgen«.
»Unkritische
Darstellung von Gewalt«
Im Verfassungsschutzbericht des Jahres 2019 stand zu
lesen, die »junge Welt bekennt sich (…) nicht ausdrücklich zur
Gewaltfreiheit. Vielmehr bietet sie immer wieder eine öffentliche
Plattform für Personen, die politisch motivierte Straftaten
gutheißen«. Die Bundesregierung bestätigt in ihrer Antwort auf die
kleine Anfrage diese Behauptung: »Die jW veröffentlicht regelmäßig
Beiträge, in denen das Thema Gewalt als Mittel im politischen Kampf
thematisiert wird. Wiederholt finden sich Rechtfertigungen der
Anwendung von Gewalt oder zumindest unkritische Darstellungen.
Personen, die politisch motivierte Straftaten befürworten, erhalten
eine öffentliche Plattform.« Zum Beispiel gebe es Interviews und
Beiträge von Vertretern gewaltbereiter Gruppierungen (ehemaligen
Mitgliedern der RAF, kolumbianischen Guerillakommandanten). Die
Schlussfolgerung: »Insofern erweckt die jW nachhaltig den Eindruck,
eine mögliche Gewaltanwendung durch solche Personen oder
Gruppierungen zu tolerieren. Diesem so vermittelten Eindruck tritt
sie weder durch eine deutliche Distanzierung noch durch ein
Bekenntnis zur Gewaltfreiheit entgegen.« Damit werden an die junge
Welt Extrastandards angelegt. Es gibt wohl kaum eine Zeitung, die
sich explizit zur Gewaltfreiheit bekennt – schon weil das nicht
Aufgabe einer Tageszeitung ist, die nämlich informiert und nicht
Steine schmeißt oder schießt. Von keiner bürgerlichen Zeitung wird
etwa verlangt, dass sie sich von steineschmeißenden Hongkonger
Demonstranten oder bewaffneten syrischen »Rebellen« oder gar vom
NATO-Sprecher distanziert, der im Zeitungsinterview für den Krieg
plädiert.
Kommt hinzu, dass Beiträge in jW darauf abzielten,
»Terrororganisationen als ›Befreiungsbewegungen‹ zu
verharmlosen, um Gewalt als legitimes Mittel darzustellen«. Die
Bezeichnung »Befreiungsbewegungen« sei »mithin nicht objektiv,
sondern tendenziös«. Welche Organisationen wann so bezeichnet
wurden, wird nicht erwähnt. Offenbar sucht die Bundesregierung unter
Androhung der Nennung im Bericht des Verfassungsschutzes die
Übernahme ihrer eigenen Sichtweise auf bewaffnete
Widerstandsbewegungen im Ausland zu erzwingen. Zeitungen wie junge
Welt sollen angehalten werden, sich diese Wertung zu eigen zu machen,
da sie ansonsten als extremistisch gebrandmarkt werden – mit allen
sich daraus ergebenden negativen Konsequenzen.
Zusätzliches
Indiz für die »extremistischen Bestrebungen« der Zeitung ist nach
Auffassung der Bundesregierung die »Art der unkritischen Solidarität
mit sozialistischen Ländern autoritärer bzw. diktatorischer
Prägung«. In ihrer »fundamentalen Kapitalismuskritik« lehne jW
die politische und gesellschaftliche Ordnung der Bundesrepublik
»grundsätzlich« ab, »demgegenüber« allerdings »werden
sozialistische Staatsordnungen, beispielsweise von Kuba,
verherrlichend dargestellt und als politisch und moralisch
überlegen«.
»Linksextremistisches
Spektrum«
Auf die Frage, wer genau der verfassungsfeindlichen
Gruppierung in Form von junge Welt, Verlag 8. Mai und Genossenschaft
LPG angehört (Redakteure, Genossenschaftsmitglieder, Abonnenten?),
bleibt die Bundesregierung in ihrer Antwort vage: »Für einen
Personenzusammenschluss (gemeint ist die junge Welt als
verfassungsfeindliches Konstrukt) handelt (und ist damit
Verfassungsfeind)« laut Verfassungsschutzgesetz, »wer ihn in seinen
Bestrebungen nachdrücklich unterstützt. Eine Zurechnung erfolgt
daher nicht abstrakt anhand der Eigenschaft als Redakteur,
Mitarbeiter, Genossenschaftsmitglied, Abonnent oder freier Autor,
sondern anhand der jeweiligen Unterstützungshandlung.« Genauer
ausgeführt wird das nicht.
Und inwieweit geht die
Bundesregierung davon aus, dass jW, Verlag und Genossenschaft sich
Positionen Dritter zu eigen machen, die Interviews geben,
Gastbeiträge oder Leserbriefe schreiben, deren Aufrufe dokumentiert
oder Bücher rezensiert werden? Die Antwort: »Die jW versteht sich
selbst ausdrücklich als marxistisch orientierte Tageszeitung, was
eine klare Zielstellung hinsichtlich der öffentlichen Meinungs- und
Bewusstseinsbildung impliziert. Marxisten beabsichtigen nicht nur zu
informieren, sondern eine ›Denkweise‹ herauszubilden, um bei den
Bevölkerungsgruppen, die sie als Unterdrückte oder Ausgebeutete
identifizieren, Verständnis und die Bereitschaft zum Widerstand
hervorzurufen.« Belegt und ergänzt wird diese Einschätzung
zusätzlich dadurch, dass »einzelne Redaktionsmitglieder, Stamm- und
Gastautoren dem linksextremistischen Spektrum zuzuordnen« seien,
junge Welt »hinsichtlich der Mobilisierungspolitik mit dem
linksextremistischen Spektrum vernetzt« sei, sowie durch »die in
verschiedenen Artikeln verbreiteten linksextremistischen Positionen«.
Wiederum wird indirekt verlangt, was bei anderen Zeitungen kein
Maßstab sein dürfte: »Aufgrund der redaktionellen
Auswahlentscheidung in Bezug auf die Autoren und die veröffentlichten
Artikel muss sich die jW bzw. deren Redaktion diese Inhalte zurechnen
lassen – zumal sich die Zeitung nicht ausdrücklich von diesen
Inhalten distanziert.«
»Den weiteren
Nährboden entziehen«
Die Fraktion die Linke wollte in ihrer kleinen
Anfrage von der Bundesregierung wissen, ob ihr bewusst sei, dass die
Nennung im Verfassungsschutzbericht für ein Unternehmen, einen
Verlag, eine Zeitung zu wettbewerbsrechtlichen Behinderungen und
Einschränkungen der Gewerbefreiheit führen kann und inwieweit dies
zulässig ist. Es steht also die Frage im Raum, ob eine staatliche
Behörde die politische Haltung einer Zeitung bewerten und so gezielt
Einfluss auf deren Geschäftstätigkeit nehmen darf. Die
Bundesregierung findet: eindeutig ja! Die Nennung diene dem Zweck,
»Verfassungsschutz durch Aufklärung der Öffentlichkeit zu
betreiben«. Und kurz darauf: »Stuft das BfV einen
Personenzusammenschluss als gesichert extremistische Bestrebung ein
und entfaltet diese für einen nicht unerheblichen Teil der
Bevölkerung Relevanz und damit eine Wirkmächtigkeit, ist die
Öffentlichkeit hierüber zu informieren.« Diese Relevanz und
Wirkmächtigkeit hatte die Bundesregierung der jungen Welt zuvor
bereits attestiert: »Durch eine der ideologischen Agenda
entsprechende Auswahl der Themen und die einseitige Berichterstattung
wirkt die jW als Multiplikator von linksextremistischen Positionen.
Mit einer nach eigenen Angaben aktuellen Druckauflage von 23.400
Exemplaren (samstags 27.000 Exemplare) erreicht die jW einen großen
Adressatenkreis, in dem sie ihre verfassungsfeindlichen Positionen
verbreiten kann.«
Potentiell negative wirtschaftliche
Konsequenzen werden unumwunden eingeräumt, die
wettbewerbsrechtlichen Behinderungen sind letztlich Absicht:
»Mögliche Folgen für die hiervon betroffenen extremistischen
Personenzusammenschlüsse oder Einzelpersonen hatte der Gesetzgeber
dabei im Blick. Es ist gerade das Ziel dieser Norm, die
Öffentlichkeit über verfassungsfeindliche Bestrebungen zu
informieren, um diesen damit den weiteren Nährboden entziehen zu
können.« Indem ein demokratisch nicht kontrollierter Geheimdienst
einer Zeitung (oder einer sonstigen Gruppierung) ohne Gerichtsurteil
den Stempel »Extremist« verpasst, wird sie zur gesellschaftlichen
Ächtung freigegeben.
Kein »Markt der
Meinungen«
Im Jahr 2005 urteilte das Bundesverfassungsgericht,
dass die Nennung der weit rechtsstehenden Wochenzeitung Junge
Freiheit im Verfassungsschutzbericht die Zeitung in ihrem Grundrecht
auf Pressefreiheit aus Artikel 5 Absatz 1 Satz 2 Grundgesetz
verletzte, denn dieses Grundrecht sichere die Freiheit der
Herstellung und Verbreitung von Druckerzeugnissen und damit das
Kommunikationsmedium Presse. Durch den Verfassungsschutzbericht würde
die Zeitung in ihren Wirkungsmöglichkeiten nachteilig beeinflusst.
Potentielle Leser könnten so davon abgehalten werden, die Zeitung zu
erwerben und zu lesen. Zudem sei es nicht unwahrscheinlich, dass etwa
Inserenten, Journalisten oder Leserbriefschreiber die Erwähnung im
Verfassungsschutzbericht zum Anlass nehmen, sich von der Zeitung
abzuwenden oder diese zu boykottieren. »Eine solche mittelbare
Wirkung der Verfassungsschutzberichte kommt einem Eingriff in das
Kommunikationsgrundrecht gleich«, so das Gericht damals.
Die
Bundesregierung vertritt die Auffassung, das Urteil sei nicht auf die
junge Welt übertragbar. Die beiden Sachverhalte unterschieden sich
dahingehend, dass die Junge Freiheit nur als »rechtsextremer
Verdachtsfall« durch den Verfassungsschutz in Nordrhein-Westfalen
eingestuft worden sei, während die junge Welt aufgrund ihrer
»erwiesenen Verfassungsfeindlichkeit als gesichert extremistische
Bestrebung« im Verfassungsschutzbericht des Bundes genannt werde.
Die Beobachtung durch den Inlandsgeheimdienst stütze sich »gerade
nicht allein auf die in der jungen Welt erscheinenden Artikel,
sondern vor allem auch auf ihr verfassungsfeindliches
Selbstverständnis sowie die Beteiligung bzw. Autorenschaft von
extremistischen Einzelpersonen, die für den Personenzusammenschluss
handeln.« Bleibt anzumerken, dass die Frage, ob ein Verdachtsfall
vorliegt oder das Prädikat »erwiesen extremistisch« ausgestellt
wurde, im Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Jungen Freiheit
keine entscheidende Rolle spielte.
Der extrem rechten Jungen Freiheit wurde in dem
Urteil zugestanden, als »Markt der Meinungen« ein Spektrum von
rechtskonservativ bis völkisch-faschistisch abzubilden; diese
Auffassungen könnten daher nicht alle der Redaktion untergeschoben
werden, auch wenn diese sich nicht davon distanziere. Genau das will
die Bundesregierung der jungen Welt nicht einräumen: »Sie versteht
sich gerade nicht als ›Markt der Meinungen‹, sondern die Auswahl
der Artikel und Meinungsäußerungen lässt eine bestimmte
inhaltliche Linie linksextremistischer Natur erkennen«, heißt es
gleich an zwei Stellen. Alle in der Zeitung vertretenen Auffassungen
werden unter den Oberbegriff »Marxismus« bzw. »Linksextremismus«
subsumiert. Wieder einmal das Messen mit zweierlei Maß.
Vorbereitung
zur Gesinnungsjustiz
Die Antwort der Bundesregierung sollte wachrütteln.
Sie vertritt darin eine Position, den Marxismus pauschal und so
eindeutig unter Generalverdacht zu stellen, wie das in der Geschichte
der Bundesrepublik noch nicht vorgekommen ist. Die dort präsentierte
Haltung könnte dereinst als Material für eine Gesinnungsjustiz
dienen, die nicht nur die junge Welt betreffen würde, sondern gleich
alle Publikationen und Organisationen, die sich, auf welche Weise
auch immer, auf den Marxismus berufen. An die junge Welt als linke
Zeitung werden von der Bundesregierung andere Maßstäbe angelegt als
an bürgerliche, religiöse, rechtsextreme etc. Medien, was die
Distanzierung von Gewalt oder von Auffassungen ihrer Autoren und
Interviewpartner angeht.
Die Bundesregierung und ihr
Geheimdienst verdächtigen gleich alle, Verfassungsfeinde zu sein:
Die Mitarbeiter von Verlag und Redaktion der jungen Welt, die
Genossenschaftsmitglieder, Besucher und Gäste der
Rosa-Luxemburg-Konferenz, die Autoren der Zeitung und selbst die
Leserinnen und Leser, die Abonnentinnen und Abonnenten. Denn wer die
junge Welt als verfassungsfeindliches Konstrukt in ihren Bestrebungen
nachdrücklich unterstützt, macht sich selbst zum Verfassungsfeind:
Die Zurechnung erfolge dabei nicht abstrakt, sondern konkret anhand
der jeweiligen Unterstützungshandlung des Redakteurs, des
Mitarbeiters, des Genossenschaftsmitglieds, des Lesers, des
Unterstützers, des Abonnenten oder des freien Autors. Die Antworten
der Bundesregierung auf die kleine Anfrage der Partei Die Linke
demonstrieren eindrucksvoll, was die Bundesregierung tatsächlich von
Presse- und Meinungsfreiheit hält.
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