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Nord
Stream 2 – Musterbeispiel für die mangelnde deutsche Souveränität
Wie die Bevölkerung hinters Licht geführt wird und der Weiterbau der Ostseepipeline doch noch verhindert werden soll.
Von Wolfgang Bittner
Dass sich deutsche
Politiker für die Interessen der USA engagieren, ist ein offenes
Geheimnis. Besonders augenfällig wird es in der Auseinandersetzung
um die in Kooperation mit Russland im Bau befindliche Pipeline Nord
Stream 2, die die USA mit allen Mitteln zu verhindern suchen. So fand
der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Bundestages Norbert
Röttgen (CDU), der auch Vorstandsmitglied der Atlantik-Brücke ist,
es „richtig, das Gut der europäischen Einheit und
Handlungsfähigkeit über die Solidarität mit Deutschland zu
stellen.“[1] Sogleich trat ihm der Grünen-Europapolitiker Reinhard
Bütikofer[2], u.a. Mitglied des Aspen Instituts, zur Seite und
bezeichnete das Beharren der Bundesregierung als „verbohrtes
Festhalten“ an dem Projekt.[3]
Das entsprach den Vorgaben
aus Washington, vertreten durch den US-Botschafter Richard
Grenell,[4] der zuvor mehrmals mit anmaßenden Äußerungen im Stile
eines Satrapen aufgefallen war.[5] Grenell hatte von einem „dreisten
Versuch der russischen Regierung, den Würgegriff zu verstärken“
gesprochen und die deutsche Regierung darauf hingewiesen, „dass die
wachsende russische Aggression eine Dynamik hat, die nicht mit dem
Kauf zusätzlichen Gases belohnt werden sollte.“[6] Im Januar 2019
hatte Grenell im Einvernehmen mit US-Präsident Donald Trump offen
mit Sanktionen gegen die am Pipelinebau beteiligten Unternehmen
gedroht.[7]
Daraufhin hatte die Schweizer Firma Allseas, die
mit einem Spezialschiff an der Verlegung der Rohre in der Ostsee
beteiligt war, ihre Arbeit eingestellt. Auch der italienische Konzern
Saipem gab auf, obwohl bereits etwa 2.300 der 2.400 Kilometer langen
Gasleitung verlegt waren. Beiden Unternehmen war mit einem Ausschluss
von Aufträgen für alle Projekte, die unter die Gerichtsbarkeit der
USA fallen, gedroht worden sowie mit dem „Einfrieren“ sämtlicher
Vermögenswerte weltweit. Des Weiteren drohte Anteilseignern und
Mitarbeitern der beteiligten Unternehmen ebenfalls der Zugriff auf
ihre Konten und Vermögenswerte weltweit sowie ein Einreiseverbot in
die USA.
Die Verschärfung der Lage
Wie dreist
und anmaßend sich Vertreter der USA im Umgang mit (theoretisch)
souveränen Staaten verhalten, wurde erneut Ende Mai 2020 deutlich,
als Botschafter Grenell seine erpresserischen Drohungen gegen
Deutschland wiederholte und die Bundesregierung aufforderte, ihre
Russlandpolitik grundsätzlich zu überdenken. Zitat: „Deutschland
muss aufhören, die Bestie zu füttern, während es zugleich nicht
genug für die Nato zahlt.“[8] Zur Verhinderung der Ostseepipeline
erließ der US-Kongress am 23. Oktober 2019 sogar ein „Gesetz zum
Schutz von Europas Energiesicherheit“, das Sanktionen gegen Firmen
vorsieht, die sich am Weiterbau der Pipeline beteiligen.
Vorgesehen
sind zum Beispiel Sanktionen wegen der Bereitstellung von bestimmten
Schiffen für den Bau russischer „Energieexportpipelines“. War
das noch nicht genug, gingen die USA im Juni 2020 noch einen Schritt
weiter, um die Fertigstellung der Pipeline zu verhindern. Inzwischen
war das russische Spezialschiff Akademik Cherskiy in einer
fünfmonatigen Weltumrundung vom Nordpazifikhafen Nakhodka in den
Nord-Stream-Logistikhafen Mukran auf Rügen gebracht worden, um die
Verlegung der Rohre zu beenden. Aber jetzt drohten die USA nicht nur
den Unternehmen Allseas und Saipem, sondern allen Unternehmen und
Personen, die den Pipelinebau in irgendeiner Form unterstützen oder
beteiligte Schiffe versichern. Das betraf viele Firmen, die neben
Gazprom Beteiligungen an der Nord Stream 2 unterhalten.
Damit
demonstrierten die USA in gewohnter Weise despotisch und zutiefst
heuchlerisch ihren hegemonialen Anspruch. Festzustellen ist, dass
“the land of the free and the home of the brave“
(US-Nationalhymne) weder die Regeln des Völkerrechts einhalten noch
das „europäische Projekt“ oder den Wohlstand in der Welt
gefördert haben, wie immer wieder betont wird. Vielmehr plündern
sie seit ihrem Bestehen andere Länder aus, nötigen und erpressen
und führen Wirtschafts- und Interventionskriege. Der
US-amerikanische Ökonom und Publizist Paul Craig Roberts,
stellvertretender Finanzminister während der Regierung Reagan,
sprach von einer antidemokratischen Schurkenregierung“ und er fügte
hinzu: „Die Grenzen sind gezogen. Wenn die Menschen in Amerika
nicht zu Verstand kommen und die Kriegstreiber in Washington
hinauswerfen, ist Krieg unsere Zukunft.“[9]
Eingriffe in
deutsche innerstaatliche Angelegenheiten ohne Konsequenzen
Ziel
des völkerrechtswidrigen Vorgehens gegen den Bau der zweiten
Ostseepipeline ist unter anderem die Sicherstellung des Verkaufs von
amerikanischem Frackinggas nach Deutschland und weiteren europäischen
Staaten. Aber gegen derartige ungeheuerliche Zumutungen und Eingriffe
in die innerstaatlichen deutschen Angelegenheiten gibt es in Politik
und Medien kaum Widerstand. Anstatt die sofortige Aufhebung des
rechtswidrigen Anti-Nordstream-Gesetzes zu verlangen und den
US-Botschafter auszuweisen, verhielt sich die Bundesregierung
zögerlich.
So erklärte Bundeswirtschaftsminister Peter
Altmeier zunächst nur mit leiser Kritik, während der Coronakrise
sei es nicht dienlich, an der Eskalationsspirale zu drehen und
„weitere extraterritoriale, also völkerrechtswidrige Sanktionen
anzudrohen“. Im Juni 2020 gab es dann Protest aus Berlin, anstatt
wirksame Gegenmaßnahmen zu ergreifen, wie zum Beispiel Strafzölle
auf US-Gas zu verhängen. Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder,
Verwaltungsrats-Vorsitzender von Nord Stream 2, beklagte bei einer
Expertenanhörung im Wirtschaftsausschuss des Deutschen Bundestages
am 1. Juli 2020 ein „bewusstes Aufkündigen der transatlantischen
Partnerschaft“ durch die USA. Er forderte Gegensanktionen, worauf
ihn US-affine Abgeordnete einen Kreml-Lobbyisten nannten und die
Bildzeitung von einem „peinlichen Auftritt des Altkanzlers“
berichtete.[10]
Eine neue Ungeheuerlichkeit ereignete sich
Anfang August 2020 in der Auseinandersetzung um die im Bau
befindliche Pipeline: Drei republikanische US-Senatoren drohten der
Verwaltung des Hafens Mukran auf Rügen mit harten Konsequenzen, wenn
sie das Nord-Stream-2-Projekt weiter unterstützten. In dem Hafen
lagern die Rohre für den Weiterbau und er war auch die Basis für
die russischen Verlegeschiffe. In einem Brief schrieben die von
niemandem, außer der Öl- und Gasindustrie, dazu legitimierten
Senatoren, die Fährhafen Sassnitz GmbH zerstöre bei einer weiteren
Zusammenarbeit mit den Pipelinebetreibern „ihre künftige
finanzielle Lebensfähigkeit“.[11] Auch gegen diese Anmaßung gab
es zwar vehemente Proteste, aber dabei blieb es dann auch.
Verdeckte
Operationen und ihre Propagandisten
Nun gab es in letzter
Zeit offenbar zwei False-Flag-Operationen, Ereignisse, die
gravierende Folgen für die deutsche Politik hatten und lautstarke
Empörung sowie den Ruf nach durchgreifenden Konsequenzen in der
Innen- wie auch in der Außenpolitik zur Folge hatten. Das eine war
der „Sturm auf den Reichstag“, als sich am 29. August 2020 einige
Demonstranten abseits der großen Corona-Demonstration in Berlin auf
die Stufen des Parlamentsgebäudes setzen wollten, darunter
sogenannte Reichsbürger.[12] Das zweite war ein Anschlag auf den
russischen Oppositionspolitiker Alexej Nawalny, der am 20. August
2020 mit dem bereits bekannten Nervenkampfstoff Nowitschok vergiftet
worden sein soll.
Der dramatisierte „Sturm“ der
Reichsbürger, die ihre Demonstration am Reichstag zuvor angemeldet
hatten, beschäftigte tagelang Politik und Medien und lenkte so von
einer der größten Demonstrationen der letzten Jahre ab, die sich
mit zehntausenden Teilnehmern gegen die Maßnahmen der Regierung in
der Corona-Krise richtete. Die Reichsbürger-Aktion wurde als Teil
der Corona-Demonstration abgehandelt und deren Teilnehmer wurden
pauschal als Verschwörungstheoretiker, „Covidioten“ oder
Verfassungsfeinde diskriminiert. Demonstrationsverbote wurden
gefordert, Sanktionen gegen die Demonstranten, tausende
Kundgebungsteilnehmer hatte die Polizei eingekesselt. Auf ihre
Anliegen wurde in Politik und Medien nicht eingegangen; zugleich
ermutigten Politiker und Journalisten die Regierungskritiker in
Weißrussland und forderten für das Land einen „Regimewechsel“.
Die
tagelang andauernde Empörungswelle der Politiker und der
Staatsmedien verlagerte sich dann abrupt, als Bundeskanzlerin Angela
Merkel am 2. September 2020 verkündete, es lägen
Untersuchungsergebnisse eines Bundeswehrlabors vor, nach denen Alexej
Nawalny „zweifelsfrei“ vergiftet worden sei, und zwar mit einem
Nervengift aus der Nowitschok-Gruppe. Man werde mit den Partnern in
der NATO und in der EU über eine „angemessene, gemeinsame Reaktion
entscheiden“, so die augenscheinlich aufgebrachte
Bundeskanzlerin.[13] Und sofort kam die Forderung auf, den Bau von
Nord Stream 2 nun endgültig abzubrechen.
Wieder trat mit
großem Bohei der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des
Bundestages, Norbert Röttgen, auf die Bühne, assistiert von dem
einschlägig bekannten EU-Politiker Reinhard Bütikofer und anderen
Agitatoren. Jetzt müsse „alles auf den Prüfstand“, forderte
Röttgen umgehend, die einzige Sprache, die Wladimir Putin verstehe,
sei „eine Sprache der Härte“.[14] Die Vollendung der
Ostseepipeline wäre nach Röttgen die „ultimative und maximale
Bestätigung für Wladimir Putin, mit genau dieser Politik
fortzufahren“. Dieses „gegen die Mehrheit der Europäer“
betriebene Projekt müsse aufgegeben werden.
Aber Röttgen
ging noch weiter: Nach seiner „Expertise“ ist „die Absicht der
russischen Spitze, nicht nur den Einzelnen zur Strecke zu bringen,
auszuschalten, zum Schweigen zu bringen, sondern … eine Botschaft
zu vermitteln. Es wird an jeden, der erwägt, Opposition zu sein,
sich zu erheben, zu demonstrieren, die Botschaft gesendet, so geht es
euch, ihr müsst wissen, es ist lebensgefährlich, sich mit dem
russischen Staat in dieser Zentralfrage, nämlich Freiheit,
Meinungsfreiheit, Demokratie anzulegen.“ Dass der Mordversuch an
Nawalny gerade jetzt passierte, sei kein Zufall, sondern „Teil der
bedingungslosen Unterstützung des Diktators Lukaschenko“. Es sei
„ein innenpolitisches Muster der Unterdrückung, … die Verletzung
auch nur eines Mindestmaßes an Zivilität in unserem Europa“, und
es sei auch das Muster der russischen Außenpolitik unter Putin.
Im
„Spiegel“ hieß es zum Fall Nawalny, Putin sei „eine
destruktive Kraft der Weltpolitik“,[15] und die
Verteidigungsministerin und CDU-Vorsitzende Annegret
Kramp-Karrenbauer bezeichnete das „System Putin“ als ein
„aggressives Regime, das seine Interessen ohne Skrupel auch mit
Mitteln der Gewalt durchzusetzen versucht und die internationalen
Verhaltensregeln immer wieder verletzt“.[16] Ähnlich feindlich
äußerten sich weitere führende Politiker der CDU, der Grünen und
der FDP; mäßigende Stimmen waren kaum zu vernehmen.
Zweifel
werden ignoriert
Der Kremlsprecher Dmitri Peskow wies die
Anschuldigungen aus Deutschland entschieden zurück und erklärte
laut der russischen Nachrichtenagentur RIA Nowosti: „Wir sind
bereit und daran interessiert, vollständig zu kooperieren und die
Informationen zu diesem Thema mit Deutschland auszutauschen.“[17]
Das wird wohl kaum helfen. In dubio pro reo gilt in den Beziehungen
zu Russland schon lange nicht mehr, und Zweifel werden ignoriert.
Zu
konstatieren ist: Die russische Regierung hatte zugestimmt, dass
Nawalny trotz der Corona-Grenzsperre zur Behandlung und Untersuchung
mit einem Privatjet nach Deutschland in die Charité gebracht wurde.
Das hätte sie wohl kaum gemacht, wenn sie eine Vergiftung angeordnet
hätte, noch dazu mit dem Nervengift Novitschok. In der Affäre um
den Doppelspion Skripal, der angeblich in London von russischen
Agenten mit Novitschok vergiftet wurde, weswegen die deutsche
Regierung sofort Diplomaten ausgewiesen hat, gibt es immer noch
keinen eindeutigen Beweis für einen Mordanschlag aus Russland. Diese
bedauerlichen Vorgänge werden in Szene gesetzt und dramatisiert,
aber die folgenden Untersuchungen bleiben ergebnislos. Wäre es
tatsächlich der russische Geheimdienst gewesen, würde sicherlich
keines der beiden Opfer mehr leben.
Wie weiter?
Es
fragt sich, ob Deutschland den Angriffen der USA auf seine
innerstaatlichen Angelegenheiten unter Assistenz der deutschen US-
und NATO-Propagandisten schutzlos ausgeliefert ist. Danach sieht es
aus, nachdem die Regierung Merkel ihren vorgeblichen Widerstand gegen
die Anfeindungen in Sachen Nord Stream 2 jetzt offenbar endgültig
aufgibt und im Gefolge der USA kriegstreiberisch Front gegen Russland
bezieht, und zwar deutlich aggressiver als bisher. Damit beginnt eine
neue Phase im Verhältnis Deutschlands zu Russland. Das ist tragisch
und zutiefst erschreckend. Das Erschreckende an dem Fall Nawalny, der
jetzt die Fertigstellung der Ostseepipeline verhindern soll, wie auch
an dem „Sturm auf den Reichstag“ ist aber auch, dass die
Politiker die Bevölkerung in einer derart primitiven Weise für dumm
verkaufen.
Der Schriftsteller und Publizist Dr. jur.
Wolfgang Bittner lebt in Göttingen. 2019 sind
von ihm der Roman „Die Heimat, der Krieg und der Goldene Westen“
sowie das Sachbuch „Der neue West-Ost-Konflikt – Inszenierung
einer Krise“ erschienen.
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