Entnommen: https://www.jungewelt.de/artikel/386096.zwei-plus-vier-vertrag-der-verschenkte-staat.html
ZWEI-PLUS-VIER-VERTRAG
Der
verschenkte Staat
Hinter
dem Rücken ihrer diplomatischen Vertreter wurde die DDR von
Gorbatschow preisgegeben. Über das Zustandekommen des
Zwei-plus-vier-Vertrags
Von Eberhard Czichon und
Heinz Marohn
In der Nacht zum Dienstag ist Eberhard
Czichon im Alter von 90 Jahren gestorben. Der marxistische
Historiker und jW-Autor war lange Zeit an der Akademie der
Wissenschaften der DDR tätig. Nach dem Ende des ersten
sozialistischen Staates auf deutschem Boden schrieb er gemeinsam mit
seinem Freund und Kollegen Heinz Marohn das Buch »Das Geschenk. Die
DDR im Perestroika-Ausverkauf« (erschienen 1999 im Papyrossa-Verlag,
2. Auflage 2009). Wir danken dem Verlag für die freundliche
Genehmigung zum Abdruck eines redaktionell gekürzten Abschnittes
über den Zwei-plus-vier-Vertrag. (jW)
Am 12. Februar 1990
trafen sich in Ottawa zum ersten und zum letzten Mal die 23
Außenminister der NATO-Staaten mit denen des Warschauer Vertrages,
um einem Vorschlag von US-Präsidenten George Bush folgend, über
einen »Offenen Himmel« (gemeint ist der »Open Skies«-Vertrag, der
das Überfliegen der Territorien der Vertragspartner erlaubt; jW) und
andere Fragen einer internationalen Rüstungskontrolle zu beraten. Im
Mittelpunkt dieser Zusammenkunft sollte jedoch die »deutsche Frage«
stehen. Die generelle Zustimmung Michail Gorbatschows (ab 1985
Generalsekretär des Zentralkomitees der KPdSU und ab März 1990
Staatspräsident der UdSSR; jW) zur Liquidierung der DDR und zur
Herstellung der deutschen Einheit, wollten der US-Außenminister
James Baker und der BRD-Außenminister Hans-Dietrich Genscher
schnellstens als völkerrechtliches Abkommen abgeschlossen wissen.
Hier in Ottawa sollte die Chance dazu genutzt werden.
Nachdem
der Bundesaußenminister am Vormittag des 12. Februar 1990 in seiner
Rede vor den Außenministern ausführlich und salbungsvoll ein
»europäisches Deutschland« beschrieben hatte, das die Grenzen von
1945 achte und sich von einem »deutschen Europa« als Ergebnis einer
deutschen Vereinigung distanziere¹, begannen nach dem Mittagessen
hinter dem Rücken des DDR-Vertreters Oskar Fischer emsige Gespräche
mit dem sowjetischen Außenminister Eduard Schewardnadse. Jetzt ging
es darum, nach der Akzeptanz der Zwei-plus-vier-Verhandlungsformel
durch Gorbatschow auch eine offizielle international verbindliche
Zustimmung zu ihr durch die UdSSR zu erlangen und dies in einer
Übereinkunft festzuschreiben. Erst damit konnten, so wurde von Baker
und Genscher argumentiert, »die (Sechsmächte)Verhandlungen über
die vorbereitenden außenpolitischen Rahmenbedingungen der
›deutsch-deutschen Vereinigung‹ in Gang gesetzt werden«. Die
Delegation der BRD war fest entschlossen, berichtet Frank Elbe
(ehemaliger Bürochef Genschers; jW), in Ottawa eine Einigung über
einen internationalen Verhandlungsmodus zur Herstellung der Einheit
Deutschlands herbeizuführen und die getroffenen Vereinbarungen
darüber öffentlich zu machen.² Es kam den US-amerikanischen wie
den bundesdeutschen Diplomaten in Ottawa vor allem darauf an, dass
die bisher erzielten Verhandlungsergebnisse völkerrechtlich
»unumkehrbar« festgeschrieben wurden. In Bonn wie in Washington
herrschte noch immer die Furcht, dass Gorbatschow vor Abschluss des
ganzen Prozesses doch noch von seinen politischen Gegnern in der
UdSSR entmachtet werden könnte und diese seine persönlichen
deutschlandpolitischen Zusagen annullieren würden.
Warum
nicht »vier plus zwei«?
Warum aber legten die
US-amerikanischen und bundesdeutschen Diplomaten ein so großes
Gewicht auf den feinen Unterschied einer Zwei-plus-vier-Formel
gegenüber Vier-plus-zwei, auf den Gorbatschow so gar nicht reagiert
hatte? Vorderhand, so wurde offiziell argumentiert, ginge es darum,
wer zur Konferenz über die Rahmenbedingungen der »deutschen
Vereinigung« einladen würde, in Wirklichkeit aber sollte – nach
Genschers und Bakers Kalkül – ein Primat der deutsch-deutschen
Verhandlungen im Rahmen der Sechsmächteverhandlungen begründet
werden, um der sowjetischen Führung jede reale Einflussnahme auf die
Gestaltung des deutsch-deutschen »Einigungsprozesses« aus der Hand
zu nehmen.
Es ging darum, ob die Vereinigung der beiden
deutschen Staaten deren innenpolitische Angelegenheit bleiben oder ob
die ehemaligen Siegermächte das Recht haben würden, in den
Einigungsprozess einzugreifen, bzw. ihn zu gestalten. Letzteres aber
hätte auf der diplomatischen Bühne eine Vier-plus-zwei-Variante
bedeutet. Im Bundeskanzleramt und im Bonner Außenministerium waren
die diplomatischen Feinheiten zur Umstellung des Vier-plus-zwei-Modus
auf eine Zwei-plus-vier-Regelung rechtzeitig ausgearbeitet worden,
und Baker hatte die Vorteile einer solchen Taktik, die Genscher ihm
vorgeschlagen hatte, sehr schnell erkannt. Die in der
Bush-Administration aufgetretenen Irritationen haben sogar
möglicherweise geholfen, die Gruppe um Gorbatschow über die
eigentliche Strategie der USA zu täuschen. Jedenfalls gelang es an
diesem Nachmittag in Ottawa dem US-amerikanischen Außenminister und
seinem Berater Unterstaatssekretär Robert Zoellick, dass sich der
französische Außenminister Roland Dumas (der zunächst die
Vier-plus-zwei-Formel favorisierte) und sein britischer Kollege
Douglas Hurd im Bewusstsein einer »westlichen Solidarität« mit dem
Zwei-plus-vier-Mechanismus einverstanden erklärten.³ Der anwesende
DDR-Außenminister war über die Vorgänge bis zu diesem Zeitpunkt
von seinem sowjetischen Kollegen überhaupt nicht informiert
worden.
Am folgenden Vormittag trafen sich Baker, Hurd und
Dumas mit Genscher zu einem Frühstück in der bundesdeutschen
Residenz. Sie vereinbarten, bei den bevorstehenden
Zwei-plus-vier-Verhandlungen keine Verzögerungen zuzulassen und sie
mit einem Treffen der politischen Direktoren der Außenministerien
der UdSSR, der BRD, der USA, Frankreichs und Großbritanniens noch
vor den Volkskammerwahlen in der DDR am 18. März 1990 sozusagen
völkerrechtlich einzuleiten. Eine offizielle Außenministerkonferenz
sollte – wie bereits anvisiert – aber erst nach diesen »freien
Wahlen« (also mit einer neuen DDR-Regierung) stattfinden.
Schewardnadse hatte von Ottawa aus nochmals mit Gorbatschow
telefoniert, und dieser wiederholte seine Zustimmung zur
Zwei-plus-vier-Formel. Wenn das eine »Unbedachtsamkeit« darstellte,
wie Walentin Falin (Berater Gorbatschows; jW) diese Haltung
interpretiert, war solche »Fahrlässigkeit« für die USA-Diplomatie
schon zu einem berechenbaren Faktor geworden.⁴
Vor
vollendeten Tatsachen
Erst nach seinem
Telefonat mit Gorbatschow informierte Schewardnadse nunmehr auch
Oskar Fischer darüber, was inzwischen hinter dessen Rücken über
die DDR vereinbart worden war. Der DDR-Außenminister wurde von
seinem sowjetischen Amtskollegen – wie Falin schreibt – nunmehr
genötigt, »an Ort und Stelle dem Druck der BRD nachzugeben« und
ebenfalls die Konstruktion »Zwei-plus-vier« zu akzeptieren.
Oskar Fischer war vollkommen isoliert und sah keine Alternative. Mit
seiner Zustimmung war das Ende der internationalen Präsenz der DDR
als Völkerrechtssubjekt und als souveräner Staat
besiegelt.
Genscher würdigte die Formelumstellung von »vier
plus zwei« auf »zwei plus vier« und ihre internationale
Anerkennung als einen Erfolg von »historischer Bedeutung« und
betonte, dass nunmehr die Termini »Vertragsgemeinschaft« und
»Konföderation« aus dem Verkehr gezogen seien. Zwar zeigten sich
die Niederländer, Italiener und Belgier verärgert darüber, dass
auch sie vor vollendete Tatsachen gestellt worden waren, doch Bakers
Mitarbeiter erinnerten sie in höflichen Worten daran, dass es sich
hierbei ausschließlich um eine Angelegenheit jener Alliierten
handle, die vertraglich festgelegte Rechte in Deutschland hätten,
und Genscher soll den italienischen Außenminister Gianni De Michelis
sogar zurechtgewiesen haben: »Bei dieser Runde gehören Sie nicht zu
den Mitspielern.«⁵ Danach wurde der vereinbarte Text des Mandats
der sechs Außenminister für ihre weiteren Verhandlungen
veröffentlicht. Dieser Text enthielt nicht einmal mehr einen Hinweis
auf die Europäisierung der deutschen Vereinigung.
Hans Modrow
hatte am 13. Februar in Bonn und am 6. März 1990 in Moskau noch
einmal versucht, wenigstens eine Synchronisierung der deutschen
Vereinigung mit dem europäischen Vereinigungsprozess zu erreichen
und den Anschluss der DDR an die BRD nach Artikel 23 GG zu
verhindern. Doch in Bonn hatte auch Christa Luft (Stellvertreterin
Modrows als Ministerpräsident; jW) der Währungs- und
Wirtschaftsunion zugestimmt, sie fand sie sogar »faszinierend« und
auch »wünschenswert«, und in Moskau ging Gorbatschow auf keinen
Vorschlag des DDR-Ministerpräsidenten, auch nicht auf dessen
Anregung, noch vor den Volkskammerwahlen neue stabile
Wirtschaftsbeziehungen mit der UdSSR zu vereinbaren, die nach dem 18.
März 1990 von Bestand bleiben sollten, mehr ein. Am 5. Mai 1990
stimmte dann Schewardnadse schließlich auch noch offiziell der
»Abkopplung der äußeren von den inneren Aspekten der deutschen
Frage« zu.⁶
Die Vision vom »gesamteuropäischen Haus«
hatte zu diesem Zeitpunkt ihren politischen Zweck erfüllt. Modrow
war ebenso wie Gorbatschow diplomatisch ausgetrickst, die DDR
international abgetrieben worden. Den ökonomischen wie politischen
Eliten der Bundesrepublik war ein großer Coup gelungen, sie hatten
in Ottawa – wie Falin es bewertet – eine »Carte blanche« zur
Schaffung eines neuen deutschen Nationalstaates erhalten. Die damit
vollzogene Trennung beider Prozesse, der Restauration eines neuen
Gesamtdeutschlands und der europäischen Einigung, ermöglichte es
der deutschen Großbourgeoisie, sich aus jeder europäischen
Kontrolle zu lösen und in Europa wieder Kurs auf eine
Vormachtstellung zu nehmen. Georgi Schachnasarow, einer der
einflussreichsten außenpolitischen Berater Gorbatschows,
schreibt mit erstaunlicher politischer Naivität: Der Generalsekretär
des ZK der KPdSU hätte alles getan, damit der »geschichtlich
vorbestimmte Prozess der Vereinigung Deutschlands« vonstatten gehen
konnte.⁷
Welch ein Hohn. Die Bemühungen Gorbatschows,
die DDR zu liquidieren, unterlagen keinem Fatum, sie waren und
bleiben ein politisch hochbrisanter Deal mit dem politischen
Gegenspieler für die unbestimmte Hoffnung, dadurch eine eigene
Stabilisierung zu ermöglichen.
Hauptsache beliebt
Angesichts der
katastrophalen ökonomischen und innenpolitischen Lage der UdSSR
zeigte sich Gorbatschow, als er sich vom 30. Mai bis 3. Juni 1990 in
Washington und Camp David mit Bush zu einem erneuten Gipfeltreffen
aufhielt, nicht nur außerordentlich reizbar. Er hatte auch bereits
seine Souveränität verloren, wie das Robert Blackwill (Diplomat und
Berater von Bush; jW) »mit Entsetzen« beobachtete.⁸ Bis dahin
meinte Gorbatschow, hinsichtlich der deutschen Frage noch immer einen
politischen Trumpf in der Hand zu halten und mit ihm taktieren zu
können – eben seine offizielle Zustimmung zur NATO-Mitgliedschaft
des vereinten Deutschlands. In Washington versuchte er nun,
wenigstens dafür ein Handelsabkommen und die
Meistbegünstigungsklausel auszuhandeln. Bush und Baker lehnten erst
einmal ab und forderten neue Zugeständnisse, vor allem in der
Litauen-Krise (Litauen hatte sich im März 1990 als erste
Unionsrepublik der UdSSR für unabhängig erklärt; jW), hielten ihn
aber mit vagen Versprechungen über ein denkbares Handelsabkommen
hin. Und wieder gab Gorbatschow in der Hoffnung, doch noch Geld zu
bekommen, nach und gab für die inzwischen angelaufenen
Zwei-plus-vier-Verhandlungen erst einmal die grundsätzliche Zusage,
die DDR in die NATO zu entlassen. Über diesen »Wendepunkt« des
UdSSR-Präsidenten in der NATO-Frage war Kohl sofort telefonisch von
Bush informiert worden.⁹
Sozusagen als »Entgelt« dafür,
wurde Gorbatschows Bedürfnis »nach Bekundungen seiner
Beliebtheit« üppig entsprochen: Vier Stunden wurde er in Washington
in einem festlich geschmückten Saal vor sowjetischen und
US-amerikanischen Fernsehkameras mit Lob und Preisen
unterschiedlicher Organisationen überschüttet. Als Condoleezza Rice
im Terminplan von Gorbatschow sah, dass dieser Showdown »eingeplant«
gewesen war, sagte sie erstaunt: »Jetzt wird mir klar, dass es in
Moskau wirklich hart sein muss.«¹⁰
Am 5. Juni trafen sich
Baker und Schewardnadse anlässlich einer KSZE-Ministerkonferenz in
Kopenhagen, und der sowjetische Außenminister versuchte, für die
DDR-Mitgliedschaft in der NATO von den USA noch einmal wenigstens die
Meistbegünstigungsklausel für die UdSSR herauszuhandeln. Doch Baker
gab nicht nach, machte aber den salomonischen Vorschlag, die
»deutsche Armee« künftig zu begrenzen und die »Zukunft der
sowjetischen Truppen in Ostdeutschland« zu regeln. Auch stellte er
in Aussicht, dass sich die »NATO wandeln werde«. Nun bestätigte
Schewardnadse endgültig die Einbeziehung der DDR in die NATO.
Ebenfalls am 5. Juni war in Moskau der Politisch Beratende Ausschuss
des Warschauer Vertrages zusammengetreten und hatte nach dem Bericht
Gorbatschows über seine Washingtoner Zusammenkunft mit Bush eine
Erklärung abgegeben, sich politisch reformieren zu wollen. Ungarn
hatte sich auf der Tagung sogar dafür ausgesprochen, »dass ein
geeintes Deutschland Mitglied der NATO bleiben solle«. Lothar de
Maizière – der als neuer DDR-Ministerpräsident an der Beratung
teilnahm – berichtete umgehend nach Bonn: Es sei eine »Beerdigung
erster Klasse« gewesen, der Pakt würde sich nunmehr selbst
auflösen.¹¹ De Maizière wurde anschließend in die USA eingeladen
und am 11. Juni 1990 von Bush empfangen, der ihn in einem Schreiben
an Kohl, als einen »nachdenklichen, in Staatsgeschäften
unerfahrenen Mann« mit einem »ausgeprägten Sinn für
Verantwortung« charakterisierte.¹²
Kohl hilft nach
Gorbatschow hoffte noch
immer auf eine großzügige Entlohnung seiner Zugeständnisse, auf
Kredite von mindestens 20 Milliarden Dollar. Diese Summe hatte
Schewardnadse am 14. Mai 1990 in seinem Gespräch mit Baker genannt.
Doch Bush und Toshiki Kaifu, der japanische Ministerpräsident,
machten auf dem G-7-Gipfel in Houston Anfang Juli Bedenken geltend,
Gorbatschow soviel Geld zu geben, weil er es nicht vernünftig
einsetzen könnte. Bush wollte dafür lieber US-amerikanische
Fachleute in die UdSSR entsenden, um »die Reformen voranzubringen«.
Bundeskanzler Kohl wollte aber die deutsche Einheit im Rahmen der
NATO nicht am schnöden Mammon scheitern lassen. Er versuchte,
wenigstens 15 Milliarden DM aufzubringen. Es war ihm auch schon
Anfang Mai 1990 gelungen, einen mit Hermesbürgschaften garantierten
Kredit von fünf Milliarden DM zu bekommen, von Hilmar Kopper von der
Deutschen Bank und Wolfgang Röller von der Dresdner Bank zugesagt.
Gorbatschow nahm diesen Kredit sofort in Anspruch und lud seinen
Freund, den Bundeskanzler, nach dem 28. KPdSU-Parteitag zu einem
Besuch in die UdSSR ein.
So flog Kohl wenige Tage nach dem
Treffen in Houston »in bester Stimmung« noch einmal nach Moskau. In
einem Vieraugen- und einem Delegationsgespräch im Gästehaus des
sowjetischen Außenministeriums am 15. Juli entschied Gorbatschow »in
einem Zug das deutsche Theorem«, wie Falin des Präsidenten
Verhalten kommentiert, und traf Entscheidungen, zu denen er
staatsrechtlich nicht bevollmächtigt war. Doch Falins Vorwurf bleibt
eine moralische Bewertung, die politischen Weichen waren vor diesem
Treffen längst gestellt. Als Endpunkt, sozusagen als Highlight
seiner »neuen Deutschlandpolitik«, ließ Gorbatschow für den
nächsten Tag noch einen idyllischen Ausflug in den Kaukasus
organisieren. Im Flusstal des Selentschuk, beim malerisch gelegenen
Ort Archys bot sich an einem reißenden Bergbach eine grandiose
Szenerie: Kohl, in Strickjacke, offerierte dem sowjetischen
Präsidenten (im legeren Pullover) und Schewardnadse nochmals die
Kreditzusage und die Versicherung, die »Obergrenze« der deutschen
Truppen nach der »Vereinigung« bei 370.000 Mann
einzufrieren.
Gorbatschow war zufrieden, bedankte sich vor
allem für die Kreditbürgschaft der Bundesregierung und entließ die
DDR nun nochmals, speziell für Kohl, in die NATO. Der Bundeskanzler
musste lediglich noch einen Zuschlag für Stationierungs- und
Abzugskosten der Westgruppe der Sowjetarmee zusagen. Auf das
vertrauliche Angebot Kohls, nun auch noch jenen Personenkreis aus der
DDR-Führung zu benennen, »gegen den keine strafrechtlichen
Verfahren eingeleitet werden sollten«, erwiderte der UdSSR-Präsident
arrogant: »Die Deutschen würden schon selbst mit diesem Problem
fertig.«¹³
Das Szenario von Archys war kein »Wunder im
Kaukasus«, sondern die Schmierenkomödie eines verantwortungslosen
politischen Hasardeurs. Für Bush aber war das ein Schnäppchenkauf
aus dem Perestroika-Nachlass, dessen Ergebnis sich Kohl hier
lediglich abholen durfte. Dennoch behauptete er selbstgefällig und
legendenbildend im Public-Relations-Stil: »Wir hatten Gorbatschow
die volle und uneingeschränkte NATO-Mitgliedschaft des vereinten
Deutschland abgerungen.«¹⁴ »Das große Ziel war erreicht. (...)
Die Sensation ist perfekt«, jubelte auch Teltschik.¹⁵ Gewiss wird
an der Kaukasuslegende weiter gewoben werden, dennoch, die DDR war im
Perestroika-Ausverkauf verschleudert worden, sie wurde verschenkt.
Soweit ist Falin zuzustimmen, verschenkt wurde sie aber nicht an »die
Deutschen«, sondern an jene ökonomischen Machtträger, die – im
Besitz von Kapital – aus diesem »Geschenk« ein grandioses
Geschäft machten und damit ihre militärische Niederlage vom 8. Mai
1945 egalisieren konnten. Der Spiegel kommentierte damals treffend:
»Das Geschäft lief reibungslos« (23.7.1990).
Zwar hat Kohl
den Preis später mit einem weiteren Kredit und mit
Entschädigungszahlungen für den Rückzug der sowjetischen
Streitkräfte aufbessern müssen, um deren Höhe der Bundeskanzler
noch hart feilschte, dafür konnte er dann aber auch die DDR nach
seinem freien Ermessen und ohne internationale Vorschriften im
Zwei-plus-vier-Verfahren abwickeln. Die De-Maizière-Verwaltung
plante für das zweite Halbjahr 1990 schon einmal 400.000 Arbeitslose
im »neuen Bonner Territorium« ein.
Die rechtliche
Abwicklung
Die völkerrechtliche
Ausführung dieser Abwicklung der DDR vollzog sich im Rahmen der
inzwischen angelaufenen Außenministergespräche. Sie hatten am 5.
Mai 1990 in Bonn begonnen und wurden am 12. September 1990 in Moskau
mit der Unterzeichnung des »Vertrages über die abschließenden
Regelungen in bezug auf Deutschland«, dem sogenannten
»Zwei-plus-vier-Vertrag« sowie mit einem »Abzugs- und
Stationierungsvertrag« beendet, dem später noch ein
»Deutsch-Sowjetischer Freundschaftsvertrag« folgte. Inzwischen
hatten Wolfgang Schäuble und Günther Krause einen »Vertrag
zwischen der BRD und der DDR über die Herstellung der Einheit
Deutschlands« ausgearbeitet, der von ihnen am 31. August 1990
unterzeichnet worden war. Zuvor hatte am 23. August die Volkskammer
auf einer Sondersitzung den Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland
nach Artikel 23 GG beschlossen. Eigentlich hatte Wolfgang Ullmann
diesen Antrag schon in der zweiten Junihälfte in der Volkskammer
stellen wollen, doch offenbar wollte sich Helmut Kohl – angesichts
der Vorgaben aus Washington – die wohldosierte Regie nicht aus der
Hand nehmen lassen. Und diese sah vor, dass erst nachdem der
»Zwei-plus-vier-Vertrag« unterzeichnet war, der in seinem Artikel 7
die Vier-Mächte-Rechte aussetzte, die im Ergebnis des Zweiten
Weltkrieges von den vier Alliierten 1945 übernommen worden waren, so
dass die Vereinigung beider deutscher Staaten möglich wurde. Jede
Unvorsichtigkeit hätte die mit Mühe arrangierte Legende gestört,
dass die DDR der BRD beigetreten ist. Am 18. September 1990 ließen
Schäuble und Krause noch eine Rechtsangleichungsvereinbarung
ausarbeiten und dann wurde das komplette Vertragswerk am 20.
September vom Deutschen Bundestag und der Volkskammer der DDR
fristgemäß und eben auf der Grundlage des Artikels 7 des »Vertrages
über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland«
verabschiedet, um die Wahlen zum ersten gesamtdeutschen Bundestag am
2. Dezember 1990 zu ermöglichen.
Schachnasarow beantwortete
später in einem TV-Gespräch die Frage, ob »die Sowjetunion die DDR
im Stich gelassen, verraten« hat, so: »Wenn man von dem Standpunkt
des früheren Systems ausgeht, als es zwei Machtblöcke gab und jeder
für seinen Teil verantwortlich war und verpflichtet war, seine
Verbündeten zu unterstützen, dann ja, selbstverständlich. (...)
Aber im Zusammenhang mit dem Begriff des neuen Denkens (...) war es
unsere Pflicht so zu handeln, wie es Gorbatschow tat.«¹⁶ Wir
haben diesem Eingeständnis keinen Kommentar
hinzuzufügen.
Anmerkungen
1 Hans-Dietrich
Genscher: Erinnerungen. Siedler-Verlag, Berlin, 1995, S. 724 f.
2
Frank Elbe und Richard Kiessler: Der diplomatische Weg zur deutschen
Einheit. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1996, S. 99
3
James Baker: Drei Jahre, die die Welt veränderten. Erinnerungen.
Siedler-Verlag, Berlin, 1996, S. 191
4 Walentin Falin:
Konflikte im Kreml. Zur Vorgeschichte der deutschen Einheit und
Auflösung der Sowjetunion. Karl-Blessing-Verlag, München, 1997, S.
162
5 Michael R. Beschloss und Strobe Talbott: Auf höchster
Ebene. Das Ende des Kalten Krieges und die Geheimdiplomatie der
Supermächte 1989–1991. Econ-Verlag, Düsseldorf 1994, S. 252
6
Niederschrift eines Gesprächs von Gregor Gysi mit Walentin Falin am
18.5.1990. Vgl. Detlef Nakath u. a. (Hrsg.): »Im Kreml brennt noch
Licht«. Die Spitzenkontakte zwischen SED/PDS und KPdSU 1989–1991.
Dietz-Verlag, Berlin 1998, S. 190 ff.
7 Georgi Schachnasarow:
Preis der Freiheit. Eine Bilanz von Gorbatschows Berater.
Bouvier-Verlag, Bonn 1996, S. 151
8 Beschloss/Talbott, a. a.
O., S. 285 und S. 291 f.
9 Telefonat vom 1.6.1990, siehe:
Philip Zelikow/Condoleezza Rice: Sternstunden der Diplomatie. Die
deutsche Einheit und das Ende der Spaltung Europas. Propyläen-Verlag,
Berlin 1997, S. 387
10 Beschloss/Talbott, a. a. O., S. 294
f.
11 Horst Teltschik: 329 Tage. Innenansichten der Einigung.
Siedler-Verlag, Berlin 1991, S. 259 bis 261
12 Schreiben von
Bush an Kohl vom 13.6.1990, in: Akten des Bundeskanzleramtes, S.
1.212 f.
13 Walentin Falin: Politische Erinnerungen.
Droemer-Verlag, München, 1993, S. 495 f.
14 Helmut Kohl: Ich
wollte Deutschlands Einheit [Dargestellt von Kai Diekmann und Ralf
Georg Beuth]. Propyläen-Verlag, Berlin 1996, S. 435
15
Teltschik, a. a. O., S. 338 f.
16 Zitiert nach Ekkehard Kuhn:
Gorbatschow und die deutsche Einheit. Aussagen der wichtigsten
russischen und deutschen Beteiligten. Bouvier-Verlag, Bonn 1993, S.
112
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