Europäische Gemeinsamkeiten und Perspektiven Kultur als Basis für Frieden und Prosperität
Von Wolfgang Bittner
22. August 2023 Evelyn Hecht-Galinski Gastbeiträge, Neuigkeiten
Ich danke Wolfgang Bittner für die Zusendung seines neuen und wichtigen
Text, Erstveröffentlichung heutige Nachdenkseiten, für die Hochblauen
Seite
Nachdem in den deutsch-russischen Beziehungen einige Jahre lang
Tauwetter eingetreten war und eine zunächst noch blasse Sonne des
Friedens und der Prosperität die dunklen Wolken durchdrungen hatte,
herrscht aufgrund des Krieges in der Ukraine nach dem 24. Februar 2022
wieder akuter kalter Krieg, der rasch in einen heißen Krieg übergehen
kann. Nach wie vor werden existenzgefährdende Aggressionen geschürt,
Russland wird permanent provoziert, und es sieht nicht danach aus, dass
diese Jahrhunderttragödie bald ein Ende findet und sich die Völker
Europas wieder auf ihre Gemeinsamkeiten besinnen. Derzeit ist das
Gegenteil der Fall; starke zentrifugale Kräfte und divergierende
politische Vorstellungen führen immer mehr zu Auseinandersetzungen, auch
innerhalb der europäischen Staaten.
Ein Europa souveräner Staaten
Im Gespräch ist erneut ein mehr eigenständiges Europa souveräner Staaten
(das sogenannte Europa der Vaterländer), also eine Abwendung von der
US-affinen Politik, die zu ruinösen Verhältnissen geführt hat. Mit
gigantischer Aufrüstung und einer Stärkung der NATO beginnen zu wollen,
zeugt davon, wie verkorkst die Situation ist. Denn der von den USA
geführte Nordatlantikpakt hat sich in den vergangenen Jahren von einem
Verteidigungsbündnis zu einem Aggressionsbündnis entwickelt, das sich
anmaßt, global im Sinne des monopolaren Anspruchs der USA zu agieren.
Um der Selbstständigkeit Europas willen das Hauptaugenmerk auf das
Projekt einer europäischen Armee zu richten, erscheint ebenso verfehlt.
Im Rahmen der NATO würde eine solche Armee letztlich den US-Militärs
unterstehen, die dann uneingeschränkten Zugriff auf europäische
Kampfeinheiten für ihre Interventionskriege hätten. Und außerhalb der
NATO würde, nachdem die Briten aus der EU ausgeschieden sind, die
Atommacht Frankreich dominieren.
Es geht um viel Wesentlicheres, nämlich um eine Neubesinnung und
Neuordnung Europas. Und das lässt sich nicht in der neoliberalen
Diktatur, mit der es die Bevölkerung zu tun hat, durchsetzen, nicht mit
diesem Brüsseler Wasserkopf und den dort die Politik mitgestaltenden
US-Netzwerken und etwa 12.000 Lobbyvertretungen, nicht in der
herrschenden Aufrüstungshysterie, der wirtschaftlichen und militärischen
Interventionspolitik und den Austeritätsvorgaben, die ärmere Länder in
den Ruin treiben.
Dabei ist für die Neuordnung Europas, in der es nicht nur um Ökonomie,
Technologie oder Militär gehen kann, eine Beteiligung Russlands
unabdingbar. Denn ohne Russland wird es ein friedliches, prosperierendes
Europas nicht geben. Insofern müssen sich alle Bemühungen der nächsten
Zeit auf Vertrauen schaffende Maßnahmen, Verhandlungen und eine
Aussöhnung mit Russland richten. Dazu gibt es fortschrittliche
Bestrebungen in ganz Europa. Die entscheidende Frage wird sein, ob den
Bekundungen Taten folgen und wie dieses zerrüttete Europa, wäre es dann
unabhängiger, künftig gestaltet werden sollte.
Europäische Kultur
Umso wichtiger ist es, sich auf Gemeinsamkeiten zu besinnen, die die
Völker Europas verbinden, und zwar unabhängig vom Willen und der
Propaganda nationalistisch gesinnter Kreise. Diese Gemeinsamkeiten
finden sich in der Kultur. Denn der geistig-kulturelle Austausch war
niemals nur regional oder national beschränkt oder ideologisch
eingeengt. Es gab Epochen in Europa, in denen die Grenzen durchlässiger
waren als in unserer jüngsten Vergangenheit.
Von europäischer Kultur ist also die Rede, und wer davon spricht, meint
für gewöhnlich die in den europäischen Ländern gepflegte Literatur,
Musik, Malerei, Bildhauerei, Architektur usw. Dazu gehören im weitesten
Sinne auch die Achtung der Menschenrechte, das Bildungswesen,
Wohnbedingungen oder Essgewohnheiten, ja sogar Verkehrswesen, Kranken-
und Altenversorgung oder der Umgang mit Strafgefangenen. Das alles
nennen wir Kultur, die sich über die Jahrhunderte entwickelt hat.
Die europäische Kultur gründet sich vor allem auf vier Säulen. Erstens:
die griechische Philosophie und Humanitas; zweitens: römische
Zivilisation und römisches Recht in Verbindung mit den
germanisch-keltischen Einflüssen; drittens: die christliche und jüdische
Religion und viertens: in jüngerer Zeit die Französische Revolution mit
ihrer Forderung nach Freiheit, Gleichheit und Solidarität sowie die
darauf beruhenden sozialen Ideen und Visionen. Übrigens hatte die
französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 bereits
Vorgänger in Korsika und in Polen, was heute kaum noch bekannt ist.
Die Ursprünge dessen, was wir heute allgemein als unveräußerliche und
unentziehbare Menschenrechte bezeichnen, lassen sich wiederum auf die
Naturrechtsgedanken der Antike wie auch auf die alten Volksrechte im
europäischen Raum zurückführen. Diese Grundrechte und Grundsätze, die
sich später unter anderem in der englischen Magna Charta Libertatum von
1215 sowie in der Habeas-Corpus-Akte von 1679 manifestiert haben, wurden
auch für die amerikanischen Freiheitsrechte übernommen.
Wie aber konnte sich eine gemeinsame europäische Kultur in einem so
zerklüfteten Gebilde wie dem mittelalterlichen Europa entwickeln?,
fragen wir uns heute. Und übersehen dabei, dass der kulturelle Austausch
in früheren Jahrhunderten zeitweise wenigstens so intensiv und
problemlos vonstattenging wie im 21. Jahrhundert in der Epoche nach der
vorübergehenden Beendigung des Kalten Krieges, der Europa jahrzehntelang
in feindliche Lager gespalten hatte. Solche Grenzüberschreitungen und
ihre Bedeutung für die Literatur, Kunst und Wissenschaften können nicht
hoch genug eingeschätzt werden; das gilt für vergangene Jahrhunderte,
aber auch für die heutige Zeit, in der wir seit der von den USA
oktroyierten Sanktionspolitik und dem inszenierten Krieg in der Ukraine
einen epochalen Rückschritt erleben.
Grenzüberschreitungen
Noch 2001 sagte der russische Präsident Wladimir Putin in einer Rede vor
dem Deutschen Bundestag – das war damals noch möglich: „Kultur war
immer unser gemeinsames Gut und hat die Völker verbunden.“ Russland ist
das größte Land Europas, das wird zurzeit systematisch verdrängt und
gerät allmählich in Vergessenheit. Zwischen den westeuropäischen Ländern
und Russland gab es jahrhundertelang intensive Handelsbeziehungen,
kulturellen und wissenschaftlichen Austausch. Was wäre die europäische
Kultur ohne die russische Literatur, Kunst, Musik, ohne das russische
Theater? Ich nenne nur die Schriftsteller und Dichter Tolstoi,
Dostojewski, Tschechow, Gorki, Puschkin und Jewtuschenko, die Maler
Jawlenski, Malewitsch und Repin (ich habe sofort die Wolgatreidler vor
Augen), die Musiker Prokofjew, Schostakowitsch und Tschaikowski (ich
höre die Nussknacker-Suite). Puschkin las Goethe, Goethe las Puschkin,
bis heute wird in Russland Heinrich Heine verehrt und Beethoven widmete
der Zarin Elisabeth seine Polonaise Op. 89, wofür ihm zum Dank eine
großzügige Zuwendung gewährt wurde. Zar Peter I. arbeitete 1607
inkognito auf einer niederländischen Werft, um die Techniken des
Schiffsbaues zu erlernen, und Albert Lortzing verfasste nach dieser
historischen Episode das Libretto für seine Oper „Zar und Zimmermann“.
Zwischen den europäischen Ländern und zwischen ihren Dichtern und
Künstlern hat es immer einen regen kulturellen Austausch gegeben. Es ist
kein Geheimnis, dass Johann Wolfgang von Goethe seinen „ultimativen
Kick“ während einer Italienreise erhielt. Und sein Drama „Faust“ beruht
auf einer Überlieferung, die erstmals 1587 in einem deutschen Volksbuch
erschien und von einem Mann berichtet, der einen Bund mit dem Teufel
eingeht. Das Vorbild dafür war augenscheinlich der Arzt und Gelehrte
Paracelsus, 1493 in der Schweiz geboren, der in Österreich und Italien
lebte und praktizierte. Auch der englische Dramatiker Christopher
Marlowe (1564-1593) schrieb ein Stück über diese Thematik – den Pakt mit
dem Teufel – schon lange vor Goethe.
Für viele Kulturschaffende gab es keine Grenzen. Der Nürnberger
Bildhauer Veit Stoß zum Beispiel schnitzte von 1477 bis 1489 den bis
heute bewunderten Altar in der Marienkirche in Krakau. Nikolaus
Kopernikus wurde in Torun (Thorn) geboren, und als er sich in Italien an
der Universität einschrieb, wusste er nicht – so wird bekundet –, ob er
seine Herkunft als Deutscher oder als Pole angeben sollte. Erasmus von
Rotterdam pflegte einen umfangreichen Briefwechsel mit Geistesgrößen in
ganz Europa, unter anderem mit Justus Decius, Berater des polnischen
Königs Sigismund des Älteren in Krakau. Justus Decius (eigentlich Jost
Ludwig Dietz) stammte aus dem Elsass, das damals zu Deutschland gehörte,
und galt seinerzeit als eine der einflussreichsten Persönlichkeiten in
Polen.
Friedrich Schiller wurde von den Ideen Jean-Jacques Rousseaus
beeinflusst; der französische Philosoph Voltaire lebte eine Zeitlang am
Hofe Friedrichs des Großen in Berlin; der schlesische Poet Andreas
Gryphius – er lebte von 1616 bis 1664 und schrieb wunderbare
schwermütige Gedichte – traf in Amsterdam den niederländischen Poeten
Joost van den Vondel. Der Dichter Jakob Lenz und andere deutsche
Dichter, Vorläufer der Romantik, gingen nach Polen und Russland.
Heinrich Heine und Ludwig Börne emigrierten nach Paris, Georg Büchner
floh – verfolgt von der hessischen Geheimpolizei – nach Frankreich und
in die Schweiz, wo er mit 24 Jahren starb.
Der große polnische Dichter Adam Mickiewicz lebte jahrelang in Russland
und in Frankreich, der englische Dichter Lord Byron in der Schweiz und
in Italien. Dostojewski spielte Roulette im Baden-Badener Spielkasino,
in Bad Homburg und in Paris. Tolstoi besuchte Schulen in Deutschland, um
sich Anregungen für eine Schule in seinem russischen Dorf Jasnaja
Poljana zu holen. Der spanische Kulturphilosoph Ortega y Gasset
studierte in Deutschland und lebte seit dem spanischen Bürgerkrieg unter
anderem in Frankreich und den Niederlanden. Die berühmten
deutschsprachigen Dichter Franz Kafka und Max Brod lebten in Prag, Franz
Werfel und Karl Kraus in Wien. Der deutsche Schriftsteller Alfred
Döblin reiste 1923 einige Monate durch Polen und hinterließ der Nachwelt
seine hochinteressanten gesellschaftsanalytischen Aufzeichnungen „Reise
in Polen“, die 1926 erschienen.
Im „Dritten Reich“ und während des Zweiten Weltkriegs emigrierten
deutsche Schriftsteller und Künstler nach Schweden, zum Beispiel Kurt
Tucholsky, Bertolt Brecht und Peter Weiss, oder nach England, zum
Beispiel Alfred Kerr, Kurt Schwitters oder Sebastian Haffner. Deutsche
und polnische Existenzialisten und Intellektuelle flohen vor dem
deutschen Faschismus zuerst in die Niederlande und schließlich weiter
nach Frankreich und Spanien. Und in den siebziger Jahren des vorigen
Jahrhunderts flohen viele griechische Künstler vor dem griechischen
Faschismus nach Deutschland, Frankreich und Polen. Später kamen
zahlreiche Dissidenten aus den kommunistischen Ländern Osteuropas nach
Westeuropa.
Aber auch viele Maler wechselten ihren Wohnsitz, so Chagall, Kandinsky
und Jawlensky, die von Russland nach Frankreich und nach Deutschland
gingen. Gauguin heiratete eine schwedische Frau. Der Bildhauer Brancusi
wanderte sogar zu Fuß von Rumänien nach Paris. Und auch der norwegische
Maler Edward Munch wandte sich nach Paris, ebenso wie der schwedische
Dramatiker August Strindberg oder der berühmte polnische Komponist
Frédéric Chopin. Sigmund Freud, Begründer der Psychoanalyse, emigrierte
von Wien nach London.
Und schauen wir uns die Architektur an. Ganze Straßenzüge in Riga oder
in Wilna könnten ebenso in Lübeck stehen; in manchen Vierteln von Krakau
oder Lemberg meint man in Wien oder in Prag zu sein; italienische
Architekten wirkten in Deutschland, Frankreich, Russland oder Polen. In
den Dombauhütten waren Baumeister aus vielen Ländern Europas vereinigt.
Alle diese Künstler, Schriftsteller, Dichter, Architekten und Gelehrten
inspirierten sich gegenseitig, und insofern können wir von einer
europäischen Kunst und Literatur, von einer europäischen Kultur
sprechen. Jeder brachte seinen eigenen nationalen Charakter, seine
Persönlichkeit ein, geprägt durch die regionale Kultur, durch lokale
Eigenheiten, gesellschaftliche Verhältnisse, Landschaft, Folklore usw.
Betrachten wir Chagall und sein Werk: In seinen Bildern spiegelt sich
seine russisch-jüdische Kindheit. Oder Franz Werfel, den Autor jüdischer
Herkunft, der in Österreich lebte, bevor er nach Frankreich und weiter
in die USA emigrierte; er schrieb einen Bestseller über den katholischen
Wallfahrtsort Lourdes in Frankreich.
Über die Jahrhunderte hat sich ein reger kultureller Austausch nicht nur
zwischen Ost und West, sondern auch zwischen Nord und Süd entwickelt,
in den die Länder eigene Impulse eingebracht und eine gemeinsame
europäische Identität entwickelt haben, und zwar trotz unterschiedlicher
Mentalitäten, politischer Strategien und kriegerischer
Auseinandersetzungen. Allerdings ist festzustellen, dass dieser Prozess
durch gezielte Einflussnahme aus den USA gravierend gestört ist. Eine
künftige koordinierte Kulturpolitik sollte in der Lage sein, hier
regulierend und bewahrend einzugreifen.
Resümee
Literatur, Musik, Malerei, bildende Kunst oder Architektur können
Grenzen überschreiten, die Menschen hören und lernen voneinander, sie
überwinden ihre Fremdheit. Da sind unendlich viele Möglichkeiten,
Brücken zu bauen durch Kultur, die letztlich Grundlage für jede
ökonomische oder technische Entwicklung ist. Das ist essenziell!
Schriftsteller und Künstler überschreiten Grenzen, von denen es immer
noch viel zu viele gibt, mit Leichtigkeit, und sie haben keine Probleme
miteinander. Es gibt andere Verbindungen und Gemeinsamkeiten zwischen
Menschen, als die Nationalität.
Erstveröffentlichung: https://www.nachdenkseiten.de/?p=102756#more-102756
Von Wolfgang Bittner erschienen u.a. 2014 „Die Eroberung Europas durch
die USA“, 2019 „Die Heimat, der Krieg und der Goldene Westen“ und „Der
neue West-Ost-Konflikt“, 2021 „Deutschland – verraten und verkauft.
Hintergründe und Analysen“ sowie 2023 „Ausnahmezustand – Geopolitische
Einsichten und Analysen unter Berücksichtigung des Ukraine-Konflikts.“
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