Wie stehen die Chancen auf eine Verhandlungslösung im Ukraine-Konflikt?
VERÖFFENTLICHT VON LZ ⋅ 21. AUGUST 2023 ⋅ HINTERLASSE EINEN KOMMENTAR
von Thomas Röper – http://www.anti-spiegel.ru
Ich berichte seit Februar über die Umsetzung des RAND-Papiers vom
Januar. Auch wenn es für Stammleser des Anti-Spiegel ermüdend sein mag,
will ich für alle, für das Thema neu ist, kurz erklären, worum es dabei
geht. Danach kommen wir auf das Interview, das der russische
Außenminister Lawrow nun gegeben hat und das möglicherweise die
Antworten auf einige wichtige, bisher offenen Fragen enthalten hat.
Das RAND-Papier
Die RAND-Corporation ist ein mächtiger US-Thinktank, der de facto die
US-Außenpolitik schreibt, wie ein Beispiel zeigt. 2019 hat die
RAND-Corporation eine Studie mit dem Titel „Russland überdehnen – aus
vorteilhafter Position konkurrieren“ (Extending Russia – competing from
advantageous ground) veröffentlicht, in der sie auf insgesamt 354 Seiten
detailliert aufgelistet hat, wie die USA Russland überdehnen und
schwächen können. Über diese Studie habe ich damals eine 20-teilige
Artikelserie geschrieben und die von der RAND-Corporation
vorgeschlagenen Maßnahmen im Details aufgezeigt. 2021 habe ich in einem
Artikel abgeglichen, was von dem, was RAND zwei Jahre zuvor
vorgeschlagen hatte, von der US-Regierung alles umgesetzt wurde. Das
Ergebnis finden Sie hier und es zeigt, wie mächtig die RAND-Corporation
ist, denn fast alles, was sie „vorgeschlagen“ hat, war zwei Jahre später
bereits umgesetzt.
Wer einschätzen will, wie sich die US-Politik entwickeln wird, der
sollte vor allem die Studien der mächtigen US-Thinktanks lesen, anstatt
den Erklärungen der westlichen Politiker zuzuhören. Aus diesem Grund
erscheint mir die RAND-Studie vom Januar so wichtig, zumal – Zufall oder
nicht – seitdem konsequent an ihrer Umsetzung gearbeitet wird.
RAND kam im Januar zu einem klaren Ergebnis: Die Ziele der USA in der
Ukraine waren, Russlands Wirtschaft mit den Sanktionen zu zerschlagen,
Russland international zu isolieren und, wenn möglich, Russland in der
Ukraine eine militärische Niederlage zuzufügen.
RAND stellte im Januar fest, dass all diese Ziele nicht erreicht wurden
und auch in absehbarer Zeit nicht erreicht werden. Stattdessen steckten
die USA in einem Stellvertreterkrieg gegen Russland, der viel zu teuer
ist, zumal die USA ihre gesetzten Ziele damit nicht erreichen können.
RAND sagte ganz offen, dass es den USA egal ist, wo die ukrainische
Grenze verläuft und dass eine Fortsetzung der Unterstützung der Ukraine
für die USA ruinös ist, während sie den USA keine Vorteile bringt.
Daher hat RAND empfohlen, einen Ausweg aus dem Ukraine-Abenteuer zu
suchen. Und genau das wurde in den folgenden Monaten umgesetzt, denn
heute wird bereits über Verhandlungen mit Russland gesprochen, sogar
eine Abtretung ehemals ukrainischer Gebiete an Russland wurde schon
vorgeschlagen, und der NATO-Beitritt der Ukraine, der der Hauptgrund für
die russische Militäroperation war, ist offiziell vom Tisch. Das ist
genau das, was RAND im Januar empfohlen hat, um mit Russland über ein
Ende des ruinösen Stellvertreterkrieges verhandeln zu können.
Verhandlungen: Wer mit wem und um was?
Daraus folgt, dass Kiew irgendwann demnächst (ich vermute, im Herbst
oder bis Jahresende) um Gespräche mit Moskau bitten wird, wobei die
radikale Regierung in Kiew das gar nicht will, sondern dazu von
Washington gezwungen wird. Lediglich offiziell wird es Kiew sein, das um
Verhandlungen ersucht, während der Westen offiziell jede Entscheidung
von Kiew unterstützt.
Daher stelle ich, wenn ich darüber schreibe, schon seit einiger Zeit vor
allem eine Frage: Was wird Russland fordern, wenn die Verhandlungen
anstehen? Das wird die entscheidende Frage sein, denn Russland ist auf
dem Schlachtfeld siegreich und wirtschaftlich ist der Konflikt für den
Westen ungleich teurer und schädlicher als für Russland. Russland sitzt
also definitiv am längeren Hebel.
Ich habe schon länger vermutet, dass Russland sich kaum mit Kiew an
einen Tisch setzen wird, ohne dass die USA in irgendeiner Form dabei
sind, denn Kiew ist finanziell, politisch und militärisch längst
vollkommen von den USA abhängig und kann ohne grünes Licht aus
Washington nichts entscheiden. Außerdem sieht Russland sich nicht im
Krieg mit der Ukraine, sondern mit dem US-geführten Westen, weshalb die
Logik gebietet, dass Russland mit den USA über einen Frieden verhandeln
will und nicht mit den Marionetten aus Kiew.
Da Russland sich im Krieg mit dem kollektiven Westen sieht, dürfte es
auch Forderungen an den Westen stellen. Dass Russland seine Hauptziele
als nicht verhandelbar ansieht, konnte man vor einigen Tagen in einem
Interview mit dem stellvertretenden russischen Außenminister Michail
Galusin erfahren. Diese für Russland nicht verhandelbaren Ziele sind:
Die Festschreibung des neutralen, bündnisfreien und atomwaffenfreien
Status der Ukraine, Anerkennung der Referenden und der damit verbundenen
neuen Grenzen, die Garantie aller Minderheitenrechte der ethnischen
Russen in der Ukraine und die Entmilitarisierung und Entnazifizierung
der Ukraine. Da eine Entnazifizierung der Ukraine mit dem in Kiew
regierenden Personal kaum möglich ist, dürfte Russland die Einsetzung
einer neutralen Regierung in Kiew fordern.
Das waren, so verstehe ich das, die Minimalforderungen Russlands, die
der Westen zu akzeptieren hat, wenn er sich mit Russland auf irgendetwas
einigen will.
Die Frage ist, über was Russland vom US-geführten Westen verhandeln
will. Da gibt es viele Möglichkeiten, zum Beispiel sei an die
gegenseitigen Sicherheitsgarantien erinnert, die Russland den USA und
der NATO im Dezember 2021 vorgeschlagen hat. Russland könnte zu dieser
Idee zurückkehren, auch wenn es unwahrscheinlich ist, dass die USA
darauf eingehen, die Details der von Russland vorgeschlagenen
Sicherheitsgarantien finden Sie hier.
Das Interview, das der russische Außenminister Lawrow nun gegeben hat,
enthält einige interessante Aussagen zu möglichen Verhandlungen, die wir
uns hier anschauen wollen.
Die Zukunft der Ukraine
Lawrow hat in dem Interview die Ziele der russischen Außenpolitik klar
umrissen. Russland will am Aufbau einer multipolaren Weltordnung
mitwirken, was das Ende der westlichen Dominanz bedeutet. Das Ziel
formuliert Lawrow ganz klar und nimmt auch kein Blatt vor den Mund, wenn
er die Politik des Westens, anderen Ländern seinen Willen aufzuzwingen,
beschreibt. Und er bezeichnet den Westen als Konfliktpartei im
Ukraine-Konflikt, wenn er zum Beispiel sagt:
„Die etwa 50 Länder, die der „Ramstein-Koalition“ zur militärischen
Unterstützung der Ukraine angehören, sind de facto auf der Seite des
Kiewer Regimes, das, wie ich betonen möchte, auch vor terroristischen
Methoden der Kriegsführung nicht zurückschreckt, an dem bewaffneten
Konflikt beteiligt.“
In Russland deuten die Aussagen führender Politiker immer mehr darauf
hin, dass man der Ukraine kaum eine Zukunft als Staat einräumt. Auch bei
Lawrow klang das nun durch, denn er erinnerte daran, wie die USA ihre
früheren Verbündeten fallengelassen haben, wenn sie nicht mehr gebraucht
wurden: Zum Beispiel die südvietnamesische Regierung oder erst kürzlich
die afghanische Regierung. In Russland vermutet man offenbar, dass auch
der derzeitigen ukrainischen Regierung ein ähnliches Schicksal blühen
könnte, wenn den USA der Konflikt zu teuer wird.
Außerdem weist Lawrow darauf hin, dass westliche Investoren kaum bereit
sein dürften, sich nach dem Konflikt am Wiederaufbau der Ukraine zu
beteiligen. Sicherlich, derzeit verspricht der Westen vollmundig
Finanzhilfen für den Wiederaufbau der Ukraine, aber diese Versprechen
dürften nur leere Worte sein, weil dem Westen das Geld bereits für die
Projekte ausgeht, die für ihn zu Hause Priorität haben. Ohne staatliche
Garantien aus dem Westen dürften private Investoren jedoch einen weiten
Bogen um die bankrotte Ukraine machen.
Und dann sagte Lawrow etwas, was westliche Medien nie berichten würden,
was aber in Wirtschaftskreisen, die für ihre Investitionen stabile
Verhältnisse wollen, tatsächlich ein großes Thema sein dürfte:
„Ihr Vertrauen in die militärischen Erfolge der Ukraine und überhaupt in
die Erhaltung des Staates in irgendeiner Form und innerhalb
irgendwelcher Grenzen wird immer schwächer.“
Tatsächlich wird es, je länger der Konflikt dauert, immer
wahrscheinlicher, dass der ukrainische Staat, so wie wir ihn kennen,
nicht mehr lange existiert. Teile der ehemaligen Ukraine gehören bereits
zu Russland, Polen hat ein Auge auf die Westukraine geworfen, und
außerdem ist die Ukraine faktisch entvölkert, weil die Menschen aus dem
Land geflohen sind und – selbst laut der EU – nur die wenigsten
zurückkehren dürften. In einen Staat, in dem es nicht genug
Arbeitskräfte für eine auch nur ansatzweise funktionierende Wirtschaft
gibt, dürfte kaum jemand investieren wollen. Und ob ein solcher Staat
überhaupt bestehen kann, ist keineswegs sicher.
Verhandlungen? Lawrow ist pessimistisch
Lawrow äußert sich äußerst pessimistisch über mögliche Verhandlungen,
denn Russland erwartet tatsächlich, nicht mit Kiew zu verhandeln,
sondern mit Washington. Lawrow sagte dazu:
„Das Problem ist jedoch, dass die USA nicht die Absicht haben, den
Konflikt zu beenden. Wie ich bereits sagte, ist es ihre offiziell
verkündete Aufgabe, Russland eine „strategische Niederlage“ zuzufügen,
um uns militärisch, wirtschaftlich und politisch so weit wie möglich zu
schwächen.“
Das wird, wie ich schon geschrieben habe, die interessante Frage: Sind
die USA bereit, mit Russland zu verhandeln, wenn Russland Verhandlungen
mit Kiew alleine ablehnt und eine Gesamtlösung für den Ost-West-Konflikt
anstrebt, anstatt einer regionalen Lösung in der Ukraine? So eine
regionale Lösung, das ist die russische Befürchtung, wäre nur ein
Waffenstillstand auf Zeit, den der Westen nutzen würde, um sich auf
einen neuen Konflikt vorzubereiten.
Lawrows Ausführungen dazu klingen denkbar pessimistisch und er fasst sie
schließlich wie folgt zusammen, wobei man beachte, dass Lawrow von
„Verhandlungen zwischen Russland und dem Westen“ spricht, nicht von
Verhandlungen mit Kiew:
„Daher gibt es jetzt leider keine Aussicht auf Verhandlungen zwischen
Russland und dem Westen. Außerdem drängen die westlichen Sponsoren das
Kiewer Regime ständig dazu, den Einsatz zu erhöhen. Die heuchlerischen
Forderungen des Westens nach Verhandlungen halten wir für einen
taktischen Trick, um wieder einmal Zeit zu gewinnen, den erschöpften
ukrainischen Truppen eine Verschnaufpause und eine Chance zu geben, sich
neu zu formieren, und sie mit Waffen und Munition vollzupumpen. Aber
das ist der Weg des Krieges, nicht der einer friedlichen Lösung. Das ist
uns völlig klar.“
Das russische Misstrauen
Dass Russland dem Westen nicht mehr vertraut, ist nicht neu. Und genau
da dürfte das Problem liegen, denn egal, was der Westen vorschlagen
könnte, Russland wird dem Westen nicht glauben, weil der US-geführte
Westen in den letzten Jahren zu oft sein Wort – und sogar rechtsgültige
Verträge – ohne mit der Wimper zu zucken gebrochen hat.
In meinem Interview mit Lawrows Sprecherin Maria Sacharowa vor einigen Monaten hat sie das so formuliert:
„Der Westen muss jetzt erst mal seine Kreditwürdigkeit in allen Sinnen
des Wortes beweisen, im politischen und im rechtlichen Sinne des Wortes.
Seine Hauptaufgabe ist es jetzt, sich irgendwie vor der internationalen
Gemeinschaft für den Lug und Betrug zu rehabilitieren, die er in der
jüngsten Geschichte begangen hat, auch im Zusammenhang mit der Ukraine.
Denen glaubt doch niemand mehr.“
Russland wird also von den USA verlangen, mit irgendetwas in Vorleistung
zu gehen und Russland Garantien zu geben, die nicht morgen einfach so
wieder entwertet werden können. Und dazu werden die USA wahrscheinlich
nicht bereit sein.
Das Dilemma der USA
Damit stehen die USA vor einem Problem: Einerseits müssen sie aus dem
Ukraine-Abenteuer aussteigen, weil es schlicht zu teuer ist und weil die
US-Regierung im nächsten Jahr kaum auf eine Wiederwahl hoffen kann,
wenn sie gegen einen Präsidentschaftskandidaten antreten muss, der die
in den USA unpopuläre, weil viel zu teure, Unterstützung der Ukraine
kritisiert und zum Wahlkampfthema macht.
Hinzu kommt, dass der geopolitische Hauptgegner der USA China ist. Da
ist es ausgesprochen kontraproduktiv, die Ressourcen der USA, die sie
gegen China brauchen, gegen Russland zu verbrauchen.
In der Ukraine gegen Russland zu verlieren, können die USA sich auch
kaum erlauben, denn das würde ihrem internationalen Prestige enormen
Schaden zufügen. Die USA versuchen, andere Staaten mit Druck,
Erpressung, Sanktionen und so weiter zu einem anti-russischen und
pro-westlichen Kurs zu zwingen. Das dürfte sehr viel schwieriger werden,
wenn die USA in der Ukraine eine krachende Niederlage erleiden.
Andererseits hat Lawrow recht, wenn er bezweifelt, dass die USA eine
Einigung mit Russland wollen, sondern eher eine „Verschnaufpause“
anstreben. Wenn Russland den USA diese nicht zubilligt, sondern auf
„echte“ Zugeständnisse des Westens besteht, dürfte eine
Verhandlungslösung nur schwer zu finden sein.
Die USA hätten dann verschiedene Möglichkeiten. So gibt es in den USA
Stimmen, die schon offen fordern, die EU solle die Ukraine weiter
unterstützen, während die USA sich aus dem Abenteuer zurückziehen und
sich China zuwenden. Auch ein Einstieg Polens in den Ukraine-Konflikt
würde den USA wohl sehr recht sein, wobei Polen sich dabei nicht auf den
Beistand der NATO berufen könnte, weil es nicht angegriffen wird,
sondern selbst in einen Konflikt eintritt.
Oder die USA machen in der Ukraine einen so radikalen Schritt, wie in
Afghanistan und lassen die Ukraine einfach fallen. Das wäre zwar eine
Niederlage für die USA, aber würde Russland die ganze Ukraine unter
Kontrolle bekommen, hätte es vor allem in der Westukraine auf Jahrzehnte
ein Problem mit der dortigen anti-russischen Bevölkerung, die
radikalisiert genug wäre, eine Art Partisanenkrieg mit ungezählten
Terroranschlägen zu führen.
Da könnte es für Russland tatsächlich das kleinere Übel sein, die
Westukraine Polen zu überlassen – frei nach dem Motto, sollen die Polen
sich mit den radikal-nationalistischen Ukrainern herumärgern.
Der Weg kann sich ändern, das Ziel bleibt unverändert
Wie man sieht, ist die Situation sehr kompliziert. Ich bleibe bei meiner
Analyse, dass auch weiterhin versucht wird, das RAND-Papier umzusetzen.
Das kann in anderer Form geschehen, als ich (und wohl auch die Autorend
des Papiers) es zunächst gedacht haben, aber ich erinnere an die
Kernaussage des RAND-Papiers: Der Kern war nicht eine Friedenslösung für
die Ukraine, sondern der Kern war, dass die USA einen eleganten Ausweg
aus der ruinösen Unterstützung für Kiew finden müssen.
Das will die US-Regierung schon alleine wegen der anstehenden Wahlen
immer noch erreichen. Der Weg zu diesem Ziel kann sich ändern, das Ziel
dürfte aus den genannten Gründen aber unverändert bleiben.
Wie ich seit einiger Zeit schreibe, gibt es dabei zwei große Unbekannte:
Erstens, was Russland bei Verhandlungen fordern könnte und zweitens,
worauf die USA einzugehen bereit sein werden.
Was Russland fordern könnte, wird aus den russischen Erklärungen langsam
immer deutlicher, womit wir bei der zweiten Fragee wären.
Dass die USA von ihrer anti-russischen Politik nicht ablassen werden,
ist klar. Und genau das macht weitere Prognosen derzeit ausgesprochen
schwierig
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