Russland hat ein außenpolitisches Konzept, Deutschland hat Baerbock
VERÖFFENTLICHT VON LZ ⋅ 1. APRIL 2023 ⋅ HINTERLASSE EINEN KOMMENTAR
von Dagmar Henn – https://meinungsfreiheit.rtde.life
Das neue russische Dokument ist erfrischend logisch und klar. Die Ziele
der Außenpolitik sind definiert, ebenso wie die Grundsätze, von denen
sie sich ableiten. Und sie sind konsistent mit den Handlungen. Aus
Deutschland kann man das nur mit Wehmut betrachten.
Eigentlich war hier beabsichtigt, das neue außenpolitische Konzept der
Russischen Föderation dem des Auswärtigen Amtes gegenüberzustellen.
Dieser Versuch beginnt mit einer Enttäuschung – es gibt schlicht kein
deutsches Gegenstück. Selbst wenn man versucht, auf der Seite des
Auswärtigen Amts eine Definition des aktuellen Kernbegriffs der
“regelbasierten Weltordnung” zu finden, kann man zwar durch eine Reihe
von Themen hüpfen, die eines wie das andere frei von offiziellen
Dokumenten sind, und findet darunter so erstaunliche Punkte wie die
NATO, aber nirgends gibt es Richtlinien, ein Konzept, eine überprüfbare
Ausrichtung.
Russlands Zentralbank: Haben Reserven zur Eindämmung westlicher Sanktionen über Jahre aufgebaut
Das führt unmittelbar zur ersten Feststellung: Die Festlegung der
russischen Außenpolitik erfolgt demokratischer als die der deutschen.
Warum? Weil ein klares, veröffentlichtes Dokument zum einen ermöglicht,
einzelne Punkte konkret zu kritisieren, und zum anderen
Rechenschaftslegung und Überprüfung möglich sind. Man würde gerade von
einer Nation mit einer derart exportorientierten Wirtschaft wie
Deutschland erwarten, dass die außenpolitischen Festlegungen diese
Tatsache widerspiegeln; das taten sie in früheren Jahren auch, wenn auch
auf eher unangenehme Weise, wie in der Rede des damaligen
Außenministers Frank-Walter Steinmeier vor dem Industrieforum der
Süddeutschen Zeitung im Jahr 2015 – was natürlich immer noch kein
außenpolitisches Grundsatzdokument war, aber zumindest in die Richtung
ging. Das Ministerium unter Außenministerin Annalena Baerbock liefert
einzig ein Dokument zur “feministischen Außenpolitik”, und selbst ihre
Aussagen in Reden sind völlig frei von irgendeiner nüchternen Andeutung
nationalen Interesses, aber bis zum Rand angefüllt mit “Werten”.
Wer immer je in politischen Strukturen tätig war, weiß, dass das Ringen
zwischen Unten und Oben, zwischen Parteimitgliedern und Abgeordneten,
zwischen Abgeordneten und Regierung, stets eines um Genauigkeit der
Formulierung ist. Wenn mir jemand verspricht, 20 Flaschen Wasser zu
liefern, kann ich sie nachzählen und monieren, sollten es nur 15
geworden sein. Wenn die Aussage lautet: “Ich werde dir mal was zu
trinken vorbeibringen”, kann das am Ende auch eine Flasche bedeuten,
oder gar keine, weil mit “mal” kein Zeitpunkt festgeschrieben ist. Je
nebulöser die Formulierung, desto größer die Handlungsfreiheit außerhalb
des demokratisch kontrollierten Rahmens. Man stelle sich einmal vor, es
gäbe ein außenpolitisches Grundsatzpapier, in dem wie in Punkt 17.12
des russischen stünde: “Deutschlands Stellung in der Weltwirtschaft
stärken, die nationalen Entwicklungsziele erreichen, für wirtschaftliche
Sicherheit sorgen, das ökonomische Potenzial des Staates realisieren” –
die gute Frau Baerbock hätte doch glatt gegen die Sprengung von Nord
Stream protestieren müssen.
Wie USA und NATO den Spielplan der Jugoslawienkriege der 1990er in der Ukraine neu auflegen wollen
Und nein, auf Ebene der EU sieht das nicht besser auch. Wobei die nur
scheinbar demokratisch verfasste EU sich schon allein deshalb um solche
grundsätzliche Dokumente drücken kann, weil der Kommission eben kein
Parlament mit Kontrollbefugnissen gegenübersteht. Wenn man eine
prinzipielle Festlegung sucht, muss man bis auf den Lissabon-Vertrag
zurückgehen, jenes Dokument, das als Verfassung in mehreren Staaten
abgelehnt worden war und darum dann unter Umgehung der Referenden als
Vertrag etabliert wurde. Aber leider stammt der Lissabon-Vertrag aus dem
Jahr 2007, und das Schlüsselwort der “regelbasierten Weltordnung” kommt
in ihm noch nicht vor. Stattdessen wird die Außenpolitik der ökonomisch
wie politisch eher nicht friedfertigen EU so definiert: “In ihren
Beziehungen zur übrigen Welt schützt und fördert die Union ihre Werte
und Interessen und trägt zum Schutz ihrer Bürger bei. Sie leistet einen
Beitrag zu Frieden, Sicherheit, globaler nachhaltiger Entwicklung,
Solidarität und gegenseitiger Achtung unter den Völkern, zu freiem und
gerechtem Handel, zur Beseitigung der Armut und zum Schutz der
Menschenrechte, insbesondere der Rechte des Kindes, sowie zur strikten
Einhaltung und Weiterentwicklung des Völkerrechts, insbesondere zur
Wahrung der Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen.”
Damit kommt man nicht wirklich weiter, diese Formulierungen sind so viel
wert, wie es die Verurteilung des Angriffskriegs im deutschen
Grundgesetz seit den Luftangriffen auf Jugoslawien ist. Die Wirklichkeit
sieht anders aus, vor allem bei “gerechtem Handel” und “Beseitigung der
Armut”; als Beleg dafür reichen die Freihandelsverträge, die die EU so
gerne afrikanischen Staaten aufzwingt, deren Landwirtschaft dann mit
gefrorenen europäischen Hühnerflügeln geplättet wird. Und ja, dass die
Breschen für europäische – und damit auch deutsche – Exportwalzen unter
dem Etikett der EU geschlagen werden, kann vorzüglich darüber
hinwegtäuschen, dass die deutsche Außenpolitik sehr wohl von
ökonomischem Interesse geleitet wird. Die bösen Taten werden nur gerne
im europäischen Rudel begangen. Und selbstverständlich wirkt das
deutsche Außenministerium in Gestalt des Ministerrats daran mit, auch
wenn man über das Interesse an der kolonialen Ordnung in Deutschland so
wenig spricht wie im Haus des Gehängten über den Strick.
“Demokratiegipfel”: Die USA suchen sich neue “Ukrainen”
Ein Wort scheint die deutsche Außenpolitik ganz besonders zu scheuen
(außer es geht um die Ukraine, die davon gegenwärtig noch deutlich
weniger hat als Deutschland) – Souveränität. Genau das ist der Begriff,
der im russischen Dokument eine dominante Rolle spielt. Beziehungen
zwischen souveränen Staaten, bei denen die Achtung der Souveränität an
erster Stelle steht, das ist im deutschen Außenministerium unmöglich, es
werden sofort die Werte ausgegraben und dann die Demokratie. Und man
hat sich in ganz EU-Europa so sehr an Demokratie als Worthülse gewöhnt,
dass der Widerspruch gar nicht mehr auffällt, der zwischen der ständigen
Betonung, wie wichtig Demokratie sei, und der Geringschätzung der
Souveränität besteht.
Auch das ist ein Zustand, der sich von den höchsten bis in die
niedrigsten Ebenen findet. Man kann Wahlkreuzchen malen, bis die Finger
taub sind, das politische System ist voller Mechanismen, die jede
Wirksamkeit verhindern. Das beginnt bereits bei den Kommunen, in denen
eigentlich das demokratische Leben blühen müsste; aber in Deutschland
haben viele davon gar keine frei verfügbaren Haushaltsmittel, über die
entschieden werden könnte. Lokale Wirtschaftspolitik ist auch dank der
Ausschreibungspflichten kaum möglich, schon gar nicht über längere
Zeiträume; Infrastrukturmaßnahmen scheitern an EU-Verordnungen und so
weiter und so weiter … Wobei man bei den Regelungen oft nicht weiß, ob
sie aus Versehen oder aus Bösartigkeit die Funktion der lokalen
Strukturen untergraben. Aber wenn man, weil das örtliche Handwerk durch
die Ausschreibungspflichten dezimiert wurde, bei einem Wasserrohrbruch
keinen Klempner mehr bekommt, kann man sich ja mit einem hübschen
Faltblatt über LGBTQ-Rechte darüber hinwegtrösten.
Senatspräsidentin Simbabwes: Engagement Russlands für unabhängiges Afrika sorgt für frischen Wind
In Wirklichkeit ist der Begriff der Demokratie untrennbar mit
Souveränität verbunden. Die Souveränität ist die Voraussetzung dafür,
dass es etwas zu entscheiden gibt, und die Demokratie ist der Modus, in
dem die Entscheidungen getroffen werden sollten. Es gibt zwar
Souveränität ohne Demokratie, aber keinesfalls Demokratie ohne
Souveränität, denn der zweite Wortteil lautet Herrschaft, und diese kann
es ohne etwas, das beherrscht wird, nicht geben. Wenn man nun ernsthaft
davon ausgeht, dass alle Menschen gleich sind, kann man für sich selbst
nur beanspruchen, was man auch anderen zugesteht; damit wird die
Anerkennung der Souveränität anderer notwendiges Gegenstück der eigenen.
Ein Gedankengang, der Baerbock fremd ist. In Ermangelung eines
Grundsatzdokuments hier ein Zitat aus ihrer ersten Rede nach
Amtsantritt: “Es mag sich zwar gut anfühlen, normativ eine bessere Welt
zu beschwören, und Normativität ist wichtig. Sie bringt uns allein aber
nicht ans Ziel. Stattdessen müssen wir nüchtern analysieren, dass
Akteure wie China, Russland, aber auch andere Staaten, die der Economist
kürzlich ‘Midsized Meddlers’ nannte, ihre Vorteile auf andere Weise
suchen, als wir das für tragfähig halten.” Diese Sätze stammen sicher
nicht von ihr; aber der subtil-koloniale Tonfall ist ihr nicht
wesensfremd.
“Normativität” übersetzt sich mit Verbindlichkeit, Geltung. Um die volle
Bandbreite dieser Aussage zu verstehen, muss man den Unterton der
Formulierung “Midsize Meddlers” offenlegen. Das englische Wörterbuch
spricht von Personen, die Dinge verändern oder beeinflussen wollen, die
sie nichts angehen. Mittelgroße Störenfriede also, die den wirklich
großen ins Handwerk pfuschen wollen. Die großen dürfen, das wird
impliziert, selbstverständlich verändern und beeinflussen, und sie
dürfen auch darüber entscheiden, was sie “für tragfähig halten” und was
nicht, und zwar – hier kommt die “Normativität” ins Spiel – jenseits der
völkerrechtlichen Normen. Ganz nebenbei erklärt die Dame auch noch,
dass sie selbstverständlich zu den Großen gehört, die den aufmüpfigen
Emporkömmlingen mit dem Lineal auf die Finger schlagen.
Afrika unter Belagerung – Wie der Westen versucht, sein “koloniales Erbe” zu retten
Damals immerhin sagte sie noch: “Wir können uns einen Zerfall der
Weltgemeinschaft in unversöhnliche Lager nicht leisten.” Nur, um kurz
darauf – wir befinden uns im Herbst 2021 – mit aller Kraft dazu
beizutragen, dass ebendies geschah. Ohne dass irgendwo sichtbare
Überlegungen stattfanden, ob diese Entwicklung überhaupt im deutschen
Interesse liegt. Im Interesse der Bevölkerung jedenfalls nicht.
An einem Punkt gibt es eine Übereinstimmung zwischen beiden Dokumenten;
auch Baerbock stellte fest: “In den vergangenen Jahren hat sich die
weltpolitische Lage tiefgreifend verändert.” Im russischen Papier steht:
“Die Menschheit erlebt eine Phase revolutionären Wandels.” Nur die
Reaktion darauf ist genau entgegengesetzt. Während die russischen
Leitlinien die Entwicklung begrüßen und versuchen, den Beitrag zu
definieren, den Russland zu einer Welt ohne Kolonialismus leisten kann
(und daran erinnern, welchen Beitrag die Sowjetunion in diese Richtung
geleistet hat), verfällt Baerbock in die Klage: “Wir leben in einer Welt
ohne wirkliche globale Führung”, um dann nachzusetzen: “In einer
solchen Welt muss die europäische Rolle weiter gestärkt werden.” Da ist
sie, die Resonanz auf Steinmeiers “Europa führen, um die Welt zu
führen”.
Das, was auch die deutsche Außenpolitik in diesem Zusammenhang ausmacht,
hat das russische Dokument ebenfalls treffend beschrieben: “Eine große
Auswahl illegaler Mittel und Methoden wird genutzt, einschließlich des
Einsatzes erzwingender Maßnahmen (Sanktionen) unter Umgehung des
UN-Sicherheitsrats, der Provokation von Umstürzen, bewaffneten
Konflikten, Drohungen, Erpressungen, Manipulation des Bewusstseins
bestimmter sozialer Gruppen und ganzer Nationen, offensive und
subversive Handlungen im Informationsraum.”
Von wegen Verbündete: Deutschland ist umgeben von Feinden
Der bewaffnete Konflikt in der Ukraine ist Teil dieser Liste, angerührt
und aufgekocht von der EU und den Vereinigten Staaten, unter besonders
tatkräftiger Mithilfe der deutschen Außenpolitik, auf die Baerbock mit
ihrer Zurückweisung der Minsker Abkommen Ende 2021 nur noch das
Sahnehäubchen setzte. “Die Kultur des Dialogs in der internationalen
Sphäre zerfällt, die Wirksamkeit der Diplomatie als Mittel friedlicher
Beilegung von Disputen nimmt ab”, beschreibt das russische Dokument die
augenblickliche Lage. Baerbock ist geradezu dieser Satz in Fleisch
gegossen.
“Die Bedingungen zu schaffen, dass jeder Staat neokoloniale und
hegemoniale Ansprüche zurückweisen kann”, das ist eines der Ziele des
langen und ausführlichen russischen Dokuments. Und: “Der Mechanismus für
die Bildung universeller völkerrechtlicher Normen sollte auf dem freien
Willen souveräner Staaten beruhen.” Das ist etwas anderes als die
“regelbasierte Ordnung”, die auch Baerbock gern im Munde trägt und die
ihren völlig arbiträren Charakter in den letzten Jahren deutlich genug
bewiesen hat. Man könnte fast versucht sein, hinter dieser
Geringschätzung des Völkerrechts eine tiefer liegende Ablehnung zu
vermuten, die daher rührt, dass beim letzten großen Schritt seiner
Entwicklung Deutschland einzig als abschreckendes Beispiel mitwirkte,
denn die Wurzel der UN-Charta sind die Nürnberger Prozesse.
In Wirklichkeit rührt ihre Arroganz aber aus einer zerfallenden
kolonialen Ordnung, die gerade die deutschen Grünen, aus denen Baerbock
stammt, mit einer “raffinierten neokolonialen Politik”, in diesem Fall
mit dem Etikett “Klimaschutz”, zu sichern suchen; einer Ordnung, die
Russland, das wird im neuen Dokument in aller Deutlichkeit formuliert,
zu beenden sucht. Wobei die deutsche Außenpolitik gerade durch ihre
Orientierung auf diese koloniale Ordnung den objektiven deutschen
Interessen inzwischen sogar zuwiderhandelt, außer, man hielte eine
Handvoll Milliardäre für die einzigen Deutschen, die berechtigt sind,
Interessen zu haben.
Vom Westen vorangetrieben: Hunger ist das Ergebnis imperialistischer Machtspiele
Richtlinien für eine deutsche Außenpolitik jedenfalls, die nur rein
qualitativ mit den russischen mithalten könnten, also auf einer Analyse
der eigenen Interessen wie der globalen Situation beruhen und daraus die
erforderlichen Schlüsse ziehen, und die tatsächlich, frei vom
Bestreben, andere zu unterwerfen, nach Möglichkeiten wechselseitigen
Nutzens suchten, kämen zu einem völlig anderen Ergebnis, als es das
Auswärtige Amt derzeit liefert. Momentan muss man sich mit dem
Versprechen trösten, Russland werde, sofern sie wieder zu Sinnen kommen,
“den europäischen Staaten helfen, ihren rechtmäßigen Platz in der
Größeren Eurasischen Partnerschaft und der multipolaren Welt finden”.
https://meinungsfreiheit.rtde.life/meinung/166694-russland-hat-ein-aussenpolitisches-konzept-deutschland-hat-baerbock/
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