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SOZIALISMUS
WAS BLEIBT?
Die DDR in
der deutschen Geschichte – Leerstellen, Irrwege, Anregungen
Von
Stefan Bollinger
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Vielleicht sollten wir es mit dem großen
französischen Historiker Marc Bloch halten: »Angesichts der
Gegenwart befinden wir uns immer ein wenig in der Situation jenes
Chemikers, der ein Experiment protokollieren soll, dessen letzte
Reaktion noch gar nicht stattgefunden hat. Trotz all dieser
Schwierigkeiten (…) können wir nur durch eine Untersuchung der
Vergangenheit zu einer Analyse der (gegenwärtigen) Gesellschaft
gelangen.«¹
Hier kann es um keine Ehrenrettung für die DDR
gehen. Sie hat das nicht nötig. Aber sie bedarf einer nüchternen,
kritischen, in die historischen Zeitläufe, Konflikte und Moden ihrer
Zeit hineinpassende Analyse. Natürlich stellt jede Generation –
mit ihren Erfahrungen und Einsichten, ihrem Wissen und ihren
Vorurteilen – ihre Fragen.
Fremdbestimmte
Episode
Für die »Sieger der Geschichte« ist es
einfach, den praktizierten Sozialismus zu verdammen, weil sie mit den
Angriffen auf das heilige Eigentum, auf die Macht und Privilegien der
herrschenden Klassen nichts gemein haben. Der heutige Mainstream hat
klare Prämissen:
– Eine sozialistische Perspektive in
Deutschland war und ist inakzeptabel für Kapitaleigentümer und
herrschende Eliten; ehrlicherweise bestimmte diese Frage (und
seltener die, welcher Sozialismus es denn sein sollte) die
Frontstellungen deutscher Nachkriegsgeschichte.
– Der ewige
Drang nach der Einheit habe Handeln, Denken und Fühlen der Ost- wie
Westdeutschen bestimmt, die Teilung war nur eine Episode der
Fremdbestimmung.
– Trotz aller Relativierungen wird die
Auseinandersetzung mit den »zwei Diktaturen auf deutschem Boden«
gepflegt, totalitarismustheorisch der »verordnete Antifaschismus«
der DDR abgewertet.
Wir reden über einen Staat, der vor gut
drei Jahrzehnten beseitigt wurde und der viereinhalb Jahrzehnte
existierte. Er ist beileibe keine »Fußnote in der Weltgeschichte«,
wie Stefan Heym befürchtete. Seine Nachwehen sind allgegenwärtig,
bestimmen in der einen oder anderen Weise bis heute soziale
Spannungen und politische Weichenstellungen. Die DDR ist heute
vorrangig aus zwei Gründen nicht in der historischen Versenkung
verschwunden: erstens, weil die jüngeren politischen Entwicklungen
zeigen, dass ein beachtlicher Teil der Wähler im Osten zu
Tabubrüchen bereit ist und mehr oder minder stramm rechts jenseits
des akzeptierten Konservatismus wählt; und zweitens, und damit
zusammenhängend, weil sich der realsozialistische Staat im Zuge
seiner Abwicklung und Transformation weder spurlos in einer
westdeutsch definierten Erfolgsgeschichte aufgelöst hat noch aus den
Erinnerungen der Ostdeutschen gelöscht ist.
Damit geht es der
DDR anders als dem Sozialismus in Osteuropa, der von den heute dort
herrschenden Eliten in der eigenen Nationalgeschichte versenkt worden
ist. Der Sozialismus erscheint dort oft genug lediglich als eine Art
fortgesetzte Okkupationsgeschichte im Anschluss an den Zweiten
Weltkrieg und die deutsch-faschistische Besatzung, die 1989/90
endlich beendet wurde.
Gemeinsamkeiten
und Widersprüche
Kritische Historiker mögen sich
zurücklehnen und gemeinsam mit Politikwissenschaftlern und
Soziologen einfach die Lage analysieren. Ein genauerer Blick zeigt
aber, dass es um die Menschen geht, die DDR, »Wende« und
anschließende Transformation erlebt haben, nicht um eine gerechtere
Bewertung der DDR in der deutschen Geschichte. Aleida Assmann, eine
Kennerin der Vergangenheitspolitik, hat recht: Die westdeutsch
dominierte »Wiedervereinigung« hatte Folgen. »Während die
Revolution dem Osten gehörte, gehört die Wiedervereinigung dem
Westen. Ab jetzt wird wieder von oben gehandelt und verordnet. Der
Beitritt der DDR ist ein Verwaltungsakt. Dafür steht symbolisch der
3. Oktober, der kein historisches, sondern ein geschäftsmäßiges
Datum ist. Mit dem Beitritt war die Wende gewendet und ihr Ende
besiegelt. (…) Die Kolonisierung des Ostens durch den Westen
geschah nicht nur durch Akte wie die Einführung der D-Mark, die
Privatisierung von Kollektivbesitz durch die Treuhand oder den
Elitentransfer von West nach Ost. (…) Die Geschichte der Wende
wurde in der Sprache der Sieger erzählt und verbreitet.«² Genauer,
die Enteignung des Versuchs einer demokratisch-sozialistischen
Revolution für eine neue, aber sozialistische, demokratische und
souveräne DDR wurde und wird auf die ganze Geschichte dieses anderen
Deutschlands ausgedehnt.
Das jahrzehntelange Geschwätz von
der »Einheit der Nation«, der anzustrebenden »Wiedervereinigung«,
um »in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands
zu vollenden«, wie es im Grundgesetz von 1949 heißt, war letztlich
immer Tarnung für die allein der Bundesrepublik zustehende Befreiung
des »kommunistischen« Teils Deutschlands. Den Vergesslichen sei die
klare Ansage des ersten Bundeskanzlers Konrad Adenauer ins Stammbuch
geschrieben: »Die Bundesregierung unterstützt jederzeit und mit
allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln den Willen der Bevölkerung
in der Sowjetzone nach Befreiung von dem kommunistischen Joch der
Sozialistischen Einheitspartei (…) und nach einer wahrhaft
demokratischen Vertretung. Die Wühlarbeit des Kommunismus in der
Bundesrepublik wird sie energisch unterbinden.« Dieser Kernsatz der
Regierungserklärung vom 14. September 1950 löste »lebhafte(n)
Beifall auf allen Seiten des Hauses mit Ausnahme der KPD« aus.³ In
den folgenden Jahrzehnten wurde mit beiden Aufgabenstellungen so
Ernst gemacht, wie es das internationale Kräfteverhältnis zuließ:
Wiederbewaffnung, Westintegration, Propaganda- und Geheimdienstkrieg,
KPD- und Berufsverbot.
Erst die Kuba- und die Berlin-Krise
1961 und 1962 machten Washington vorsichtiger. Die SPD begriff dies
und ihr Vorstoß zu einer »neuen Ostpolitik« weichte diese
unerbittliche Frontstellung auf. Willy Brandt wollte, so sein
Anspruch beim Regierungsantritt 1969, »ein weiteres Auseinanderleben
der deutschen Nation verhindern, also versuchen, über ein geregeltes
Nebeneinander zu einem Miteinander zu kommen«.⁴ Die »Kulturnation«
sollte das einigende Band zwischen BRD und DDR sein, rückversichert
in gemeinsamer Sprache und Geschichte.
Nur
Repression und Mauer
Die Zeiten haben sich zweifellos
geändert. Heute besteht kein Bedarf mehr, mit der DDR ins Gespräch
zu kommen und sich der gesamtdeutschen Gefühle und Verbindungen zu
versichern. Die DDR steht in den meisten Geschichtsdarstellungen
heute nur noch für Repression und Mauer. Deutschland konnte in
seiner Geschichte – bei allen Irrtümern und blutigen Konflikten –
nur dem Westen verpflichtet sein, der für Heinrich August Winkler
unausgesprochen zwangsläufig mit dem Kapitalismus verbunden war und
ein Hort der Menschenrechte sei.⁵ Auch wenn Winkler die DDR bekannt
ist – bei ihm wie bei vielen Kollegen seiner Zunft ist die DDR
lediglich die Folie, von der sich die westdeutsche und seit 1990
gesamtdeutsche Erfolgsgeschichte leuchtend und nur mit wenigen Makeln
behaftet abhebt. Der Anspruch, gar die Notwendigkeit einer linken,
radikalen sozialistischen Abkehr von der kapitalistischen
Entwicklungslogik, die in zwei von Deutschland wesentlich ausgehenden
Weltkriegen, in eine faschistische Diktatur über das eigene Volk
sowie die Völker Europas, in Mord und Völkermord an Juden, Sinti
und Roma, Slawen, »Lebensunwerten« gipfelte, bleibt unverstanden
oder wird zur machtpolitischen Fassade einer kommunistischen Diktatur
degradiert. Der Westen, so Edgar Wolfrum, ist geadelt durch eine
»geglückte Demokratie«.⁶
Zur Ehrenrettung der
Historikerzunft sei auf die Einsicht des Freiburger Historikers
Ulrich Herbert verwiesen, der trotz aller Kritik am DDR-Sozialismus
dessen Platz in der deutschen Geschichte zutreffend verortet: »Der
Aufbau des Sozialismus in der DDR war nicht allein ein Element der
Ausdehnungs- und Stabilisierungspolitik der Sowjetunion im Kalten
Krieg. In der Perspektive der deutschen Kommunisten erfüllte sich
damit eine Hoffnung der Menschheit ebenso wie eine Gesetzmäßigkeit
der Geschichte, und nur vor diesem Hintergrund ist die Entwicklung
der DDR verständlich.« Politische Macht der Arbeiterklasse
respektive ihrer Partei, die Aufhebung des Privateigentums an den
Produktionsmitteln und die Erziehung eines neuen Menschen sollten in
einem Prozess des Klassenkampfes zu einer sozialistischen
Gesellschaft führen. Vor diesem Hintergrund könne man die
»Perspektive überzeugter Kommunisten im Jahre 1949/50 vor Augen
haben, um die zahlreichen Widersprüche und Enttäuschungen, aber
auch den zukunftssicheren Enthusiasmus und den Fanatismus der
Anhänger und Kader der kommunistischen Bewegung in der DDR
nachvollziehen zu können.«⁷
Eine Durchsicht der
historischen Arbeiten über die Zeit zwischen 1945 und 1990 lässt
den Blick auf eine gemeinsame Geschichte vermissen. Im Kontext von
»neuer Ostpolitik« und widersprüchlicher Erfahrung des Kalten
Kriegs der 1960er Jahre unter dem nuklearen Damoklesschwert gab es
indes durchaus Ansätze des Umdenkens. So wandte sich der Politologe
Peter Christian Ludz gegen die bis dahin dominierende (und heute
wiederbelebte) Totalitarismustheorie. Er sah den DDR-Sozialismus im
ständigen Wandel und setzte auf empirische, vergleichende
Untersuchungen.⁸ Dieser Forschungsansatz schlug sich auch in den
»Handbüchern zur DDR« nieder, insbesondere auch in dem am Vorabend
des Untergangs der DDR noch fertiggestellten, aber dann in die
hintersten Regalplätze verdammten »Handbuch zur doppelten Bilanz
1949–1989« nieder.⁹
Bei den Historikern leistete
Christoph Kleßmann mit seiner vergleichenden und verbindenden
Geschichte der deutschen Staaten eine bis heute nicht ernsthaft
fortgesetzte Pionierarbeit.¹⁰ Manche Kollegen sprechen seit
einigen Jahren vom Ansatz einer »asymmetrischen
Parallelgeschichte«.¹¹ Aber das sind Ausnahmen innerhalb der
westdeutsch dominierten Historikerschaft. Ein wirkliches Interesse
für einen doppelbiographischen Ansatz ist nicht zu
erkennen.
Doppelbiographie
Dieser
Ansatz blieb Historikern überlassen, die aus dem anderen Teil
Deutschlands in die neue staatliche Einheit finden sollten und nicht
bereit waren, die Geschichte der DDR von einem gesamtdeutschen Bezug
abzukoppeln. Nicht zufällig stellte die damalige PDS in Gestalt
ihrer Historischen Kommission dem Wiedervereingungs- und
Einheitsgeschwätz widerständig die Idee von der »Doppelbiographie«
beider deutscher Staaten entgegen.¹² Dieses Diskussionsangebot
spielt für die Mainstreamhistoriker, aber leider auch für die
meisten linken Diskussionszusammenhänge bis heute keine Rolle.
Es
gilt zu begreifen, dass die Anerkennung der DDR als Teil der
deutschen Nationalgeschichte die Anerkennung des Versuchs einer
sozialistischen Gesellschaft einschließt. Das bedeutet ebenso zu
begreifen, dass es den erbitterten Versuch der im Westen Deutschlands
herrschenden Klassen und der ihr hörigen Intellektuellen wie des
Staatsapparates gab, diesen Ausbruch aus dem Kapitalismus scheitern
zu lassen. Damit sollte natürlich gleichzeitig auch verhindert
werden, dass das im Westen Nachahmer finden könnte. Die
antikapitalistischen Momente des Ahlener Programms der West-CDU von
1947 blieben eben nur eine Episode, genauso wie die Utopien der
Studentenbewegung.
Die Konsequenzen der Konfrontation von
Kapitalismus und Sozialismus für die deutsche Geschichte und
Gesellschaftspolitik zwischen 1945 und 1990 liegen auf der Hand:
Erstens manifestierte sich nun die Konfrontation der Klassen als
Konfrontation von Staaten und Gesellschaftskonzepten. Die Geschichte
Deutschlands war nun gespalten an der Klassenlinie und der
Entscheidung für oder gegen den Sozialismus als Gesellschaftsziel
mit all seinen Konsequenzen an vergesellschaftetem Eigentum an den
Produktionsmitteln, der Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums
wie der Bildungschancen zu Lasten der Besitzenden, in dem Anspruch,
dass die arbeitenden Menschen, die Arbeiterklasse, demokratisch ihre
Verhältnisse in Staat, Kommune und Betrieben selbst entscheiden
sollten. Wir wissen um die Schwierigkeiten und Fehlentwicklungen des
Realsozialismus, um die Kluft zwischen diesem Anspruch und der
Realität, aber auch, dass es über lange Zeiten, namentlich nach dem
Mauerbau 1961 gelang, nicht wenige DDR-Bürger für das tatkräftige
Mitwirken an der Gestaltung ihrer Gesellschaft zu gewinnen.
Zugleich
verabschiedeten sich die einflussreichsten Teile der nun
westdeutschen Großbourgeoisie von der starren und unbeweglichen
Frontstellung gegen die Arbeiterbewegung und wählten einen
flexibleren Weg, der den westdeutschen Staat und seine Gesellschaft
neu ausrichtete. Eine »soziale Marktwirtschaft«, d. h. die
möglichst weitreichende soziale Absicherung der Beschäftigten und
die Eröffnung eines mehr oder minder bescheidenen, aber stetig
wachsenden Wohlstandes sollten die Klassenkämpfe der Vergangenheit
vergessen machen und gleichzeitig gegen die Verheißungen des
Sozialismusversuchs jenseits der Elbe immunisieren. In der
Sozialdemokratie und den Gewerkschaften fanden Bourgeoise und
konservative Politik Partner. Die Studentenbewegung ab 1968 wurde
dank der »repressiven Toleranz«, wie es Herbert Marcuse nannte, in
den »Marsch durch die Institutionen« – und viel wichtiger – in
die Individualisierung geschickt.
Zweitens waren beide
deutsche Staaten Teil der Block- und Systemkonfrontation. Sie
erwiesen sich als jeweils beste Schüler ihrer Super- und
Garantiemächte USA und Sowjetunion. Sie entwickelten beispielhafte
Strategien in ihren Blöcken, die sie nicht nur zu wertvollen
militärischen Garanten der Spaltung Europas machten. Sie waren
zugleich Vorreiter einer jeweils modernen Gesellschaftsgestaltung,
die offen für die wirtschaftlichen und wissenschaftlich-technischen
Herausforderungen ihrer Zeit war und eine enge soziale Bindung ihrer
Bürger garantieren sollte. Die erheblichen Rüstungsanstrengungen
beider Seiten belasteten die Volkswirtschaft und die soziale Lage der
Bevölkerung, wurden aber unterschiedlich verarbeitet. Profite aus
der Rüstungsproduktion kamen der DDR ebenso wenig zugute wie die
Bindung von Ressourcen für Verteidigung ihren Spielraum
beeinträchtigte.
Die Resultate dieser Unterordnung unter die
Interessen des Blocks und ihrer Führungsmacht waren unterschiedlich.
Für die DDR wurde die Einbindung in den wirtschaftlich weniger
innovativen, weniger leistungsfähigen Teil der Weltwirtschaft
zunehmend zum Hemmschuh, auch wenn sie versuchte daraus das Beste zu
machen. Gleichzeitig war die Systemauseinandersetzung auch mit harten
ideologisch-propagandistischen wie geheimdienstlichen Konflikten
verbunden. Die sorgten nicht zuletzt dafür, dass die Unterstützung
der jeweils anderen Seite durch oppositionelle Personen oder Gruppen
stets als Arbeit einer »Fünften Kolonne« denunziert und mögliche
Entwicklungspotentiale aus dieser Opposition heraus zerstört wurden.
Das hatte besonders für die DDR mit ihrer immer beharrlicher
werdenden Reformverweigerung fatale Konsequenzen.
Ähnliche
Herausforderungen
Beide deutsche Staaten standen
drittens Zeit ihrer Existenz vor ähnlichen Herausforderungen, denen
sie sich stellen mussten – über Geschichte und Sprache verbunden,
sich jeweils durch den Widerpart legitimierend, sich bekämpfend,
voneinander unausgesprochen lernend, in der Schlussphase auch
kooperierend.
– Sie mussten aus eigenem Willen und getrieben
durch die Besatzungsmächte mit dem Faschismus abrechnen und
demokratische Verhältnisse nach Washingtoner oder Moskauer Duktus
etablieren und die Deutschen dafür gewinnen. Das schloss den
wirtschaftlichen Wiederaufbau und die Integration in eine
internationale oder doch zumindest blockbestimmte Arbeitsteilung ein,
nicht zuletzt im Interesse der Verbesserung der Wohn-, Lebens- und
Arbeitsbedingungen.
– Schnell standen die Westzonen/BRD und
die SBZ/DDR vor dem Zwang, sich im Kalten Krieg auf der »richtigen«
Seite zu verorten, einen eigenen Beitrag für den jeweiligen Block zu
leisten und soweit es ging – und es ging für die BRD schneller –
eigene außenpolitische Interessen zu entwickeln.
– Das
bedeutete auch eine gewisse Abnabelung von der jeweiligen
Führungsmacht, in dem Bewusstsein, dass Deutschland sich nicht auf
ein künftiges Schlachtfeld im Dritten Weltkrieg reduzieren lassen
durfte. Die »neue Ostpolitik« der BRD und das Entgegenkommen der
DDR in den 1970er Jahren, schließlich das Konzept einer
Sicherheitspartnerschaft im »neuen« Kalten Krieg der 1980er Jahre
gehörten dazu.
– Beide Staaten waren nur zu stabilisieren
und politisch zu beherrschen, wenn es gelang, sozialen Wohlstand, ein
akzeptiertes Maß an sozialer Gerechtigkeit und Sozialpolitik zu
gewährleisten. Gerade hier achteten BRD und DDR sehr genau darauf,
was die andere Seite erfolgreicher praktizierte. Für die DDR blieb
es aber immer ein Wettbewerb, in dem sie die schlechteren
wirtschaftlichen Voraussetzungen hatte.
– Als historisch
hochentwickelte Wirtschafts- und Wissenschaftsstandorte waren beide
Staaten besonders der Meisterung der wissenschaftlich-technischen
Revolution verpflichtet. Das entschied über ihren Platz im eigenen
Bündnis, über die Attraktivität für ihre Bürger, aber auch ihre
Position gegenüber dem jeweils anderen Deutschland.
– Beide
öffneten sich für die Staaten der »Dritten Welt« im Kontext der
Systemauseinandersetzung und im Spannungsfeld von Neokolonialismus
und internationalistischer Solidarität, auch mit Blick auf die
Konkurrenz untereinander.
– Viertens verstanden sich beide
deutsche Staaten über lange Zeit als Ausdruck einer deutschen
Nation, die sich in der DDR seit den 1970er Jahren allerdings zu
einer sozialistischen deutschen Nation der DDR weiterentwickeln
sollte.
Die 45 Jahre SBZ und DDR stehen in der deutschen
Geschichte für einen Auf- und Ausbruch aus der langen Geschichte der
Ausbeutergesellschaften, für den Versuch, ein besseres Deutschland
ohne Ausbeutung und Unterdrückung zu verwirklichen. Es gelang
tatsächlich, was gerade nach dem Ende der DDR immer wieder
angegriffen wird: einen Antifaschismus zu praktizieren, sowohl
verordnet als auch für eine überwiegende Mehrheit der DDR-Bürger
verinnerlicht. Nationalismus und Rassismus schienen ausgerottet, die
Liebe zur Arbeit, zur kollektiven Gesellschaft konnten lange
dominieren und über die Konstruktionsmängel des Realsozialismus
hinwegtäuschen: die Vorherrschaft einer allwissenden und alles
lenkenden Partei, die ebenso paternalistisch wie patriarchal die
Geschicke der Gesellschaft lenken wollte, bis die Arbeiterklasse und
das Volk reif genug wären, eine umfassende sozialistische Demokratie
zu verwirklichen. Sie ließen den Sozialismusversuch schließlich
scheitern.
In einer feindlichen Umwelt und unter erheblichem
Druck kehrte die DDR in den Schoß des kapitalistischen Deutschland
zurück. Die Bürger dieses Staates wollten jetzt und hier materiell
besser leben, reisen, mit harter Währung etwas darstellen in der
Welt. Sie mussten erst lernen, welchen Preis sie dafür zu entrichten
hatten – und sie lernen es nach wie vor, denn die Spaltung der
Gesellschaft zwischen Ost und West, die soziale Spaltung wirkt ja
unverändert fort. Nur, Lernprozesse können dauern und nicht jede
Schlussfolgerung muss stimmen.
Bleibende
Herausforderung
Bei mancher Hoffnung, dass der Osten
Deutschlands die Hefe für eine »doppelte Transformation« des nun
vereinten Deutschland sein könnte, vergessen diejenigen, die solche
Hoffnungen äußern, dass weder der unvollständige, aber störende
Sozialismus der DDR noch existiert, noch eine starke, geschlossen
agierende Linke in Form von Parteien, Bewegungen und Sympathisanten
diesen Prozess befördert. Vielleicht auch deswegen ist die Forderung
nach einem angemessenen historischen Platz der DDR als eines anderen,
im Anspruch besseren Deutschlands, nicht nur für die
Geschichtswissenschaft so wichtig. Um mit Stefan Heym den
Gedankenkreis zu schließen: »Der Sozialismus (…) ist unser Baby.
Wenn der arme Wurm schielt, O-Beine hat und Grind auf dem Kopf, so
bringt man es deshalb doch nicht um, sondern man versucht, es zu
heilen.«¹³ Das scheiterte 1989. Die Herausforderung ist geblieben
– auf neue Weise und sicher nicht als alte DDR – aber irgendwann:
als ein sozialistisches Deutschland zwischen Oder und
Rhein.
Anmerkungen
1 Marc Bloch: Aus der
Werkstatt des Historikers. Zur Theorie und Praxis der
Geschichtswissenschaft. hg. u. mit einem Nachw. v. Peter Schröder,
Frankfurt/M./New York/Paris 2000, S. 55
2 Aleida Assmann: Die
Wiedererfindung der Nation. Warum wir sie fürchten und warum wir sie
brauchen, München 2020, S. 202
3 Deutscher Bundestag.
Protokoll 85. Sitzung. Bonn, 14. September 1950. BT-Drs. 1/085, S.
3184
4 Deutscher Bundestag. Protokoll 5. Sitzung. Bonn, 28.
Oktober 1969. BT-Drs. 6/005, S. 21
5 Heinrich August Winkler:
Geschichte des Westens. Vom Kalten Krieg zum Mauerfall, München
2014
6 Edgar Wolfrum: Die geglückte Demokratie. Geschichte
der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart,
Bonn 2007
7 Ulrich Herbert: Geschichte Deutschlands im 20.
Jahrhundert, München 2014, S. 625 u. 627
8 Siehe damals
methodisch stimulierend: Peter Christian Ludz: Parteielite im
Wandel. Köln-Opladen 1968.
9 Siehe Werner Weidenfeld/Hartmut
Zimmermann (Hg.): Deutschland-Handbuch. Eine doppelte Bilanz
1949–1989, Bonn 1989
10 Siehe Christoph Kleßmann: Die
doppelte Staatsgründung. Deutsche Geschichte 1945–1955, 5.
überarb. Aufl., Bonn 1991; ders.: Zwei Staaten, eine Nation.
Deutsche Geschichte 1955–1970, 2. überarb. u. erw. Aufl., Bonn
1997
11 Siehe Udo Wengst/Hermann Wentker (Hg.): Das doppelte
Deutschland. 40 Jahre Systemkonkurrenz, Bonn 2008
12 Dazu: Die
Doppelbiographie der Bundesrepublik. Zum Phänomen der deutschen
Zweistaatlichkeit. Thesenpapier der Historischen Kommission vom 6.
März 1999 (erarbeitet von Jürgen Hofmann). In: Ronald
Friedmann/Jürgen Hofmann (Hg.): Den Sozialismus am humanistischen
Ansatz messen. Erklärungen der Historischen Kommission beim Vorstand
der Partei Die Linke, Berlin 2020, S. 49 f.
13 Stefan Heym:
Nachruf, Frankfurt/M. 1990, S. 573
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