Entnommen: https://linkezeitung.de/2020/12/16/die-unfaehigkeit-des-imperialismus/
Die
Unfähigkeit des Imperialismus
VERÖFFENTLICHT VON LZ ⋅ 16. DEZEMBER 2020
von
Björn Blach – https://www.unsere-zeit.de/
„Uns haben sie vergessen“ – Eine Analyse des
Kapitalismus unter Corona-Bedingungen von Peter Mertens
Die
zweite Welle hat Europa fest im Griff. Bayern hat erneut den
Katastrophenfall ausgerufen. Wer im Sommer glaubte, wir hätten die
Corona-Pandemie überwunden, ist inzwischen eines Anderen belehrt
worden. Alle Hoffnungen zur Lösung werden auf die Impfstoffe der
Pharmakonzerne gelenkt.
In diesen Wochen des „Lockdown
light“ durfte ich das neue Buch von Peter Mertens, Vorsitzender der
Partei der Arbeit Belgiens, lesen. Er hat eine Anklage gegen die
Unfähigkeit des Imperialismus geschrieben.
Belgien ist im
Frühjahr besonders hart von Covid-19 getroffen worden. Allein in den
Pflegeheimen starben 5.000 Menschen an den Folgen der Krankheit.
Peter Mertens weist nach, dass eine Großzahl dieser Todesopfer
vermeidbar war. Der belgische Pflegesektor wurde vor Jahren als
Profitquelle entdeckt. Die Privatisierung hat im gesamten Bereich den
Kostendruck erhöht. Ähnlich wie Deutschland besitzt auch Belgien
Planungen zum Umgang mit Infektionskrankheiten. Diese wurden sogar in
Pflegeheimen getestet. „Für durchschnittlich 20.000 Euro konnte
ein Pflegewohnheim auf einen Ausbruch angemessen vorbereitet werden.
(…) Die Infektionsprävention ist ins schwarze Loch der
Regionalisierung des Landes verschwunden. (…) Das haben wir in
dieser Krise teuer bezahlt.“
Peter Mertens‘ Buch ist
erschreckend und wohltuend zugleich. Er beschreibt eine Krankheit,
deren Auswirkungen in den Klassenverhältnissen begründet sind. Eine
Infektionskrankheit, die die Menschheit, beim Stand ihrer
Produktivkraftentwicklung, in kurzer Zeit im Griff haben sollte.
Wären da nicht die Fesseln der Produktionsverhältnisse.
„Bei
den ersten Lockdown-Maßnahmen im März will Flanderns
Ministerpräsident Jan Jambon, dass die Haushaltshilfen weiter
arbeiten. ‚Man kann sich doch in den ersten Stock setzen, wenn die
Putzfrau unten arbeitet‘, meint er. Damit kreiert der Politiker (…)
ungewollt eine klare Metapher der Gesellschaft: Während die
Putzfrauen in den unteren Stockwerken weiter arbeiten müssen, zieht
sich die Elite in die sicheren Ebenen zurück.“
Das
Corona-Virus bezeichnet Mertens als „Klassenvirus“. Er analysiert
die Auswirkungen der Pandemie in ganz Europa. Es trifft in allen
Ländern die Schwächsten und Ärmsten. In prekären
Beschäftigungsverhältnissen ist auch der Arbeitsschutz prekär.
Etwa die Saisonasrbeiter auf den südeuropäischen Gemüseplantagen
oder die Werkvertragsarbeiter bei Tönnies. Ihre Arbeitskraft ist
systemrelevant. Sie sichert den Monopolen ihre Profite. Die Personen,
die ihre Arbeitskraft verkaufen müssen, sind austauschbar.
Die
Arbeiterklasse gibt sich nicht kampflos geschlagen. Im Gegenteil.
Mertens gibt etliche Beispiele. Er zitiert Francesca Re David,
Vorsitzende des italienischen Verbandes der Metallarbeiter: „Die
Metallarbeiter waren die ersten, die es beschlossen haben: Stopp der
Produktion unter den unsicheren Umständen. (…) Wir haben für
unsere Sicherheit gestreikt. Zuerst lokal, bei Fiat zum Beispiel.
Danach national. Bis die Industrie nachgegeben hat (…). Erst dann
hat die Regierung eingegriffen. Sie hat letztlich beschlossen, alle
nicht essentiellen Betriebe stillzulegen. Das alles haben wir selbst
erzwingen müssen.“
Der Parlamentsfraktion der Partei der
Arbeit ist gelungen, dass Covid-19 in Belgien als Berufskrankheit
anerkannt ist. Damit haben Beschäftigte Zugang zu besseren
Leistungen und einer sozialen Absicherung bei einer Infektion und
eventuellen Spätfolgen.
Die eng mit der Partei
zusammenarbeitende Organisation „Gesundheit für das Volk“
unterstütze die belgischen Pflegeheime unter anderem mit der
Durchführung von Tests, ohne auf die Politik zu warten. Diese hatte
nach wochenlangem Verschieben der Verantwortung beschlossen, ab Ende
April Bewohner und Mitarbeitende zu testen. Das war so katastrophal
vorbereitet, dass Armee und „Ärzte ohne Grenzen“ um Hilfe
gebeten werden mussten. Die Ärzteorganisation überschrieb ihre
Bilanz des Einsatzes in 135 Pflegeheimen mit „Ihrem Schicksal
überlassen“.
Die hohen Infektionszahlen und die große
Sterblichkeitsrate in den westlichen Ländern ist kein Zufall. Sie
sind Folge des Unwillens der Herrschenden, das Virus zu bekämpfen,
und ihrer Arroganz gegenüber dem Rest der Welt. Mertens verweist auf
die erfolgreichen Strategien asiatischer Länder. Japan konzentriert
sich auf die Suche nach der Infektionsquelle, um die Kette zu
unterbrechen. „Hierfür verlässt Japan sich auf 450 lokale
Gesundheitszentren, die Hokenjo. Sie fokussieren sich auf die
Prävention.“ In Südkorea setzt man auf eine massive Teststrategie
und Kontakt-Tracing. China wählte den Ansatz umfangreicher
Lockdowns, großflächiger Tests und der Einbeziehung vieler
Ressourcen in den Kampf gegen das Virus. „Dieser durchdachte Ansatz
hatte Erfolg.“
Der Autor hat sein Buch im Sommer beendet. Da
hatte sich die Situation in Europa entspannt. Es hätte die Zeit
gegeben, sich auf den Herbst vorzubereiten. Doch geschehen ist
nichts. Die Fallzahlen in Deutschland haben sich verdoppelt. Genau
wie die Todesfälle. Vor sechs Wochen war ein Inzidenzwert von 50
gefährlich, jetzt jongliert man mit 200. Das lenkt ab. Mertens: „Der
Bequemlichkeit halber vergisst man dabei, dass der Patient, der
Kapitalismus, bereits krank war, bevor Covid-19 zugeschlagen hat. Ab
Mitte 2019 steuerte die Welt schon auf einen Absturz zu. Deutschland
– Deutschland! – war voriges Jahr das erste Land, das unter
Nullwachstum fiel.“ Ursachen sieht Mertens in der nicht
überwundenen Krise von 2008. Die milliardenschweren
Rettungsprogramme hätten zwar Banken vor dem Konkurs gerettet und
den Reichtum der Reichen vermehrt. Die kapitalistische Wirtschaft
habe aber nicht zur Normalform zurückgefunden.
Peter Mertens
fragt, wem die beschlossenen Hilfen der EU zur Krisenlösung nützen.
Er verweist auf Pläne für einen Green New Deal, die von
US-Senatorin Alexandria Ocasio-Cortez zusammen mit Bernie Sanders
vorgelegt wurden. Diese Ideen hätten den von Mertens vorgestellten
Prometheus-Plan inspiriert. Er beschreibt Bereiche, in die investiert
werden soll, um Reformen durchzuführen und Arbeitsplätze zu
schaffen. Neben dem Umbau des Energiesektors soll im Bereich der
Mobilität umgesteuert werden. Das dritte Element stellen
Investitionen in die Digitalisierung der Gesellschaft dar. Das
Element Pflege umfasst den Gesundheitsbereich und soll sicherstellen,
dass die Bedürfnisse der Menschen gestillt werden und nicht weiter
die Profite der Großkonzerne. Ein Hindernis für diesen Plan sieht
Mertens in „den europäischen Wettbewerbsprinzipien“, die man
abschaffen müsse. Im Gegensatz zur EU, die Steuern auf Einwegplastik
und Energie erheben wolle, schwebt Mertens eine europäische
Vermögensteuer vor. „Eine solche Perspektive ist Utopie und
Realismus zugleich. Utopie, denn wir befinden uns in der
Schattenphase zwischen der alten und der neuen Welt. Und
Gerechtigkeit scheint weit weg zu sein. Utopie, weil die Machthaber
jede Systemalternative als unmöglich abtun wollen und das
Geistesbeben noch nicht ausgetragen ist. Realismus, denn für den
Menschen und Planeten gibt es keine Alternative zu einer Welt, die
nach menschlichen Maßstäben funktioniert.“
Peter Mertens
legt auf 149 Seiten dar, dass der Kapitalismus am Ende ist, da er
weder in der Lage ist, mit der Pandemie fertig zu werden, noch ein
einziges anderes Problem der Menschheit im Sinne der Mehrheit zu
lösen. Er lässt keinen Zweifel daran, dass die Arbeitenden ihn
überwinden können. Wie sie das machen sollen, bleibt allerdings
mehr als vage, da Mertens der Macht- und Eigentumsfrage ausweicht.
Die vorgestellten Ideen des Prometheus-Plans werden sich nur gegen
die Interessen der Monopole durchsetzen lassen. Dazu muss ihre EU
weg, da sie ein Instrument ihrer Machterhaltung ist.
Leider
wird das Lesevergnügen des Buches durch viele Fehler gestört. Das
wird bei einer hoffentlich notwendigen Neuauflage verbessert werden
müssen. Peter Mertens: Unbedingt lesenswert.
Peter
Mertens
„Uns haben sie vergessen Die werktätige Klasse,
die Pflege und die Krise, die kommt“
Verlag am Park, 156 S.,
14,- Euro
ÜBER DEN AUTOR
Björn Blach, geboren 1976,
ist als freier Mitarbeiter seit 2019 für die Rubrik Theorie und
Geschichte zuständig. Er gehörte 1997 zu den Absolventen der
ersten, zwei-wöchigen Grundlagenschulung der DKP nach der
Konterrevolution. In der Bundesgeschäftsführung der SDAJ leitete er
die Bildungsarbeit. 2015 wurde er zum Bezirksvorsitzenden der DKP in
Baden-Württemberg gewählt.
Hauptberuflich arbeitet er als
Sozialpädagoge in der stationären Jugendhilfe
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