Entnommen: https://linkezeitung.de/2020/12/06/nato-2030-die-hirntot-gruppe-legt-ihren-bericht-nato-2030-vor/
NATO 2030
– Die „Hirntot“-Gruppe legt ihren Bericht NATO 2030 vor
VERÖFFENTLICHT VON LZ ⋅ 6. DEZEMBER 2020
von
Jürgen Wagner – http://www.imi-online.de/
Im Zangengriff zwischen US-Präsident Donald Trump und
Frankreichs Premier Emmanuel Macron hat es die NATO in den letzten
Jahren schwer gebeutelt. Trump machte aus seiner Geringschätzung des
Bündnisses und der Verbündeten ohnehin keinen Hehl, doch richtige
Schockwirkung entfalteten dann im November letzten Jahres Aussagen
von Macron, die allgemein als ernstzunehmendes Krisensymptom gewertet
wurden: „Was wir derzeit erleben, ist der Hirntod der Nato [Es
gibt] keinerlei Koordination bei strategischen Entscheidungen
zwischen den USA und ihren NATO-Verbündeten. Wir finden uns das
erste Mal mit einem amerikanischen Präsidenten wieder, der unsere
Idee des europäischen Projekts nicht teilt.“
Alarmiert war
augenscheinlich auch NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg, der dies
zum Anlass nahm, eine Expertengruppe damit zu beauftragen, Vorschläge
für eine Re-Vitalisierung des Bündnisses auszuarbeiten. Unter dem
Ko-Vorsitz von Ex-Verteidigungsminister Thomas de Maizière machte
sie sich seit April an die Arbeit und legte nun ihren Bericht
vor.
Der Zeitpunkt unmittelbar nach der Abwahl von Donald
Trump dürfte wohl kein Zufall sein, verspricht doch sein baldiger
Nachfolger Joseph Biden die Aussicht, die transatlantischen Reihen
wieder schließen zu können. Und genau dem widmet sich nun auch der
Bericht „NATO 2030“, indem er fordert, das Bündnis künftig
gegen Russland und auch – und das ist relativ neu – gegen China
noch aggressiver in Stellung zu bringen.
NATO-Strategie:
Drama in mehreren Akten
Von ihrer Gründung im Jahr 1949
an hatte die NATO als bewaffneter Arm des US-geführten Westens ein
klares Feindbild: die Sowjetunion. Als dieser Rivale Anfang der
1990er von der Bildfläche verschwand, musste schleunigst ein neuer
Daseinszweck gefunden werden. Aufbauend auf in den USA angestellten
Überlegungen ging es fortan darum, mittels militärischer
Interventionen die soeben erlangte westliche Vorherrschaft zu
bewahren und wenn möglich auszubauen.
Dieses Ziel schlug sich
in einer neuen NATO-Strategie nieder, die bereits beim Gipfeltreffen
in Rom im November 1991 verabschiedet wurde. Die vom Ostblock
ausgehende „berechenbare“ Gefahr sei nunmehr durch
„multidirektionale“ Bedrohungen ersetzt worden, hieß es darin.
Hierzu wurde seinerzeit bereits die Proliferation, also die
Verbreitung von Massenvernichtungsmitteln, Terrorismus, aber auch die
Unterbrechung wichtiger Rohstoffströme gezählt.
Die damit
angeschobene Transformation der NATO von einem – zumindest formalen
– Verteidigungsbündnis zu einer Interventionsallianz für Einsätze
außerhalb des Bündnisgebietes fand dann mit der Verabschiedung
eines neuen Strategiekonzeptes im April 1999 ihren vorläufigen
„krönenden“ Abschluss. Inmitten des einen Monat zuvor ohne
UN-Mandat begonnenen NATO-Angriffskrieges gegen Jugoslawien wurden
darin sogenannte Out-of-area-Einsätze zur neuen Kernaufgabe des
Bündnisses erklärt. Und um zu unterstreichen, dass sich das Bündnis
keinesfalls in seinen kriegerischen Unternehmungen durch das
Vetorecht Russlands (oder gar Chinas) im UN-Sicherheitsrat behindern
lassen wollte, wurde auch noch betont, man beabsichtige auch künftig
Militärinterventionen gegebenenfalls ohne Mandat der Vereinten
Nationen durchzuführen.
Im Vergleich dazu kam das im November
2010 verabschiedete dritte Strategiedokument nach dem –
vermeintlichen – Ende des Kalten Krieges vergleichsweise
unspektakulär daher. Das Verhältnis zu Russland war bei weitem noch
nicht in dem Maße eskaliert, wie es heute der Fall ist und von China
war gleich überhaupt keine Rede. Beherrschend war stattdessen der ab
2001 begonnene NATO-Krieg gegen Afghanistan (sowie der ab 2003
geführte US-Krieg im Irak, an dem sich zahlreiche NATO-Verbündete
beteiligten), mit dem die Anfang der 1990er begonnene
Interventionsausrichtung auf ihre traurige Spitze getrieben wurde.
Unter dem Eindruck des sich abzeichnenden Scheiterns dieser Kriege
widmete sich das 2010er-Konzept deshalb primär der Frage, wie derlei
Interventionen künftig „erfolgreicher“ durchgeführt werden
könnten.
Vorlage für eine neue NATO-Strategie
Trotz
aller Bemühungen sah sich die NATO allerdings auf verlorenem Posten
– faktisch waren die Niederlagen in den ersten großen Kriegen des
21. Jahrhunderts nicht mehr zu verhindern, wodurch sich erneut die
Frage nach der Daseinsberechtigung der NATO stellte. Insofern kam die
– maßgeblich auf Konto des Westens gehende – Eskalation im
Verhältnis zu Russland ab 2014 wohl gerade recht. Schließlich wurde
dadurch der „Wert“ der NATO als Bollwerk gegen einen
vermeintlichen russischen Expansionswillen unter Beweis
gestellt.
Über die Jahre verschärften sich diese Konflikte
immer weiter und mit China wurde ein weiter Rivale ausgemacht, dem
vermehrte (militärische) Aufmerksamkeit gewidmet werden müsste.
Gleichzeitig zeigten sich aber insbesondere seit dem Amtsantritt
Donald Trumps deutliche Risse im westlichen Militärbündnis, die nun
mit der Aussicht auf eine neue US-Regierung gekittet werden
sollen.
Nach den Äußerungen des französischen Präsidenten,
der die NATO schon fast unter der Erde sah, bestand aus Sicht von
NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg dringender Handlungsbedarf.
Auf seine Initiative wurde beim NATO-Gipfel im Dezember 2019 in
London ein „Reflektionsprozess“ beschlossen, in dessen Folge im
April 2020 eine von Stoltenberg handverlesene Expertengruppe mit der
Anfertigung eines Berichts zur Re-Vitalisierung der Allianz
beauftragt wurde. Als Vorsitzende der 10-köpfigen Expertengruppe
fungierten der ehemalige Verteidigungsminister Thomas de Maizière
sowie Aaron Wess Mitchell, der ehemalige US-Staatssekretär für
europäische und eurasische Angelegenheiten.
Der von dieser
Gruppe vor wenigen Tagen im Konsens verabschiedete Bericht „NATO
2030“ bemängelt explizit, dass das aktuelle Strategische Konzept
aus dem Jahr 2010 noch auf der Basis (halbwegs) freundschaftlicher
Beziehungen zu Russland und unter völliger Ausblendung Chinas
verfasst worden sei. Es müsse aus diesem Grund dringend überarbeitet
werden, wofür sich „NATO 2030“ explizit als Ideengeber
versteht:
Rückbesinnung auf die Großmachtkonkurrenz
Kein
westlicher Politiker oder Militär kommt aktuell ohne die Forderung
aus, es gelte sich (militärisch) auf eine neue Ära der
Großmachtkonkurrenz mit China und Russland vorzubereiten. Noch in
ihrer Zeit als Verteidigungsministerin gab die heutige
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen etwa zum Besten: „Als
politische Allianz fordert uns das herausstechende Merkmal der neuen
Sicherheitslage: Die Wiederkehr der Konkurrenz großer Mächte.
Unsere amerikanischen Freunde haben das früh erkannt. Wir erkennen
es inzwischen auch und wir sehen: Ob wir wollen oder nicht,
Deutschland und Europa sind Teil dieses Konkurrenzkampfs. Wir sind
nicht neutral. Wir stehen auf der Seite der Freiheit und der
Menschenwürde. Wir stehen auf der Seite der Demokratie und der
Herrschaft des Rechts.“
Im Prinzip hat sich die NATO dieser
Aufgabe als neuem Markenkern schon mindestens seit 2014 verschrieben.
Nun geht es darum, dieser Neuausrichtung auch per offizieller
NATO-Strategie Rechnung zu tragen – und der Bericht „NATO 2030“
soll die dementsprechende Vorlage liefern: „Die Welt der NATO wird
in den nächsten 10 Jahren anders sein als die, die sie sowohl
während des Kalten Krieges als auch in den Jahrzehnten unmittelbar
danach bewohnte. Sie wird eine Welt konkurrierender Großmächte
sein, in der aggressive autoritäre Staaten mit revisionistischen
außenpolitischen Agenden darauf abzielen, ihre Macht und ihren
Einfluss auszuweiten.“
Zwar wird gegenüber Russland betont,
man wolle weiter „zweigleisig auf Abschreckung und Dialog“ setzen
– konkrete vertrauensbildende Maßnahmen finden sich aber wenig,
Säbelrasseln dagegen schon.
Wie angedeutet ist es aber vor
allem China, das nun im Bericht „NATO 2030“ weitaus prominenter
als in früheren Jahren ins Visier gerückt wird: „Die NATO muss
den von China ausgehenden Sicherheitsherausforderungen mehr Zeit,
politische Ressourcen und Aktivitäten widmen. […] Das Bündnis
sollte die Herausforderung durch China in alle existierenden
Strukturen einfließen lassen und es in Betracht ziehen, ein
beratendes Gremium ins Leben zu rufen, um dort alle Aspekte der
sicherheitspolitischen Interessen der Verbündeten vis-à-vis China
zu diskutieren.“
Schon länger wird in diesem Zusammenhang
eine stärkere NATO-Präsenz insbesondere im Indo-Pazifik gefordert,
um China verstärkt entgegenzutreten. In dasselbe Horn bläst auch
der nun veröffentlichte Expertenbericht: „Schaut man auf das Jahr
2030, dann sollte die NATO ihre engen Beziehungen in einer Zeit
zunehmender geostrategischer Konkurrenz und globaler Bedrohungen
nicht nur in der unmittelbaren Nachbarschaft, sondern auch weiter
draußen im Indo-Pazifik nutzen.“
Obwohl hier noch reichlich
vage bleibt, wie dieses verstärkte Engagement konkret aussehen soll,
ist es doch bemerkenswert, mit welcher Deutlichkeit China und dann
vor allem die Indo-pazifische Region als neuer Aufgabenschwerpunkt
der NATO in den Fokus gerückt wird.
Die Rechnung
bitte!
Selbstverständlich beschäftigt sich der
67-seitige NATO-2030-Bericht auch mit einer Reihe weiterer Themen,
etwa einer stärkeren Anbindung von EU und NATO, der Bedeutung
Künstlicher Intelligenz oder einer teilweisen Aufweichung des
Konsensprinzips durch eine Verlagerung von Befugnissen auf den
Generalsekretär. Auch ist die neue Konzentration auf
Großmachtkonflikte natürlich keineswegs als eine Absage an
Militärinterventionen im Globalen Süden zu verstehen, die man sich
auch weiter vorbehalten möchte.
Aber dennoch stellt die
Fokussierung auf die neue Großmachtkonkurrenz das dominierende
Element dar, was mit einiger Sicherheit auch in einer kommenden
Neufassung des Strategischen Konzeptes der Fall sein dürfte.
Und
diese Neuausrichtung soll und wird einiges kosten: Bereits zwischen
2015 (895 Mrd. Dollar) und 2020 (1092 Mrd. Dollar) wurden die
NATO-Rüstungsausgaben massiv erhöht. Deutschland ist hier eine der
treibenden Kräfte – kommende Woche steht im Bundestag eine erneute
saftige Erhöhung der Militärausgaben auf 46,93 Mrd. Euro zur
Abstimmung. Aus diesem Grund rufen zahlreiche Gruppen der
Friedensbewegung am Samstag den 5. Dezember zu Protesten gegen dieses
militärische Säbelrasseln auf.
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