Wolfgang Bittner: „Ausnahmezustand – Geopolitische Einsichten und
Analysen unter Berücksichtigung des Ukraine-Konflikts“, 280 Seiten,
Verlag zeitgeist 2023, ISBN 978-3-943007-47-3.
Transatlantische Vormundschaft
Wolfgang Bittner über den Ausnahmezustand
Buchtipp von Harry Popow
Es ist wieder so weit. Man erinnert sich an den 1. September 1939 und an
den Satz, mit dem die größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts begann:
„Seit 5 Uhr 45 wird jetzt zurückgeschossen!“ Und noch am 18. Februar
1943 jubelten 15.000 Delegierte im Berliner Sportpalast, als Goebbels
die Frage stellte: „Wollt ihr den totalen Krieg?“ Jetzt rollen erneut
deutsche Panzer gegen Russland und bestätigen den Ausspruch von Bertolt
Brecht: „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.“ Es will kein
Ende nehmen. Der sogenannte Wertewesten kreischt im Chor: „Brutaler
Angriffskrieg! Die Russen kommen!“
Nur wenige sind politisch wach geblieben und durchschauen die
hochgefährliche Situation, die von den Brandstiftern aus Washington
provoziert worden ist. So der Schriftsteller Wolfgang Bittner, der in
seinem neuen Buch „Ausnahmezustand“ den Verdrehungen, Lügen und
Hetzparolen auf den Grund geht. Er nimmt kein Blatt vor den Mund und
nennt die Verursacher für Chaos und Krieg. Mit gedanklicher Schärfe und
reichem Faktenwissen fasst er zusammen, wie es dazu gekommen ist, dass
die Welt am Abgrund steht. Seine Diagnose ist schmerzhaft, aber die
Therapie gibt – trotz allem – Hoffnung auf einen Politikwechsel.
Wolfgang Bittner geht systematisch vor. Gleich zu Anfang erinnert er an
die Kriege, die von den USA mit vorgetäuschten Zwischenfällen provoziert
wurden: Vietnam, Serbien, der erste und zweite Irakkrieg, die
Zerstörung Libyens – „humanitäre Interventionen“, so wurde es genannt.
Angeblich ging es um die „Einführung demokratischer Strukturen“, die
Verteidigung „westlicher Werte“ und um den Kampf gegen das „Reich des
Bösen“. Das wird auch im Ukraine-Krieg propagiert, einem
Stellvertreterkrieg, der den USA Nutzen bringt und Europa, insbesondere
Deutschland, in den Ruin treibt.
Wer empfindet angesichts der Fernsehbilder aus der Ukraine mit
zerstörten Häusern, verstümmelten Leichen und weinenden Frauen nicht
Mitgefühl. Auch wenn das zur psychologischen Kriegsführung gehört, die
viele „vergiftete Früchte“ trägt, wie Bittner es nennt (S. 54). Das ist
die Unterdrückung missliebiger Meinungen, die Diffamierung
Andersdenkender, es sind Auftrittsverbote für Friedensaktivisten und
Künstler, Demonstrationsverbote oder auch die Aussonderung von
russischen Klassikern aus Bibliotheken.
Wieder einmal triumphieren diejenigen, die sich auf der richtigen, der
guten Seite wähnen und alles verteufeln, was nicht ihren von Washington
und aus den Medien oktroyierten Überzeugungen entspricht. Erstaunlich,
so der Autor, „wie bereitwillig und bedenkenlos Politikerinnen und
Politiker Behauptungen über Ereignisse übernehmen, die weder untersucht
noch bewiesen wurden.“ (S. 68) Ein Beispiel ist das Massaker in Butscha,
das sofort den Russen angelastet wurde, obwohl der Bürgermeister
unmittelbar nach dem Abzug der russischen Truppen in einer
Videobotschaft von keinen russischen Gräueltaten berichtet hatte.
Die Folgen dieses Krieges wie überhaupt der Aggressions- und
Sanktionspolitik der USA mit ihrer NATO sind Verarmung, Gefahr eines
Atomkrieges und für viele Menschen das Ende eines friedlichen,
zivilisierten Lebens. Hinzu kommt, dass es den USA gelungen ist,
„Russland von Westeuropa zu trennen, noch dazu unter Mitwirkung der
europäischen NATO-Staaten“. Wolfgang Bittner bezeichnet das als eine
Jahrhunderttragödie, (S. 17) verursacht von den USA. Denn bekanntlich
hat Wladimir Putin, bereits 2001 in seiner Rede im Deutschen Bundestag
und danach immer wieder für Zusammenarbeit und einen gemeinsamen
Wirtschaftsraum von Wladiwostok bis Lissabon geworben. „Aber jede
Annäherung wurde strikt unterbunden und Russland mehr und mehr von der
NATO eingekreist.“
Bittners klare Einschätzung: „Die Ukraine als Brückenland zwischen
Russland und Westeuropa wurde zur Durchsetzung des Weltmachtanspruchs
der USA zu deren Frontstaat gegen Russland und zum Schlachtfeld eines
Stellvertreterkrieges.“ So geriet Westeuropa politisch und
wirtschaftlich „immer mehr in Bedrängnis und schließlich in eine
Sackgasse.“ Sind es Unbedarftheit, mangelnde Geschichtskenntnisse oder
sind es Lügen, fragt Bittner, „wenn deutsche Politiker die Ursachen, die
zum Einmarsch Russlands in die Ukraine geführt haben, einfach
ausblenden?“ Wenn zum Beispiel behauptet wird, Nord Stream 2 nicht in
Betrieb zu nehmen, sei eine der Reaktionen des Westens auf die
Unzuverlässigkeit der Russen und deren Einmarsch in die Ukraine gewesen.
Eine offensichtliche Lüge! Denn „die Inbetriebnahme der Pipeline zu
verhindern, war seit Jahren ein Hauptanliegen der USA, und Russland hat
selbst auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges seine vertraglichen
Verpflichtungen eingehalten“. (S. 129 f.)
Schließlich bringt Wolfgang Bittner die imperialen Ziele der USA auf den
Punkt: Es gehe darum, Russland und China „als wirtschaftliche und
militärische Konkurrenz auszuschalten und letztlich dem unipolaren
Anspruch zu unterwerfen.“ Kurz gesagt: „Die USA verfolgen eine
Langzeitstrategie, die allein ihren Interessen dient.“ (S. 76 und 190)
Die Ukraine sei als Wirtschaftsraum und Brückenland für die
geostrategischen Interessen der USA von großer Bedeutung, mit ihrer
Vereinnahmung könne man Russlands „machtpolitischen Aufstieg dauerhaft
verhindern“, so Bittner. Er zitiert den langjährigen Präsidentenberater
Zbigniew Brzezinski, der schrieb, Eurasien sei das „Schachbrett“, auf
dem die USA ihre Züge im Kampf um die globale Vorherrschaft machten. (S.
19)
Die USA sind „kein Vorbild für Frieden und Freiheit“, das stellt sich
immer mehr heraus. Seit 1798 haben sie weltweit 469 Interventionen zu
verantworten, 251 militärische Eingriffe seit dem Ende des ersten kalten
Krieges im Jahr 1991. (S. 136 f.) Auch die Liste „der Länder, gegen die
von den USA seit 1945 unter dem Vorwand der Einführung von Demokratie
und Freiheit militärisch vorgegangen wurde, ist lang“, insgesamt 33
werden aufgezählt. Dass die Alliierten des Zweiten Weltkrieges – mit
Ausnahme Russlands – Deutschland einen Friedensvertrag verweigert haben
ist eine Tatsache, auf die Bittner hinweist. (S.187) Fakt ist ebenfalls,
dass die USA „neben kleineren Militärbasen über elf große
Hauptstützpunkte auf deutschem Territorium verfügen“, und dass
Deutschland nur eingeschränkt souverän ist. (S. 24 und 66)
Jetzt wird Deutschland als Vasallenstaat und „Speerspitze gegen
Russland“ aufgebaut, Japan und Südkorea werden gegen China aufgerüstet.
Die Ukraine sollte als neuer Frontstaat gegen Russland dienen, aber
gerade das will Russland verhindern. Weiterführend stellt der Autor die
Frage, ob sich Russland beim Einmarsch in die Ukraine auf
Selbstverteidigung berufen kann (Notwehr oder Nothilfe nach Artikel 61
der UN-Charta, S. 97 ff.).
Für Überraschung mag in diesem Zusammenhang ein Zitat von Papst
Franziskus sorgen, der in einem Interview am 19. Mai 2022 meinte, man
könne die Komplexität der Auseinandersetzung nicht auf die
Unterscheidung zwischen Guten und Bösen reduzieren, ohne über die
Wurzeln und Interessen nachzudenken. Wir würden „nur das sehen, was
ungeheuerlich ist, und nicht das ganze Drama sehen, das sich hinter
diesem Krieg abspielt, der vielleicht in gewisser Weise entweder
provoziert oder nicht verhindert wurde.“ (S. 46)
Für Journalisten wäre eine derartige Aussage existenzgefährdend,
schreibt Wolfgang Bittner. (S.47) Zu den Ursachen des großen Konfliktes
zitiert er unter anderem Albrecht Müller, den Herausgeber der
NachDenkSeiten: „Heute ist sichtbar, dass das Große Geld und
insbesondere die Rüstungswirtschaft unsere Außen- und Sicherheitspolitik
bestimmt und uns in kriegerische Auseinandersetzungen treibt, und
darüber hinaus ist sichtbar, dass diese Politik zu einem großen Konflikt
mit Russland geführt hat und die Sanktionspolitik zu Gegenmaßnahmen
geführt hat, die uns wirtschaftlich und sozial zu ruinieren drohen.“(S.
130) Das könnte eine gute Ausgangsbasis dafür sein, eine
Gegenöffentlichkeit aufzubauen, vielleicht eine neue Partei zu gründen.
Auch international gärt es seit Längerem. Wolfgang Bittner schreibt:
„Offenbar ist westlichen Medien und Politikern entgangen, dass sich die
Mehrheit der Menschheit nicht mit der Arroganz und Kriegslüsternheit der
USA und ihrer Vasallen abfinden und andere Wege gehen will.“(S.133) Wir
erfahren: Im September 2022 trafen sich in Usbekistan die Staatschefs
der Mitgliedstaaten der Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit
(SOZ), der neun Länder angehören: die Volksrepublik China, Indien, der
Iran, Kasachstan, Kirgisistan, Pakistan, Russland, Tadschikistan und
Usbekistan. Auf der Tagesordnung stand die Vertiefung der
Zusammenarbeit. „Obwohl weitreichende Beschlüsse für die politische und
wirtschaftliche Entwicklung auf dem eurasischen Kontinent gefasst
wurden, berichteten westliche Medien kaum darüber.“(S. 133)
In dem Kapitel „Die neue Realität“ geht Bittner dann auf die Absichten
des überaus einflussreichen Weltwirtschaftsforums (World Economic Forum;
WEF) ein, das eine private Weltregierung anstrebt. Bittner schreibt: „
Das WEF plant demokratische Organisationsformen, in denen die Macht im
Staat vom Volk mittels gewählter Vertreter ausgehen soll, durch ein
Herrschaftssystem zu ersetzen, in dem eine Gruppe von ‚Stakeholdern‘,
also ‚führenden Persönlichkeiten‘, ein globales Entscheidungsgremium
bildet. Positiv gesehen, wäre das eine Herrschaft der Weisen, wer auch
immer das sein mag. Kritisch gesehen, bedeutet es eine plutokratische
Diktatur in einer grenzenfreien, übernationalen Welt.“(S. 163)
Bittner schlussfolgert: „Eine selbsternannte ‚Elite‘ würde also die
Macht übernehmen und eine Art Weltregierung bilden. Insofern stellt sich
das WEF als eine außerordentlich einflussreiche quasimafiöse
Organisation dar, die eine Machtübernahme nicht demokratisch
legitimierter ‚Führungspersönlichkeiten‘ in globalem Ausmaß vorbereitet.
Zur Durchsetzung der Programmatik können dann Phasen globaler
Instabilität genutzt werden, zum Beispiel die Corona-Pandemie,
Hungersnöte oder die Auswirkungen des Krieges in der Ukraine.“ (S. 163)
Der Kommunikationsforscher und Autor Nick Buxton, der sich eingehend mit
dem WEF befasst hat und den Bittner zitiert, kommt zu dem Ergebnis,
„dass wir zunehmend in eine Welt eintreten, in der Zusammenkünfte wie
Davos keine lächerlichen Milliardärsspielplätze sind, sondern die
Zukunft der Global Governance“. Es sei „nichts weniger als ein stiller
Staatsstreich“. (S. 163 f.) Das sind beunruhigende Einsichten, über die
in den Medien nichts zu erfahren ist, wie über vieles andere auch nicht.
Ich habe schon mehrere Bücher von Wolfgang Bittner besprochen, und ich
bin jedes Mal aufs Neue beeindruckt von seinen umfassenden Kenntnissen,
der geschliffenen Diktion und seiner Fähigkeit, komplizierte
Sachverhalten allgemeinverständlich und dennoch differenziert
darzustellen. Es lohnt sich, dieses Buch und auch andere Werke Wolfgang
Bittners zu lesen. Sie sind eine Offenbarung!
Wolfgang Bittner: „Ausnahmezustand – Geopolitische Einsichten und Analysen unter Berücksichtigung des Ukraine-Konflikts“, Klappenbroschur mit 37 Abb., 280 Seiten, 19,90 €, Verlag zeitgeist 2023, ISBN 978-3-943007-47-3.
Wolfgang Bittner lebt als Schriftsteller und Publizist in Göttingen.
Der promovierte Jurist schreibt Bücher für Erwachsene, Jugendliche und
Kinder. Er erhielt mehrere Preise und Auszeichnungen und ist Mitglied im
PEN. Von 1996 bis 1998 gehörte er dem Rundfunkrat des WDR an, von 1997
bis 2001 dem Bundesvorstand des Verbandes deutscher Schriftsteller.
Ausgedehnte Reisen führten ihn nach Vorderasien, Mexiko, Kanada und
Neuseeland, Gastprofessuren 2004 und 2006 nach Polen. Wolfgang Bittner
war freier Mitarbeiter bei Zeitungen, Zeitschriften, Hörfunk und
Fernsehen und hat mehr als 60 Bücher veröffentlicht, darunter die Romane
„Der Aufsteiger“, „Niemandsland“ und „Die Heimat, der Krieg und der
Goldene Westen“.
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