Entnommen: https://linkezeitung.de/2022/02/07/der-westen-verliert/
Der Westen
verliert
VERÖFFENTLICHT VON LZ ⋅ 7. FEBRUAR 2022 ⋅ 2
KOMMENTARE
von Rüdiger Rauls
Im aktuellen
Konflikt um die Nato-Osterweiterung in Richtung Ukraine gerät der
Westen zunehmend in die Defensive. Aber auch im Weltmaßstab deutet
sich mit der verstärkten Zusammenarbeit zwischen Russland, China und
dem Iran eine Veränderung der Kräfteverhältnisse an.
Auch
wenn das diplomatische Karussell sich immer schneller dreht, die
Abfolge der Treffen und Telefonate immer kürzer wird, die westlichen
Erfolge bleiben hinter dem Aufwand und Einsatz zurück. Vergeblich
hat der Westen versucht, den grundlegenden Interessenkonflikt
zwischen NATO und Russland auf einen Ukraine-Konflikt zu
verengen.
Russland lässt sich nicht verwirren und sich durch
die Vielzahl der Treffen in den unterschiedlichsten Formaten von
seinen ursprünglichen Forderungen abbringen. Es verzettelt sich
nicht in Einzelfragen. Immer wieder stellt es klar, worum es ihm
geht: Die Garantie der eigenen Sicherheit. Das bedeutet: Eine erneute
Erweiterung der NATO in Richtung Osten durch die Aufnahme der Ukraine
wird nicht hingenommen. Und es will keinen Krieg.
Dagegen
bröckelt der Zusammenhalt im westlichen Bündnis, und daran ändern
auch die neusten Ankündigungen von weiteren Waffenlieferungen,
Bereitstellung zusätzlicher Truppen und die angeblich neuen
Bedrohungen für die Ukraine aus Richtung Minsk nichts. Der damit
verbundene Propagandawirbel westlicher Medien verängstigt in erster
Linie die eigene Bevölkerung, auf die Entscheidungen Russlands und
auch Chinas hat das wenig Einfluss. Im Gegenteil: China stellt sich
an die Seite Russlands.
Nach dem Treffen von Putin und Xi
Jinping anlässlich der Eröffnung der Olympischen Spiele in Peking
erklärten der Staatschef des größten Flächenlandes und der Führer
des bevölkerungsreichsten Landes der Erde gemeinsam, „die
Weltordnung sei in eine neue Ära eingetreten“. In unaufgeregter
Klarheit, die sich deutlich unterscheidet von der Marktschreierei
westlicher Medien, Politiker und sonstiger Meinungsmacher, lehnen sie
sowohl die Osterweiterung der NATO als auch die
Indo-Pazifik-Strategie der USA als Gefahr für das friedliche
Zusammenleben der Völker ab.
Zudem betonen sie, dass es von
entscheidender strategischer Bedeutung sei, dass beide Länder ihre
Zusammenarbeit vertiefen und ihr Handeln noch besser auf einander
abstimmen. Beide halten die neuen Beziehungen zwischen China und
Russland einer politischen und militärischen Allianz des Kalten
Krieges für überlegen.
Verglichen mit dem politischen
Bewusstsein und der Weitsicht dieser beiden Staatsmänner wirkt das
westliche Handeln kopflos. Letzterem scheint kein strategisches
Denken, geschweige denn politische Klarheit zugrunde zu liegen. Die
Anfangs zur Schau gestellte und immer wieder beschworene
Geschlossenheit der NATO -Staaten zerfällt immer mehr in die
Einzelteile der besonderen nationalen und wirtschaftlichen
Interessen.
Macron telefoniert mit Putin und erklärt, dass
Russlands Sicherheitsinteressen berücksichtigt werden sollten.
Ungarns Orban verhandelt fünf Stunden mit Putin und scheint sich
schon für die Zeit danach in Stellung zu bringen als zuverlässigerer
Lieferant für russisches Erdgas. Erdogan bietet sich als Vermittler
zwischen Russland und der Ukraine an.
Gleichzeitig nehmen die
gegenseitigen Schuldzuweisungen unter den NATO-Staaten für das immer
deutlicher erkennbare Scheitern der Mission Osterweiterung zu. So
schreibt die FAZ vom 5.2.22 (Alarm in Amerika): „Deuschland gilt in
Washington wieder als Spalter des westlichen Bündnisses“. Und
dieselbe Zeitung, die das politische Bewusstsein besonders der
deutschen intellektuellen Elite und Führungskräfte prägt,
bezichtigt Ungarn der Wankelmütigkeit zwischen Ost und West. Das
zeigt keine Geschlossenheit, noch fördert es sie.
Diesen
Zerfall der westlichen Geschlossenheit können auch die wiederholt
beschworenen Invasionsgefahren vonseiten Russlands immer weniger
kitten. Inzwischen wird nun auch noch
Weißrussland als
potentielle Gefahr aufgebaut. Dennoch scheinen mittlerweile einige
NATO-Länder und auch die verschiedenen Verhandlungsformate ihre
eigene politische Agenda zu verfolgen.
Selbst an der Gefahr
einer von Russland betriebenen Invasion in der Ukraine, die seit
Monaten von westlichen Meinungsmachern in immer bedrohlicheren
Szenarien dargestellt wird, werden die Zweifel immer größer. Wurden
die angeblichen russischen Invasionspläne ständig nach hinten
verschoben, weil Russland keine Anstalten für einen Angriff auf die
Ukraine machte, so bestreitet Washington mittlerweile, solche
Szenarien überhaupt verbreitet zu haben.
Die Folge ist
einerseits, dass die Welt die amerikanische Erklärungen immer
weniger ernst nimmt und sich die Zweifel an ihrer Glaubwürdigkeit
mehren. Andererseits wird die Orientierungslosigkeit und Schwäche
der westlichen Führungsmacht immer offensichtlicher. Diese geht
sogar so weit, dass die US-Administration nun anscheinend in China
Unterstützung gegen Russland zu finden versucht. Wie weit muss der
Realitätsverlust in Washington fortgeschritten sein, dass man mit
billigen Tricks glaubt, China auf seine Seite ziehen zu können.
Glauben die USA allen ERnstes, dass China ähnlich charakterlos ist
wie die USA selbst und Freund und Feind nur nach den augenblicklichen
Stimmungen und eigenen Vorteilen festlegt? Glauben sie wirklich, dass
China die Lügen in Bezug auf die Uiguren, die Einmischungsversuche
in Hongkong und all die anderen Feindseligkeiten so schnell vergessen
hat?
Seit der Erklärung der ukrainischen Regierung, dass es
von ihrer Seite keine Hinweise auf einen russischen Einmarsch gibt,
beginnt das amerikanische Kartenhaus der angeblichen russischen
Bedrohung in sich zusammenzufallen. Auslöser war die Aufforderung
der USA an ihr eigenes Botschaftspersonal, die Vertretung in Kiew zu
verlassen.
Was die USA da geritten hat, ist bis heute nicht zu
verstehen. Vermutlich glauben sie selbst die Phantasien, die sie in
Welt hinausposaunen. Anders ist nicht zu verstehen, dass sie eine
solche Maßnahme ergriffen haben, die weder der Ukraine nützte noch
Russland schadete. Es kann nur erkärt werden mit den
Realitätsverlust, der in den USA und Teilen des Westens um sich
greift. Man ist verblendet durch die eigenen Vorstellungen und
Theorien und Opfer der eigenen Trugbilder und Propaganda
geworden.
Die Flucht der amerikanischen Botschaftsangehörigen
wäre für die Ukraine verkraftbar gewesen, hatte man doch bisher von
der verbreiteten Bedrohungslage profitiert, indem man zusätzliche
westliche Finanz- und Militärunterstützung erhalten hatte. Als aber
die Auflösung der US-Botschaft zur Flucht ausländischer Investoren
aus ukrainischen Staatsanleihen führte, war Feuer unter dem Dach.
Damit stiegen die Refinanzierungskosten des ohnehin klammen
Landes.
Es war für die Ukraine nicht neu, dass die Russen
keine Invasion planten. Neu aber war offensichtlich, dass
Kriegshysterie auch ihre Schattenseiten hat und Kapitalismus nicht
nur Sonnenseiten. Innerhalb weniger Tage hatten die ukrainischen
Staatspapiere Kursverluste in Höhe dreißig Prozent erlitten mit dem
entsprechenden Anstieg der Zinsen. Aus dieser Bedrohung half nur die
Flucht nach vorne. Die ukrainische Führung beruhigte die Investoren
mit der Klarstellung, dass es keine russischen Kriegsvorbereitungen
gebe. Die Kurse der Staatspapiere stiegen wieder, die Zinsen sanken
und die Finanzlage stabilisierte sich wieder.
Diese Erklärung
der ukrainischen Regierung über das Nichtvorhandensein russischer
Invasionsabsichten bedeutete aber auch das vorläufige Ende
amerikanischer Pläne für die NATO-Osterweiterung. Denn welche
Grundlage hat das amerikanische Vorgehen noch, wenn selbst die
Ukraine als direkt betroffene Partei die Meldungen über die
bevorstehende russische Invation als gegenstandslos bezeichnet?
Wie
sollen die Menschen im Westen für eine Unterstützung der Ukraine
bewegt werden, wenn es keine Kriegsgefahr gibt? Die Begeisterung war
ohnehin nicht sonderlich hoch bei jenen, die unter den steigenden
Energiekosten zu leiden hatten für die Muskelspiele ihrer
Regierungen gegenüber dem ungeliebten Russland. Heroische
Kraftmeierei spielte sich hauptsächlich ab in den intellektuellen
Gesellschaftsblasen der Medien und der Wertemissionare.
Aber
diese Blasen sind nun geplatzt. Der Westen steht ratlos da. Es fällt
ihm nichts mehr ein, wie er sein Ziel noch erreichen könnte. Im Raum
stehen nur noch Russlands Forderungen nach
Sicherheitsgarantien
für das eigenen Territorium und Abrüstungsmaßnahmen im Interesse
aller Staaten in Mitteleuropa. Aber diese Forderungen sind klarer und
deutlicher denn je, nachdem westliche Megaphonpolitik und Gezeter
verstummt sind.
Der Westen weiß nicht weiter. Russland jedoch
hat noch einige Asse im Ärmel, auch wenn es auf die bereits früher
erwähnten militärtechnischen Maßnahmen bisher noch nicht einmal
ansatzweise Hinweise gegeben hat. Wenn Putin auch die Vermittlung der
Türkei im Ukraine-Konflikt vorerst öffentlich abgelehnt hat, so
will er dennoch mit Erdogan auf dem Rückfluge von Peking
zusammentreffen.
Wer weiß, ob Russland der Ukraine vielleicht
doch bessere Angebote machen kann als der Westen, zumindest was die
Energieversorgung angeht. Eine Annäherung zwischen Russland und der
Ukraine wäre für den Westen eine bittere Pille, für die beiden
Staaten aber eine heilsame Medizin.
Die bitterste Pille aber
ist die zunehmende strategische Zusammenarbeit zwischen Russland und
China, die mittlerweile auch den Iran miteinschließt. Schließen
sich da die Sanktionierten zusammen und holen zum Gegenschlag aus?
Diese Zusammenarbeit hat mittlerweile den wirtschaftlichen Rahmen
verlassen und sich auf die militärische Ebene ausgedehnt. Man hält
gemeinsame Manöver ab – nicht nur vor der eigenen Haustür. Vom 3.
bis 8. Februar veranstalten Russland, China und der Iran ein
Seemanöver im Atlantik, sozusagen in der Badewanne der NATO. Wenn
der Westen die Sicherheit der Seewege glaubt im Südchinesischen Meer
durch eigene Manöver gewährleisten zu müssen, wer sagt dann, dass
China, Russland und der Iran nicht auch die Sicherheit der Seewege im
Nordatlantik, also der Nachschubroute der NATO zwischen den USA und
Europa verteidigen kann. Vielleicht verteidigen die Drei auch bald
die Sicherheit der Meere im Golf von Mexiko, vor der Haustür der
USA, oder vor den Mündungen des Panama-Kanals?
Und wer sagt,
dass diese Manöver nicht auch ausgedehnt werden können in ihrer
Teilnehmerzahl? Sanktionierte gibt es mittlerweile genug, die mit dem
Westen noch ein Hühnchen zu rupfen haben. Auf eine Ausweitung der
strategischen Zusammenarbeit deuten Worte von Xi Jinping während des
Zusammentreffens mit Putin hin. So soll die Zusammenarbeit mit den
BRICS-Staaten und den Staaten der Shanghaier Organisation für
Zusammenarbeit verstärkt werden, „um die Sicherheit und
gemeinsamen Interessen der Mitgliedsländer besser zu wahren“.
Neben Russland und China sind mit Indien, Brasilien und Südafrika
Länder in diesen Organisationen vertreten, die weit über die Hälfte
der Weltbevölkerung repräsentieren. Hier deutet sich eine
gravierende Verschiebung der weltweiten Kräfteverhältnisse an.
Was
will der Westen diesen Ländern anbieten, was er nicht schon in den
letzten drei Jahrzehnten hätte angeboten haben können?
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