Bürgerbrief: Wir leben in einer Zeit wild
gewordener Politisierung der Esoterik
von Franz Witsch
von Franz Witsch
Hamburg,
06.10.2015
Liebe
FreundeInnen des politischen Engagements, die Ereignisse zur
Flüchtlingsproblematik überschlagen sich von Tag zu Tag.
Mittlerweile spricht man von mindestens 1,5 Millionen Flüchtlingen
nach Deutschland noch in diesem Jahr. Es könnte sein, dass uns die
Massen an Flüchtlingen irgendwann hoffnungslos derart über den Kopf
wachsen, dass eine massiv anwachsende Kriminalisierung sozialer
Strukturen nicht mehr zu vermeiden ist. Kann es sein, dass Politiker
aller Schattierungen solch eine Entwicklung uneingestanden möchten?
Um mit ihrer Inkompetenz im Trüben zu fischen – von rechts bis
links? Uneingestanden bedeutet, dass Politiker bald selbst nicht mehr
wissen, was sie fühlen, denken (dürfen), um dann irgendwie
(planlos) zu handeln. Aktionismus pur. Sie sind de facto –
unübersehbar – orientierungslos. Sie fahren mit
gefühltangemessenem Tempo, das tatsächlich viel zu hoch ist, auf
eine Nebelbank zu, um nach der Massenkarambolage blöd – wenn
überhaupt noch möglich – aus der Wäsche zu gucken.
Es
war schon immer so: wachsen Probleme bis zu einem Punkt über den
Kopf, bis sie irgendwann tatsächlich nicht mehr gelöst werden
können, zumindest nicht unter den derzeit geltenden Bedingungen
kapitalistischer Produktion, nehmen esoterische Anwandlungen zu.
Diese haben mittlerweile die Politik, namentlich Frau Merkel (unseren
Pastor, Bundespräsident Gauck, ohnehin) erreicht. O-Ton Frau Merkel:
Der „Herrgott“ habe uns die Flüchtlinge geschickt.(Q1)
Esoterische
Anwandlungen sind, wenn auch weniger offensichtlich, bei fast allen
Teilnehmern der veröffentlichten Meinung üblich, z.B. gerade erst
bei „Günther Jauch“. Dort nennt Herbert Grönemeyer Horst
Seehofer einen verbalen Brandstifter – „mit dem Ziel, im rechten
Lager zu fischen“.(Q2) Mehr als gut gebrüllt möchte ich so etwas
nicht nennen. Und dann machte er der Runde klar, dass es „die
Gesellschaft gewesen“ sei, „die sich ‚erwachsen verhalten’
und der Politik gezeigt habe, wo es langgehe. Unterstützung bekam
Grönemeyer vom beliebten Fernsehmoderator und
Wissenschaftsjournalisten Ranga Yogeshwar, der sich zu einem „Stolz“-
Bekenntnis auf die Kanzlerin hinreißen ließ, überdies „auf seine
Stadt mit ihrem großen bürgerlichen Engagement. Die wahre Stärke“
sei bei den Bürgern. Kaum auszuhalten, dieser Scheiß: „Wahre
Stärke“ – was soll das sein?! Ich denke, Grönemeyer und
Yogeshwar arbeiten mit Aussagen, die ausschließlich Gefühle
ansprechen – bei Yogeshwar zumindest, wenn er nicht über
Naturwissenschaft spricht –, und deshalb als esoterisch einzustufen
sind. Mit Argumenten, die auf eine Analyse der „realen
sozial-ökonomischen Situation“ verweisen, also die „Vernunft“
ansprechen, haben sie nicht das geringste zu tun.
Merke:
So wichtig Gefühle sind; auf Dauer sind sie ohne „disziplinierende
Vernunft“ gemeingefährlich. Auch die Aussage, wir leben in einem
reichen Land, in dem man nur die Reichen für die Flüchtlinge zur
Kassen bitten müsse (so Grönemeyer bei Jauch), ist kaum
zielführend. Der Grund ist der: Es gibt sehr viel Geld, freilich in
Form „fiktiver“ Wertpapiere, die Geld (an der ökonomische
Realität vorbei) scheißen; sie haben 2 mit der sozial-ökonomischen
Realität nicht das geringste zu tun. So etwas müsste sich in Zeiten
von Schulden- und Finanzkrise rumgesprochen haben; nicht so bei
unseren Esoterikern. Immer wieder mit der Reichensteuer zu kommen,
zeigt nur, dass die, die sie verwenden, von Ökonomie nichts
verstehen. Auch ich bin für eine Reichensteuer.
Nur
lässt sich mit ihr Verelendung vielleicht hier und dort (abmildern),
aber nicht insgesamt und vor allem nicht nachhaltig zurückführen.
Dazu müssten wir den Kapitalismus abschaffen. Es geht darum, sich
mit Hilfe von Argumenten Gefühle anzusprechen – wie auch nicht?,
aber auch die Vernunft. Nur dann werden wir uns mit
Rechts-Populisten, wie z.B. Botho Strauß, wirksam auseinandersetzen
können. Dazu dürfen wir Strauß’ Argumentation nicht pauschal
ablehnen. Schließlich arbeiten er mit Aussagen, die richtig sein
könnten.
Esoterische
Aussagen zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich mit der sozial-
ökonomischen Realität nicht konfrontieren lassen; deshalb wird
diese ja ausgeblendet. Damit verurteilt man sich zu einer „Analyse
des Stückwerks“, die das sozial-ökonomische Ganze außer acht
lässt. Das trifft auf Botho Strauß, den Autor des „anschwellenden
Bocksgesangs“ (vgl. Q3), zu. Zumindest darf man das vermuten, wenn
man mehrere Texte von ihm zugrundelegt.
Fazit:
wir leben in einer Zeit wild gewordener Politisierung der Esoterik,
in der Argumente immer weniger eine Rolle spielen. Herzliche Grüße
Franz Witsch www.film-und-politik.de
Quellen:
Q1: Merkel auf Esoterik-Trip: Der „Herrgott“ hat uns die
Flüchtlinge geschickt Bundeskanzlerin Angela Merkel will weiter
viele Flüchtlinge in Deutschland aufnehmen - ein gespenstischer
Ausflug in die Theokratie, der an den Grundfesten der säkularen
Demokratie rüttelt.
DWN
vom 04.10.2015
http://deutsche-wirtschafts-nachrichten.de/2015/10/04/merkel-auf-esoterik-trip-der-herrgott-hat-unsdie-fluechtlinge-geschickt/
Q2
: Flüchtlingstalk bei Jauch: Grönemeyer und die "verbale
Brandstiftung" spiegel online vom 05.10.2015
http://www.spiegel.de/kultur/tv/guenther-jauch-zur-fluechtlingskrise-groenemeyer-und-die-verbalebrandstiftung-a-1056144.html
Q3:
Botho Strauß zur Flüchtlingskrise: Entwurzelt unter Entwurzelten
Spiegel Online vom 02.10.2015
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