Egon Krenz über die geopolitische Lage und die neue deutsche “Kriegstüchtigkeit”
VERÖFFENTLICHT VON LZ ⋅ 2. SEPTEMBER 2024 ⋅ HINTERLASSE EINEN KOMMENTAR
Von Felicitas Rabe – https://rtnewsde.com
Im Interview erklärt der ehemalige Staatsratsvorsitzende der DDR, Egon
Krenz, welche Ziele die USA nach der deutschen Einheit verfolgten und
wie sich die Politik von Olaf Scholz von der Politik früherer
westdeutscher Kanzler unterscheidet. Krenz appelliert: Deutschland muss
friedensfähig werden!
Der ehemalige Staatsratsvorsitzende der DDR, Egon Krenz, am 79.
Gedenktag der russischen Befreiung vom Faschismus – dem Russischen Tag
des Sieges über den Faschismus – beim Sowjetischen Ehrenmal im Treptower
Park in Berlin, 9. Mai 2024.
Der ehemalige Staatsratsvorsitzende der DDR, Egon Krenz, beantwortete im
Interview mit RT DE am Freitag Fragen zur aktuellen geopolitischen
Lage. Insbesondere fasst er die geopolitische Entwicklung nach dem
Mauerfall zusammen und erläutert die darauf einsetzende Vormachtstellung
der USA und deren Ziele. Krenz vergleicht auch die Außenpolitik und die
Diplomatie früherer westdeutscher Bundeskanzler gegenüber den USA, der
Sowjetunion und der DDR mit der Politik des aktuellen Bundeskanzlers
Olaf Scholz.
Militarisierung: “Deutschland ist der Platz, an dem der Aufmarsch stattfindet”
RT DE: Herr Krenz, nach dem Ende der Sowjetunion und dem deutschen
Mauerfall und dem Ende des sogenannten “Kalten Krieges” weltweit haben
viele Menschen auf eine internationale friedliche Kooperation der
Nationen gehofft. Wie bewerten Sie die aktuelle geopolitische Lage und
die Weltkriegsgefahr?
Egon Krenz: Ich habe große Zweifel, ob der Kalte Krieg jemals wirklich
zu Ende war. Beendet war in Europa die Auseinandersetzung zwischen
Sozialismus und Kapitalismus, nicht aber das Bestreben der USA,
bestimmende Weltmacht zu sein, Russland als Großmacht auszuschalten und
gute Beziehungen zwischen Deutschland und Russland zu verhindern.
Aktuell soll Russland “ruiniert” werden, damit sich die USA China
zuwenden können. Das ist nicht Propaganda. Es sind nachprüfbare
Tatsachen.
RT DE: Wozu diente die deutsche Einheit aus US-amerikanischer Sicht?
Können Sie näher erläutern und aus Ihrer Sicht begründen, welche Ziele
die USA nach 1989 verfolgten?
Egon Krenz: Ich habe es zum Teil selbst erlebt: Als Gorbatschow bei
seinem Treffen mit Bush dem Älteren Anfang Dezember 1989 auf Malta
einseitig den Kalten Krieg für beendet erklärte, erhoben sich die USA
zum Sieger dieses Krieges. Das war zweifelsfrei eine Demütigung der
Sowjetunion, auf deren Initiative nicht nur die Europäische
Sicherheitskonferenz (KSZE) 1975 in Helsinki zustande gekommen war,
sondern auch alle wesentlichen Abkommen über Abrüstung mit den USA in
den Siebziger- und Achtzigerjahren. 1989 ging es den USA keineswegs nur
um die deutsche Einheit. Sie war lediglich eine Möglichkeit, um die
Streitkräfte der UdSSR aus dem Zentrum Europas zu drängen. Der
Warschauer Vertrag wurde aufgelöst. Die NATO blieb.
Vor 33 Jahren begann Russlands Katastrophe
Die russischen Streitkräfte zogen aus Mitteleuropa ab – übrigens mit
einer drittklassigen Verabschiedung im Vergleich zu den West-Alliierten.
Es sah aus, als kehrten nicht die Sieger über den deutschen Faschismus
nach Hause zurück, sondern die Verlierer. Die USA setzten sich hier
fest. Sie haben in Deutschland nach wie vor Atomwaffen stationiert.
Condoleezza Rice, die spätere Außenministerin der USA, bekannte in einem
Interview für das Nachrichtenmagazin Der Spiegel freimütig, mit dem
vereinten Deutschland, eingebettet in die NATO, sei “Amerikas Einfluss
in Europa gesichert”. Die Grenze zwischen der NATO und dem Warschauer
Vertrag verlief bis zum 3. Oktober 1990 quer durch Europa. In
Deutschland an Elbe und Werra und in Berlin mitten in der Stadt. Heute
verläuft sie an den Grenzen Russlands.
Da kann es doch nicht verwundern, dass sich dies im kollektiven
Gedächtnis der Völker Russlands festgesetzt hat und sie von ihrem
Präsidenten Putin nach den chaotischen Jelzin-Jahren verlangten,
nationale Sicherheitsinteressen selbstbewusst durchzusetzen. In der
jahrzehntelangen Politik der USA und ihrer NATO-Verbündeten gegen
Russland liegt die Ursache für die globalpolitischen Verwerfungen der
Gegenwart, einschließlich der Möglichkeiten eines neuen Weltkrieges. Ich
bin Optimist und erinnere mich in diesem Zusammenhang an ein Wort von
Bert Brecht, das ich noch als Schuljunge 1952 in der DDR gelernt hatte:
“Denn der Menschheit drohen Kriege, gegen welche die vergangenen wie
armselige Versuche sind und sie werden kommen ohne Zweifel, wenn denen,
die sie in aller Öffentlichkeit vorbereiten, nicht die Hände zerschlagen
werden.”
Der damalige 1. Sekretär des FDJ Zentralrats, Egon Krenz, beim Konzert
gegen den NATO-Raketenbeschluss im Palast der Republik, Berlin am 25.
Oktober 1983imago stock&people / http://www.globallookpress.com
RT DE: Lässt sich die heutige Situation mit den Spannungen in den Achtzigerjahren vergleichen?
Egon Krenz: Aus meiner Sicht: Nein. Als ich 1984 den Jungsozialisten
Olaf Scholz im Zentralkomitee der SED empfing, war seine Überzeugung:
Frieden schaffen ohne Waffen. Ich hätte mir damals nicht vorstellen
können, dass er einmal die Bundesrepublik in eine Periode der
Hochrüstung führt. 100 Milliarden für das Militär – was könnte man aus
dieser Summe alles für die Menschen tun! Die Zeit damals war zwar auch
äußerst gefährlich, aber die Regierenden auf beiden Seiten wussten noch
aus eigener Erfahrung, was Krieg bedeutet und kannten so die roten
Linien, die man nicht überschreiten durfte, wenn man Frieden wollte.
Diese Fähigkeit haben viele der heute in der EU Regierenden nicht mehr.
Generäle für Frieden: Hochrangige DDR-Offiziere kritisieren Bundesregierung für Eskalationspolitik
Ich habe dieser Tage auf der Plattform The Pioneer Briefing gelesen,
dass Bundeskanzler Olaf Scholz bei der Sicherheits- und Rüstungspolitik
angeblich seinem Vor-, Vor-, Vorgänger Helmut Schmidt immer ähnlicher
geworden sei. Dem widerspreche ich zum Teil aus eigenem Wissen. Vor mir
liegt eine Gedächtnisaufzeichnung über das Vieraugengespräch zwischen
Helmut Schmidt und Erich Honecker vom 11. Dezember 1981 zwischen 19:00
und 23:30 Uhr, angefertigt von Rechtsanwalt Wolfgang Vogel, dem
Beauftragten der DDR für humanitäre Angelegenheiten mit der
Bundesrepublik Deutschland. Aus diesem Dokument spricht ein völlig
anderer politischer und militärischer Geist als der vom heutigen
Bundeskanzler.
RT DE: Wie unterschied sich die diplomatische und politische Strategie
früherer deutscher von der des aktuellen SPD-Bundeskanzlers Olaf Scholz?
Welche Unterschiede belegt das Gesprächsprotokoll des Gesprächs
zwischen Schmidt und Honecker vom Dezember 1981?
Egon Krenz: Aus dem Papier geht hervor, Helmut Schmidt hat immer eine
Verhandlungslösung bevorzugt, obwohl er den NATO-Doppelbeschluss
maßgeblich initiiert hatte, wofür ihn Moskau zu Recht kritisierte. Aber
während die USA die UdSSR schon damals allseitig boykottierten, suchte
Schmidt das Gespräch mit der sowjetischen Führung gerade deshalb und
wehrte sich gegen Sanktionen, besonders beim Röhrengeschäft mit der
Sowjetunion. Anders Scholz: Anstatt eigene Verhandlungsvorschläge
einzubringen, brachte er aus den USA bereits beschlossene Pläne zur
Stationierung neuer amerikanischer Raketen mit, die bis in die Weiten
Russlands hineinreichen können. Eine Basta-Entscheidung. Das halte ich
für verantwortungslos und ein Spiel mit dem Feuer.
In diesen Tagen erinnern Medien an den Staatsbesuch Erich Honeckers in
der Bundesrepublik vom 7. bis 11. September 1987. Bei den Gesprächen
zwischen Bundeskanzler Kohl und Erich Honecker spielte das Thema Frieden
und wie beide Staaten dazu beitragen wollten, die entscheidende Rolle.
Auch dieses Erbe schlägt die Bundesregierung leider aus.
RT DE: Scholz und Schmidt, beides Sozialdemokraten, unterscheiden sich
in ihrer Haltung zur Frage von Krieg und Frieden. Aber die
Bundesrepublik von damals scheint sich nicht allzu sehr von der heutigen
in ihrer Haltung zu Russland zu unterscheiden?
Egon Krenz: Ja und nein. Es gab zwar in der alten Bundesrepublik einen
latenten Antikommunismus, gepaart mit einem Schuss Antisowjetismus, doch
eine solche Russophobie, wie sie gegenwärtig durch Politik und Medien
verbreitet wird, habe ich letztmalig als Achtjähriger in der Endphase
des Zweiten Weltkrieges erlebt.
SPD-Urgestein von Dohnanyi: Kritik an Russland-Politik seiner Partei, Unterstützung für Wagenknecht
Schmidt besaß politischen Weitblick, der seinen politischen Nachfolgern
fehlt. Er bekannte gegenüber Erich Honecker, dass er bei allen
Vorbehalten gegenüber seinen sowjetischen Gesprächspartnern, ihnen
keinen Kriegswillen unterstelle.
Er traue der sowjetischen Führung nicht zu, einen Atomkrieg zu beginnen.
Es treffe zwar zu, dass es kaum einen anderen Staat gebe, der auf den
amerikanischen Präsidenten einen stärkeren Einfluss ausübe als die
Bundesrepublik, meinte er gegenüber Honecker. Er, Schmidt, sei jedoch
Regierungschef nur eines mittleren Staates. Hinzu komme, dass Deutsche
den Zweiten Weltkrieg ausgelöst hätten. Solche Töne hört man heute
offiziell kaum noch.
Ich bin sicher, hätte der seinerzeitige Außenminister der
Bundesrepublik geäußert, man führe ‘Krieg gegen Russland’ und wolle
‘Russland ruinieren’, er wäre von einem Kanzler Schmidt auf der Stelle
entlassen worden.
Zudem möchte ich ein allgemeines Missverständnis aufklären. Zu Recht
werden Brandt, Wehner, Schmidt und Bahr wegen ihrer Entspannungspolitik
gelobt. Doch sie haben diese nicht selbst gemacht. Sie brauchten
Partner, und dazu gehörte neben der Sowjetunion auch die DDR. Ohne die
friedliche Außenpolitik der DDR hätte es keine Entspannungspolitik geben
können.
RT DE: Muss Deutschland “kriegstüchtig” werden?
Egon Krenz: Natürlich nicht. Deutschland muss friedensfähig werden. Die
Kriegsrhetorik in unserem Lande macht nicht nur mir Angst. Im
vergangenen Jahr hat SPD-Vorsitzender Klingbeil in einer Grundsatzrede
gefordert: “Nach 80 Jahren Zurückhaltung“habe Deutschland eine neue
Rolle, sie bestehe darin, eine militärische “Führungsmacht” zu sein.
Wenn ich 80 Jahre zurückrechne, stoße ich nicht auf deutsche
Zurückhaltung, sondern auf deutsche Verbrechen, auf die größte
Panzerschlacht des Zweiten Weltkrieges im Kursker Bogen. 350
Wehrmachtspanzer der Marke Marder sollen an den Schlachten gegen die
Rote Armee beteiligt gewesen sein.
Inzwischen gibt es Meldungen, dass Marder aus deutscher Lieferung wieder
im Kurskergebiet kämpfen. Das ist für mich wie ein Stich ins Herz. Und
ich weiß: Für sehr viele in der DDR sozialisierte Bürger auch. Der
Einsatz deutscher Waffen auf russischem Territorium durch die Ukraine
muss beendet werden.
Er sollte endgültig Anlass für die deutsche Regierung sein, keine Waffen
mehr in die Ukraine zu schicken. Übrigens: Mit dem Sieg der Roten Armee
am Kursker Boden war auch der Traum der Anhänger des ukrainischen
Faschisten Stepan Bandera, unter Naziherrschaft einen
ukrainisch-faschistischen Nationalstaat gründen zu können, endgültig
zerschlagen.
Lassen Sie mich bitte noch ein persönliches Erlebnis anfügen:
Kiews Militär im Gebiet Kursk beweist: Entnazifizierung der Ukraine notwendig
Anfang der Sechzigerjahre fragte mich in der Moskauer Metro ein Russe,
ob ich Deutscher sei. Ja, sagte ich, DDR-Deutscher. Er würde gern mit
mir ein Gläschen trinken und mich zu sich nach Hause einladen. Als wir
dort ankommen, ist die Familie vom Urenkel bis zur Großmutter an einem
langen Tisch versammelt. Vor zwei leeren Plätzen stehen Porträts und
Blumen. Die Familie, erfahre ich, gedenkt – wie viele andere an diesem
Tage im ganzen Lande auch – ihrer Toten aus dem Zweiten Weltkrieg. Es
ist der 22. Juni, jener Tag, an dem 1941 Nazideutschland wortbrüchig die
Sowjetunion überfallen hatte.
Es gab Trinksprüche auf die Toten und die Lebenden. Großmutter erzählt,
wie sie den Kriegsbeginn erlebte, wie schwer zu ertragen ist, dass ihr
Mann schon im ersten Kriegsjahr gefallen war. Sie wünschte sich für die
Zukunft, dass nie wieder ausländische Truppen so nahe der Grenze stehen,
wie an jenem Tag, an dem Nazideutschland wortbrüchig ihre Heimat
überfallen hatte. Ich frage mich, warum Politiker in Deutschland –
vorwiegend aus dem Westteil – diesen einfachen Wunsch der Russen nicht
verstehen können oder wollen.
Ich bin überzeugt: Die gegenwärtige Politik Deutschlands gegenüber
Russland widerspricht objektiv den nationalen Interessen der Deutschen.
Nur mit Russland und nie gegen das größte Flächenland der Erde wird es
Frieden geben.
Das wusste schon der konservative Eiserne Kanzler Bismarck, der noch auf
seinem Sterbebett sein Testament hinterließ: “Nie, nie gegen Russland!”
Egon Krenz wurde 1937 in Kolberg / Pommern im heutigen Polen geboren.
Von 1973 bis 1987 war er Mitglied des SED -Zentralkomitees der DDR und
von 1974 bis 1983 Erster Sekretär der DDR-Jugendorganisation FDJ. Ab
1984 war er Stellvertretender Staatsratsvorsitzender von Erich Honecker
und vom 24. Oktober bis zum 6.12.1989 war Egon Krenz der letzte
Staatsratsvorsitzende der DDR. Im November erscheint der 3. Band seiner
Autobiografie mit dem Titel “Verlust und Erwartung – Erinnerungen” bei
der Eulenspiegel-Verlagsgruppe.
https://rtnewsde.com/inland/217511-egon-krenz-ueber-geopolitische-lage/
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