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Echter Multilateralismus widerspiegelt den Reichtum der kulturellen und zivilisatorischen Vielfalt der Völker der Welt
19. Juli 2024
Wir dokumentieren die Rede des Außenministers der Russischen Föderation,
Sergej Lawrow, am 16. Juli 2024 vor dem UN-Sicherheitsrat in der
Übersetzung von Thomas Röper. Dies wegen des bedeutsamen Inhalts, den
das deutsche Publikum offenbar nicht zur Kenntnis nehmen soll; denn
unsere eigene Nachprüfung ergab, dass Röpers einleitende Bemerkung
weiterhin gültig ist: kein Medienbeitrag informiert das Westpublikum
über diese Sicherheitsratssitzung, geschweige denn über den Inhalt von
Lawrows Rede.
Die Lektüre kann auch dem Vergleich mit Qualität und Gehalt dessen
dienen, womit wir von den westlichen Qualitätsmedien zur internationalen
Entwicklung bedient werden. Reizvoll ist zudem der Vergleich der
intellektuellen und humanistischen Kompetenz eines führenden russischen
Politikers mit dem diesbezüglichen Niveau der Personals der
US-Satellitenstaaten.
Webredaktion
Lawrow unterbreitet der Welt einen Vorschlag für eine gerechtere Weltordnung
Der russische Außenminister Lawrow hat am Dienstag im UNO-Sicherheitsrat
eine wichtige Rede gehalten, die weltweit – außer in westlichen Medien –
sehr viel Aufmerksamkeit bekommen hat. Darin hat er konkret aufgezeigt,
wie eine neue, gerechte und multilaterale Weltordnung aussehen könnte,
die nicht mehr vom Westen dominiert wird.
von Anti-Spiegel (d.i. Thomas Röper)
Erstveröffentlichung am 16. Juli 2024 auf anti-spiegel.ru
auch veröffentlicht als Tagesdosis vom 17.07.2024 auf apolut.net
Der Beitrag ist auch als Audiopodcast verfügbar:
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Russland hat derzeit den Vorsitz im UN-Sicherheitsrat inne, was der
russische Außenminister Lawrow für eine Grundsatzrede im Rat genutzt
hat, die weltweit sehr aufmerksam verfolgt, von westlichen Medien aber
weitgehend ignoriert wurde. Wer zum jetzigen Zeitpunkt, einige Stunden
nach der Rede, beim Spiegel unter dem Suchbegriff „Lawrow“ sucht, findet
keinen Artikel über die heutige Sitzung des UN-Sicherheitsrates und
Lawrows Rede.
Dass westliche Medien die Rede ignorieren, ist nicht überraschend, denn
de facto hat Lawrow nicht nur den Westen kritisiert, sondern der Welt
auch erklärt, wie eine gerechte, auf der Gleichberechtigung der Staaten
aufgebaute Weltordnung aussehen könnte, die die vom Westen kontrollierte
Weltordnung, in der die USA allen Staaten der Welt vorschreiben
wollten, wie sie zu leben haben, ersetzen könnte. Da der Westen im
Globalen Süden ohnehin an Boden verliert, weil die Mehrheit der Staaten
der Welt eine ganz andere Sicht auf die Kriege in der Ukraine und in
Gaza hat, als der Westen, ist Lawrows Rede vor allem außerhalb des
Westens auf großes Interesse gestoßen.
Aber die westlichen Medien verheimlichen ihrem Publikum die derzeit
stattfindenden geopolitischen Prozesse, weil die westliche
Öffentlichkeit nicht erfahren soll, wie isoliert der Westen
international bereits ist. Die westlichen Medien halten stattdessen die
Legende aufrecht, der Westen wäre immer noch der Nabel der Welt und die
ganze Welt wolle so sein, wie der Westen. Dabei sind diese Zeiten längst
vorbei.
Da Lawrows Rede für politisch Interessierte ausgesprochen interessant war, habe ich sie komplett übersetzt.
Beginn der Übersetzung:
Ich möchte die im Plenarsaal des Sicherheitsrates anwesenden hohen
Würdenträger herzlich willkommen heißen. Ihre Teilnahme an der heutigen
Sitzung zeigt, wie wichtig das Thema ist, über das wir sprechen.
Ägypten, Äthiopien, Chile, Indien, Indonesien, Irak, die Islamische
Republik Iran, Kambodscha, Kasachstan, Kuba, Kuwait, Malediven, Marokko,
Nepal, Nicaragua, Pakistan, Philippinen, Saudi-Arabien, Serbien,
Südafrika, die Arabische Republik Syrien, Thailand, Timor-Leste, die
Türkei, Uganda, die Vereinigten Arabischen Emirate und Venezuela.
Gemäß Regel 39 der vorläufigen rechtlichen Verfahren des Rates lade ich
Seine Exzellenz Herrn Lambrinidis, den Leiter der Delegation der EU bei
den Vereinten Nationen, zur Teilnahme an dieser Sitzung ein.
Der Sicherheitsrat wird nun mit der Behandlung von Tagesordnungspunkt 2
beginnen. Ich möchte die Aufmerksamkeit der Ratsmitglieder auf das
Dokument S/2024/537 lenken, ein Schreiben des Ständigen Vertreters der
Russischen Föderation bei den Vereinten Nationen vom 9. Juli 2024, das
an den Generalsekretär der Vereinten Nationen, Antonio Guterres,
gerichtet ist und eine Konzeptnotiz zu dem zur Debatte stehenden Punkt
enthält.
Sehr geehrte Damen und Herren, Eure Exzellenz,
heute stehen die Grundlagen der internationalen Rechtsordnung – die
strategische Stabilität und das UN-zentrische System der Weltpolitik –
auf dem Prüfstand. Es wird unmöglich sein, die sich häufenden Konflikte
zu lösen, wenn wir nicht ihre Ursachen verstehen und das Vertrauen in
unsere Fähigkeit wiederherstellen, unsere Kräfte für das Gemeinwohl und
die Gerechtigkeit für alle zu bündeln.
Sagen wir es offen: Nicht alle in diesem Saal vertretenen Staaten
erkennen den wichtigsten Grundsatz der UN-Charta an: die souveräne
Gleichheit aller Staaten. Die USA haben durch ihre Präsidenten lange
Zeit ihren eigenen Exzeptionalismus verkündet. Das gilt auch für die
Haltung Washingtons gegenüber seinen Verbündeten, von denen es
bedingungslosen Gehorsam verlangt, selbst wenn dies auf Kosten ihrer
nationalen Interessen geht.
Herrsche, Amerika! Das ist die Essenz der berüchtigten „regelbasierten
Ordnung“, einer direkten Bedrohung für den Multilateralismus und den
internationalen Frieden.
Die wichtigsten Bestandteile des Völkerrechts – die UN-Charta und die
Beschlüsse unseres Rates – werden vom „kollektiven Westen“ auf perverse
und selektive Weise interpretiert, je nachdem, welche Anweisungen aus
dem Weißen Haus kommen. Und viele Resolutionen des Sicherheitsrates
werden ganz und gar ignoriert.
Dazu gehören die Resolution 2202, mit der das Minsker Abkommen über die
Ukraine gebilligt wurden, und die Resolution 1031, mit der das
Dayton-Abkommen über den Frieden in Bosnien und Herzegowina auf der
Grundlage des Prinzips der Gleichberechtigung der drei konstituierenden
Völker und zweier Entitäten gebilligt wurde.
Wir können endlos über die Sabotage der Resolutionen zum Nahen Osten
reden – es genügt schon die Aussage von Anthony Blinken in einem
Interview mit CNN im Februar 2021 auf die Frage, was er von der
Entscheidung der vorherigen US-Regierung halte, die syrischen Golanhöhen
als zu Israel gehörig anzuerkennen. Falls sich jemand nicht mehr daran
erinnert, frische ich die Erinnerung auf. Als Antwort auf diese Frage
sagte der US-Außenminister: „Abgesehen von der Frage der Rechtmäßigkeit
ist der Golan aus praktischer Sicht sehr wichtig für die Sicherheit
Israels.“
Und das, obwohl die Resolution 497 des UN-Sicherheitsrates von 1981, die
Sie und ich sehr gut kennen und die niemand aufgehoben hat, eine
Annexion der Golanhöhen durch Israel als illegal qualifiziert. Aber nach
eben diesen „Regeln“ sollen wir, um Anthony Blinken zu zitieren, „die
Frage der Rechtmäßigkeit“ beiseite lassen.
Und natürlich erinnert sich jeder an die Erklärung des Ständigen
Vertreters der USA bei der UNO, dass die am 25. März dieses Jahres
angenommene Resolution 2728, in der ein sofortiger Waffenstillstand im
Gazastreifen gefordert wird, „rechtlich nicht bindend ist“. Das heißt,
die amerikanischen „Regeln“ sind wichtiger als Artikel 25 der UN-Charta.
Bereits im letzten Jahrhundert hat George Orwell in seiner Erzählung
„Animal Farm“ das Wesen der „regelbasierten Ordnung“ vorausgesehen:
„Alle Tiere sind gleich, aber einige sind gleicher als andere“. Wenn man
den Willen des Hegemons befolgt, ist alles erlaubt. Wer es aber wagt,
seine nationalen Interessen zu verteidigen, wird zum Paria erklärt und
sanktioniert.
Washingtons Hegemonialpolitik hat sich seit Jahrzehnten nicht geändert.
Ausnahmslos alle transatlantischen Sicherheitskonzepte basierten auf der
Sicherung der US-Dominanz, einschließlich der Unterwerfung Europas und
der „Eindämmung“ Russlands. Die wichtigste Rolle wurde der NATO
zugewiesen, die am Ende die EU, die für die Europäer geschaffen worden
zu sein schien, „unterwarf“. Die Strukturen der OSZE wurden unter
eklatantem Verstoß gegen die Schlussakte von Helsinki schamlos
privatisiert.
Die rücksichtslose Ausweitung der NATO entgegen den wiederholten
Warnungen Moskaus hat über viele Jahre hinweg auch die Ukraine-Krise
provoziert, beginnend mit dem von Washington organisierten Staatsstreich
im Februar 2014, um die vollständige Kontrolle über die Ukraine zu
erlangen und mit Hilfe des an die Macht gebrachten Neonazi-Regimes einen
Angriff gegen Russland vorzubereiten. Als Poroschenko und dann Selensky
im Donbass Krieg gegen ihre eigenen Bürger führten, das russische
Bildungswesen, die russische Kultur, die russischen Medien und die
russische Sprache insgesamt per Gesetz zerstörten und die
ukrainisch-orthodoxe Kirche verboten, bemerkte das im Westen niemand und
niemand verlangte von den Untergebenen in Kiew, „den Anstand zu wahren“
und nicht gegen internationale Übereinkommen über die Rechte nationaler
Minderheiten oder sogar die Verfassung der Ukraine selbst zu verstoßen,
die die Achtung dieser Rechte vorschreibt. Die Militäroperation wurde
eingeleitet, um genau diese Bedrohungen für die Sicherheit Russlands zu
beseitigen und Menschen zu schützen, die sich als Teil der russischen
Kultur fühlen und in Gebieten leben, die ihre Vorfahren seit
Jahrhunderten besiedelt haben, um sie vor der juristischen und sogar
physischen Ausrottung zu bewahren.
Es ist bezeichnend, dass selbst jetzt, wo zahlreiche Initiativen für
eine Lösung in der Ukraine vorgeschlagen werden, nur wenige Leute an die
Verletzung der Menschenrechte und der Rechte der nationalen
Minderheiten durch Kiew denken. Erst vor kurzem wurde in den
EU-Dokumenten zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine
eine entsprechende Forderung formuliert, was vor allem auf die
prinzipienfeste und beharrliche Haltung Ungarns zurückzuführen ist. Die
tatsächlichen Möglichkeiten und der Wille Brüssels, auf das Kiewer
Regime einzuwirken, sind jedoch fraglich.
Wir fordern alle, die wirklich an einer Überwindung der Krise in der
Ukraine interessiert sind, auf, in ihren Vorschlägen die zentrale Frage
der Rechte ausnahmslos aller nationalen Minderheiten zu berücksichtigen.
Das Schweigen zu diesem Thema entwertet Friedensinitiativen und
unterstützt die rassistische Politik von Selensky faktisch. Es ist
bezeichnend, dass Selensky 2014, also vor zehn Jahren, sagte: „Wenn die
Menschen im Osten der Ukraine und auf der Krim Russisch sprechen wollen,
lasst sie in Ruhe, gebt ihnen gesetzlich das Recht, Russisch sprechen.
Die Sprache wird unser Heimatland niemals spalten.“
Seitdem hat Washington ihn erfolgreich umerzogen, und 2021 forderte
Selensky in einem seiner Interviews bereits diejenigen, die sich der
russischen Kultur verbunden fühlen, auf, um der Zukunft ihrer Kinder und
Enkel willen nach Russland zu gehen.
Ich appelliere an die Beherrscher des ukrainischen Regimes: Halten Sie
sich an Artikel 1.3 der UN-Charta, der die Grundrechte und -freiheiten
aller Menschen „ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache
oder der Religion“ garantiert.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen,
der NATO reicht der Krieg nicht mehr, den sie durch die illegitime
Regierung in Kiew gegen Russland entfesselt hat, und auch der gesamte
Raum der OSZE reicht ihr nicht mehr. Nachdem die USA die grundlegenden
Vereinbarungen zur Rüstungskontrolle fast bis auf das Fundament zerstört
haben, verschärfen sie die Konfrontation weiter. Kürzlich haben die
Staats- und Regierungschefs der Bündnisländer auf dem Gipfel in
Washington ihren Anspruch auf eine führende Rolle nicht nur im
transatlantischen, sondern auch im asiatisch-pazifischen Raum
bekräftigt. Es wird erklärt, dass sich die NATO nach wie vor von der
Aufgabe leiten lässt, das Territorium ihrer Mitglieder zu verteidigen,
dass aber zu diesem Zweck die Vorherrschaft des Bündnisses auf den
gesamten eurasischen Kontinent und die angrenzenden Seegebiete
ausgedehnt werden müsse.
Die militärische Infrastruktur der NATO verlagert sich mit dem
offensichtlichen Ziel in den pazifischen Raum, die ASEAN-zentrierte
Architektur zu untergraben, die jahrzehntelang auf den Grundsätzen der
Gleichheit, der gegenseitigen Interessen und des Konsenses aufgebaut
war. Um diese inklusiven Mechanismen zu ersetzen, die um die ASEAN herum
geschaffen wurden, schmieden die USA und ihre Verbündeten geschlossene
konfrontative Blöcke wie AUKUS und andere verschiedene Arten von
„Vierern“ und „Dreiern“, die ihnen untergeordnet sind. Neulich sagte der
stellvertretende Pentagon-Chef Hicks, dass sich die USA und ihre
Verbündeten „auf langwierige Kriege vorbereiten sollten, und zwar nicht
nur in Europa“.
Um Russland, China und andere Länder „einzudämmen“, deren unabhängige
Politik sie als Herausforderung für die Hegemonie empfinden, zerbricht
der Westen durch sein aggressives Vorgehen das System der
Globalisierung, das ursprünglich nach seinen eigenen Vorstellungen
gestaltet wurde. Washington hat alles getan, um die Grundlagen der für
beide Seiten vorteilhaften Energiezusammenarbeit zwischen Russland und
Deutschland und Europa insgesamt zu zerstören – auch buchstäblich durch
die Organisation von Terroranschlägen auf die Nord-Stream-Gaspipelines.
Berlin hat damals geschwiegen. Heute erleben wir eine weitere Demütigung
Deutschlands, dessen Regierung der Entscheidung der USA, bodengestützte
Mittelstreckenraketen auf deutschem Territorium zu stationieren,
bedingungslos gehorcht hat. Der deutsche Bundeskanzler Scholz sagte
einfach: „Die USA haben entschieden, Präzisionsangriffswaffen in
Deutschland zu stationieren, und das ist eine gute Entscheidung.“ Die
USA haben entschieden.
Und bei all dem erklärt John Kirby, der Medien-Koordinator in
Washington, im Namen des US-Präsidenten: „Wir streben keinen dritten
Weltkrieg an. Er hätte schreckliche Folgen für den europäischen
Kontinent.“
Wie man so schön sagt, ein Freudscher Versprecher: Washington ist
überzeugt, dass nicht die USA unter einem neuen globalen Krieg leiden
werden, sondern ihre europäischen Verbündeten. Wenn die Strategie der
Biden-Administration auf dieser Analyse beruht, dann ist das eine
äußerst gefährliche Fehleinschätzung. Und natürlich müssen die Europäer
erkennen, welche selbstmörderische Rolle ihnen zugedacht ist.
Die Amerikaner, die dem gesamten kollektiven Westen „die Waffe an den
Kopf halten“, weiten den Handels- und Wirtschaftskrieg mit den
Unerwünschten aus, indem sie eine beispiellose Kampagne einseitiger
Zwangsmaßnahmen entfesseln, die in erster Linie auf Europa
zurückschlagen und zu einer weiteren Fragmentierung der Weltwirtschaft
führen. Die Länder des globalen Südens in Asien, Afrika und
Lateinamerika leiden unter den neokolonialen Praktiken der westlichen
Länder. Die illegalen Sanktionen, die zahlreichen protektionistischen
Maßnahmen und Beschränkungen des Zugangs zu Technologien stehen in
direktem Widerspruch zu echtem Multilateralismus und behindern die
Erreichung der Ziele der UN-Entwicklungsagenda erheblich.
Wo sind all die Attribute des freien Marktes, die die USA und ihre
Verbündeten so viele Jahre lang allen beigebracht haben?
Marktwirtschaft, fairer Wettbewerb, Unverletzlichkeit des Eigentums,
Unschuldsvermutung, freier Personen-, Waren-, Kapital- und
Dienstleistungsverkehr – all das wurde über Bord geworfen. Die
Geopolitik hat die für den Westen einst heiligen Gesetze des Marktes zu
Grabe getragen. In jüngster Zeit haben Beamte aus den USA und der EU
China öffentlich aufgefordert, die „Überproduktion“ in
Hightech-Industrien zu reduzieren, da der Westen auch in diesen Sektoren
seine langjährigen Vorteile zu verlieren begonnen hat. Anstelle von
Marktprinzipien sind es nun genau diese „Regeln“.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen,
das Vorgehen der USA und ihrer Verbündeten behindert die internationale
Zusammenarbeit und den Aufbau einer gerechteren Welt, hält ganze Länder
und Regionen in Geiselhaft, hindert die Völker an der Ausübung der in
der UN-Charta verankerten Souveränitätsrechte und lenkt von der dringend
notwendigen gemeinsamen Arbeit zur Lösung der Konflikte im Nahen Osten,
in Afrika und anderen Regionen, zur Verringerung der weltweiten
Ungleichheit, zur Beseitigung der Bedrohungen durch Terrorismus und
Drogenkriminalität, Hunger und Krankheit ab.
Ich bin überzeugt, dass diese Situation behoben werden kann – natürlich,
wenn der gute Wille vorhanden ist. Um die Entwicklung des
Negativszenarios zu stoppen, möchten wir eine Reihe von Schritten zur
Diskussion stellen, die darauf abzielen, das Vertrauen
wiederherzustellen und die internationale Situation zu stabilisieren.
Erstens: Man muss die Ursachen der Krise in Europa ein für alle Mal
beseitigen. Die Bedingungen für die Schaffung eines dauerhaften Friedens
in der Ukraine wurden vom Präsidenten der Russischen Föderation,
Wladimir Putin, dargelegt; ich werde sie nicht wiederholen.
Eine politische und diplomatische Lösung muss mit konkreten Schritten
einhergehen, um die Bedrohung der Russischen Föderation aus dem
westlichen, dem transatlantischen Raum zu beseitigen. Bei der
Vereinbarung gegenseitiger Garantien und Abkommen müssen wir die neuen
geostrategischen Realitäten auf dem eurasischen Kontinent
berücksichtigen, wo eine kontinentweite Architektur wirklich gleicher
und unteilbarer Sicherheit Gestalt annimmt. Europa riskiert, hinter
diesen objektiven historischen Prozess zurückzufallen. Wir sind zur
Suche nach einem Interessenausgleich bereit.
Zweitens: Die Wiederherstellung des regionalen und globalen
Kräftegleichgewichts muss mit aktiven Bemühungen zur Beseitigung von
Ungerechtigkeiten in der Weltwirtschaft einhergehen. In einer
multipolaren Welt kann es per Definition keine Monopolisten in den
Bereichen Währungs- und Finanzregulierung, Handel oder Technologie
geben. Diese Ansicht wird von der großen Mehrheit der Weltgemeinschaft
geteilt. Von besonderer Bedeutung ist die baldige Reform der
Bretton-Woods-Institutionen und der WTO, deren Aktivitäten das
tatsächliche Gewicht der nicht-westlichen Wachstums- und
Entwicklungszentren widerspiegeln müssen.
Drittens: Ernsthafte, qualitative Veränderungen müssen auch in anderen
Institutionen der Weltordnung stattfinden, wenn sie zum Wohle aller
arbeiten sollen. Dies gilt vor allem für unsere Organisation, die UNO,
die trotz allem immer noch die Verkörperung des Multilateralismus ist,
mit ihrer einzigartigen, universellen Legitimität und der allgemein
anerkannten Breite ihrer Kompetenzen.
Ein wichtiger Schritt zur Wiederherstellung der Wirksamkeit der UNO
wäre, wenn alle ihre Mitglieder ihr Bekenntnis zu den Grundsätzen der
UN-Charta bekräftigen würden, und zwar nicht punktuell, sondern in ihrer
Gesamtheit und in ihrem Zusammenwirken. Wir können gemeinsam darüber
nachdenken, wie so eine Bekräftigung aussehen könnte.
Die Gruppe der Freunde zur Verteidigung der UN-Charta, die auf
Initiative Venezuelas gegründet wurde, arbeitet hart daran. Wir laden
alle Länder, die noch an die Herrschaft des Völkerrechts glauben, ein,
sich ihrer Arbeit anzuschließen.
Ein Schlüsselelement der Reform der UNO muss eine Änderung der
Zusammensetzung des Sicherheitsrates sein, auch wenn das allein nicht
zielführend sein wird, solange keine grundsätzliche Einigung über den
Modus Operandi der ständigen Mitglieder besteht. Diese Überlegung ändert
jedoch nichts an der Notwendigkeit, die geografischen und
geopolitischen Verzerrungen im Sicherheitsrat zu beseitigen, in dem der
kollektive Westen heute eindeutig überrepräsentiert ist. Eine möglichst
breite Einigung über die spezifischen Parameter der Reform zur Stärkung
der Vertretung Asiens, Afrikas und Lateinamerikas ist ein längst
überfälliger Schritt.
Auch eine Änderung der Personalpolitik des Sekretariats ist
erforderlich, um die Überrepräsentation westlicher Staatsangehöriger und
Subjekte in den Verwaltungsstrukturen der UNO zu beseitigen. Der
Generalsekretär und sein Personal sind ausnahmslos den Grundsätzen der
Unparteilichkeit und Neutralität verpflichtet, wie sie in Artikel 100
der UN-Charta festgelegt sind, woran wir nicht müde werden zu erinnern.
Viertens: Neben der UNO müssen auch andere multilaterale Organisationen
zur Stärkung der Multipolarität im internationalen Leben beitragen. Dazu
gehören die G20, in der sowohl die Länder der Weltmehrheit als auch die
westlichen Staaten vertreten sind. Das Mandat der G20 ist strikt auf
wirtschaftliche und entwicklungspolitische Fragen beschränkt, daher ist
es wichtig, dass der inhaltliche Dialog auf dieser Plattform frei von
opportunistischen Versuchen ist, geopolitische Themen einzubringen.
Andernfalls werden wir diese nützliche Plattform zerstören.
Die BRICS und die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit spielen
eine immer wichtigere Rolle beim Aufbau einer gerechten multilateralen
Ordnung auf der Grundlage der Prinzipien der UN-Charta. Sie vereinen
Länder, die verschiedene Regionen und Zivilisationen repräsentieren und
auf der Grundlage von Gleichheit, gegenseitigem Respekt, Konsens und für
beide Seiten akzeptablen Kompromissen zusammenarbeiten, das ist der
„Goldstandard“ der multilateralen Zusammenarbeit unter Beteiligung von
Großmächten.
Regionale Zusammenschlüsse wie die GUS, die OVKS, die Eurasische
Wirtschaftsunion, die ASEAN, der Golf-Kooperationsrat, die Liga
Arabischer Staaten, die Afrikanische Union und die CELAC sind von
praktischer Bedeutung für den Aufbau der Multipolarität. Wir sehen es
als eine wichtige Aufgabe an, vielfältige Verbindungen zwischen ihnen
herzustellen, auch unter Einbeziehung des Potenzials der UNO. Die
russische Präsidentschaft im Sicherheitsrat wird eine ihrer nächsten
Sitzungen der Zusammenarbeit der UNO mit den eurasischen
Regionalorganisationen widmen.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen,
in seiner Rede auf dem Parlamentarischen BRICS-Forum am 9. Juli dieses
Jahres in St. Petersburg sagte der russische Präsident Wladimir Putin:
„Die Schaffung einer Weltordnung, die das tatsächliche Gleichgewicht der
Kräfte widerspiegelt, ist ein komplexer und in vielerlei Hinsicht sogar
schmerzhafter Prozess.“
Wir sind der Meinung, dass die Diskussionen über dieses Thema auf einer
nüchternen Analyse der Gesamtheit der Fakten beruhen sollten, ohne in
fruchtlose Polemik abzugleiten. In erster Linie muss man die
professionelle Diplomatie, die Kultur des Dialogs, die Fähigkeit
zuzuhören und die Kanäle der Krisenkommunikation erhalten. Das Leben von
Millionen von Menschen hängt davon ab, ob Politiker und Diplomaten in
der Lage sind, eine gemeinsame Vision der Zukunft zu formulieren. Ob
unsere Welt vielfältig und gerecht sein wird, hängt allein von den
Mitgliedsländern der UNO ab. Die Charta unserer Organisation ist der
Dreh- und Angelpunkt. Wenn sich ausnahmslos alle an Geist und Buchstaben
der Charta halten, kann die UNO die derzeitigen Differenzen überwinden
und in den meisten Fragen auf einen gemeinsamen Nenner kommen.
Das „Ende der Geschichte“ ist nicht eingetreten. Lassen Sie uns
gemeinsam auf den Beginn der Geschichte des echten Multilateralismus
hinarbeiten, die den Reichtum der kulturellen und zivilisatorischen
Vielfalt der Völker der Welt widerspiegelt. Wir laden Sie zu dieser
Diskussion ein, die natürlich ausschließlich ehrlich sein muss.
Ende der Übersetzung
Thomas Röper, geboren 1971, lebt seit über 15 Jahren in Russland. Die
Schwerpunkte seiner medienkritischen Arbeit sind das (mediale)
Russlandbild in Deutschland, Kritik an der Berichterstattung westlicher
Medien im Allgemeinen und die Themen (Geo-)Politik und Wirtschaft.
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