Entnommen: https://linkezeitung.de/2024/06/23/wahllos-in-europa/
Wahllos in Europa
VERÖFFENTLICHT VON LZ ⋅ 23. JUNI 2024 ⋅ HINTERLASSE EINEN KOMMENTAR
von Rüdiger Rauls – https://ruedigerraulsblog.wordpress.com
Die Bedeutung der Europawahlen lag weniger in der Neu-Besetzung des
europäischen Parlaments als vielmehr in der Abrechnung mit den
nationalen Regierungen. Was sagen die Ergebnisse aus über die politische
Lage in der EU und welche Entwicklungen zeichnen sich ab?
Rechts gewinnt
Die Gewichte in Europa haben sich nach rechts verschoben, wie immer
“rechts” auch definiert sein mag. Dieses Etikett wird hauptsächlich von
den Parteien der sogenannten Mitte und Linken benutzt. Sie beurteilen
als rechte Gesinnung bestimmte Einstellungen zur Migration,
Identitätsfragen, Minderheiten, Klimawandel und neuerdings auch dem
Verhältnis zu Russland, China und der Unterstützung der Ukraine. Die in
diesem Sinne rechten Parteien haben an Stimmen gewonnen. Das ist
vordergründig das Offensichtliche, wenn man die Ergebnisse der
Europa-Wahl betrachtet.
Besonders das starke Abschneiden der Alternative für Deutschland (AfD)
fällt auf. Daran haben selbst die politisch erwünschten und geförderten
wochenlangen Demonstrationen gegen Rechts nicht so viel geändert. Wenn
vermutlich auch das Ergebnis der AfD darunter gelitten hat, so hat die
Wahlanalyse von Infratest Dimap doch ergeben, dass die AfD nicht länger
als eine Protestpartei angesehen werden kann. Sie hat sich einen treuen
Wählerstamm aufgebaut, ist besonders im Osten Deutschlands zur stärksten
politischen Kraft geworden und steht sogar im gesamten Deutschland auf
Platz zwei.
Sie dient nicht länger als Denkzettel, sondern ist vielmehr zu einem
Benotungssystem für die Politik der anderen Parteien geworden. Die
Vermutung, “dass die AfD-Wähler aus einer temporären Unzufriedenheit
heraus handelten”(1), wird durch die Wahlanalyse nicht mehr bestätigt.
Vielmehr geben 70 Prozent der AfD-Wähler an, “die politischen
Forderungen der Partei zu unterstützen”(2). Die Altparteien können sich
nicht weiter mit ihren Vermutungen und Hoffnungen vertrösten.
Wenn auch mancher Wähler, wahrscheinlich vornehmlich im Westen, sich hat
verunsichern lassen in seiner Wahlentscheidung für die AfD, so muss
andererseits aber auch festgestellt werden, dass der Vorwurf des
Rechtsextremismus sich immer weiter abnutzt. Die überwiegende Mehrheit
der AfD-Wähler hält die Partei nicht für rechtsextrem, aber selbst wenn
“dem so wäre, sei es egal, so lange die richtigen Themen angesprochen
würden”(3). An dieser Haltung wird deutlich, dass sich der Vorwurf des
Rechtsextremismus so weit verbraucht hat, dass daraus sogar ein
gefestigtes politisches Bewusstsein entstanden ist, das sich dem
herrschenden Denken widersetzt.
Der Aufmarsch gegen die AfD und gegen Rechts hat zum Gegenteil geführt.
Die Menschen scheuen den Kontakt zur Rechten immer weniger. Die
moralisierende statt einer politisch-inhaltlichen Auseinandersetzung der
letzten Wochen hat nicht zur Schwächung der Rechten geführt, sondern
hat im Gegenteil die hilflose Argumentation ihrer Gegner offengelegt.
Wer nicht argumentieren kann, kann nicht überzeugen. Da hilft auf Dauer
auch keine moralische Empörung weiter.
Politische Mitte unter Druck
Ähnlich wie in Deutschland scheint auch die Lage in Frankreich zu sein,
wo sich Präsident Macron durch die Gewinne von Marine LePen und ihrem
Rassemblement National (RN) zur Ausrufung von Parlaments-Neuwahlen
veranlasst sah. Für ihn selbst hat das fürs erste keine Konsequenzen.
Fraglich ist, ob sein Plan aufgeht, die französischen Wähler mit dem
Gespenst einer drohenden rechten Gefahr wieder auf Linie zu bringen oder
ob der Schuss sogar nach hinten losgeht. Durch diesen Schritt sind an
den Finanzmärkten “französische Anleihen unter Verkaufsdruck geraten.
Die Risikoaufschläge haben sich erhöht”(4). Anleger und Rating-Agenturen
scheinen im Gegensatz zu Macron nicht mehr Stabilität zu erwarten
sondern weniger.
Darin zeigen sich aber wieder einmal Kurzsichtigkeit und Kopflosigkeit
der herrschenden Politik. Ohne analysiert zu haben, was das Ergebnis der
EU-Wahl aussagt und was es für die eigene Gesellschaft bedeutet, werden
Schüsse aus der Hüfte abgefeuert, die nur einen einzigen Sinn haben:
für die eigene Politik Vorteile zu erringen.
Denn das Ergebnis der Wahlanalyse ist ein ganz anderes als der
Kurzschluss, dass die Rechte gewinnt. Besonders die Zahlen aus dem
Norden Europas zeigen eine entgegengesetzte Entwicklung. Hier verlieren
rechte Parteien, soweit sie an der Macht beteiligt waren. Die
erfolgsverwöhnten Schwedendemokraten büßten gegenüber der Europawahl von
2019 zwei Prozentpunkte ein, wohingegen Sozialdemokraten und Grüne
zulegten.
In Finnland verloren die Basisfinnen fast sieben Prozentpunkte und
stürzten auf den sechsten Platz ab. Sie haben sich an der Macht
entzaubert, weil sie sehr unpopuläre Entscheidungen wie die
Rentenkürzungen mitgetragen haben. Die dänische Volkspartei erhielt nur
noch sechs Prozent, vier Punkte weniger als vor fünf Jahren. Sieger
waren die Sozialisten mit Umweltthemen, die den Grünen sonst im Rest
Europas zum Verhängnis wurden. Selbst in Ungarn, nach europäischer Sicht
das Mutterland des rechten Populismus, hat Orbans Fidesz “mit 44
Prozent eher schwach abgeschnitten”(5). Ein solch schlechtes Ergebnis
hatte die Partei noch nie gehabt seit Ungarns EU-Beitritt vor zwanzig
Jahren.
Wenn auch die bürgerlich-linken Parteien insgesamt in Europa verloren
haben, so kann nicht allgemein von einem Sieg der Rechten als Ausdruck
einer Zunahme rechten Denkens gesprochen werden. Dass Rechts gewinnt,
liegt daran in erster Linie daran, dass die Wähler mit der Politik der
Regierungen in Europa insgesamt unzufrieden zu sein scheinen. Weil diese
aber derzeit eher von bürgerlichen Parteien des links-grünen Milieus
gestellt werden, trifft es diese vornehmlich.
Angesichts eines Mangels an vertretbaren linken Alternativen bleibt den
Bürgern nichts anderes übrig, als rechts zu wählen, wenn sie ihren Unmut
zum Ausdruck bringen wollen. Dort wo sich linke Alternativen als
wählbar anbieten, wird dieses Angebot angenommen, wie das Ergebnis für
Wagenknechts BSW zeigt, die immerhin aus dem Stand sechs Prozent
erringen konnte. Das ist Wagenknechts Popularität zu verdanken, nicht
der Politik dieses Bündnisses, das ja bisher noch gar keine gefestigte
Organisation, geschweige denn gar eine praktische Politik vorweisen
kann.
Gegenüber dem letzten Urnengang in Europa ist die Wahlbeteiligung gleich
von 50,6 auf 51,1 Prozent(6) angestiegen. Es kann nicht gesagt werden,
ob sich darin ein Bedeutungszuwachs der Wahlen zum Europäische Parlament
in der Sicht der europäischen Bürger ausdrückt. Mancherorts fanden wie
in Deutschland gleichzeitig auch Wahlen zu nationalen Vertretungen
statt, sodass die Wahlbeteiligung dadurch verzerrt worden sein kann. Die
höhere Wahlbeteiligung kann aber auch zum Ausdruck bringen, dass mehr
Menschen diese Gelegenheit genutzt haben, um in dem Rahmen, den das
herrschende System ermöglicht, ihren Unmut auszudrücken?
Es bleibt festzustellen, dass die Wähler sich weiterhin im Hamsterrad
der Regierungswechsel um Veränderung bemühen. Dennoch scheint die
Hoffnung zu schwinden, durch neue Regierungen mit neuen Parteien unter
gleich bleibenden Bedingungen Verbesserungen für das eigene Leben zu
erzielen. Denn wenn auch die Umfragewerte von Bundeskanzler Scholz
katastrophal sind, so hat die größte Oppositionspartei, die CDU, mit
einem Zuwachs von 1,1 Prozentpunkten kaum einen Vorteil aus dem
schlechten Ansehen von Kanzler und Regierung ziehen können. Zweifelhaft
ist, ob sie verhindern kann, “dass die Schockwellen aus Ostdeutschland
im Rest Deutschlands ein noch größeres Beben auslösen”(7)
Herausforderer Friedrich Merz trauen noch weniger Bürger zu, ein guter
Kanzler zu sein, als dem in Umfragen so schwachen Scholz. “Selbst
innerhalb der Anhänger von CDU/CSU hätte ein Kanzlerkandidat Merz keine
Mehrheit hinter sich”(7). Das ist der Zustand der politischen Mitte in
Deutschland und vermutlich auch in Europa. Sie kann die Wählerschaft
immer weniger an sich binden. Dass die Rechte siegt, ist nicht unbedingt
Ausdruck eigener Stärke und Nachweis von Überzeugungskraft. Sie nährt
sich aus Zerfall und Inhaltsleere der Politik der bürgerlichen Mitte.
Ihr Aufstieg ist zudem begünstigt durch den Mangel an überzeugender
linker Alternative.
Grün verliert
Die Kernwählerschaft der Grünen setzt sich ab. Erste Untersuchungen
zeigen, dass “junge Leute unter dreißig der Partei in Scharen davon
gelaufen sind”(9). 2019 erreichten die Grünen noch 20,5 Prozent, denn
insgesamt “schien grün in Europa gewaltig auf dem Vormarsch”(10), heute
sind es acht Prozentpunkte weniger. Grün stand nicht nur für
Umweltschutz und Klima, das damals durch Bewegungen wie Fridays for
Future ordentlich für Furore sorgte. Grün stand auch für
Werteorientierung schlechthin.
Wer grün war, sich grün gab oder grün wählte, stand auf der richtigen
Seite, war unangreifbar. Grün stand für moralische Überlegenheit und
versucht es heute immer noch. Aber angesichts der Auswirkungen grüner
Politik und Wertemission sowie der Kosten, die den meisten Menschen
dadurch aufgebürdet wurde, hat dieses Denken an Anziehungskraft
verloren. Im Gegenteil schlägt es um in Aggression besonders gegenüber
dieser Partei. Je mehr Grün in Verruf kommt, umso schneller ziehen sich
jene zurück, deren grüne Selbstdarstellung nichts weiter war als
Lippenbekenntnisse.
Die Proteste der Gelbwesten und Bauern hatten sich an grünen Kernthemen
entzündet. Auch die sogenannten populistischen Bewegungen auf der
rechten Seite des politischen Spektrums haben in ihrem Kern die
Ablehnung all dessen, wofür grüne Ideologie in den letzten Jahres stand.
Das ist so beim Thema Migration, der Energie- und Verkehrswende, der
Bedrohung der Lebensgrundlagen durch Preissteigerungen, aber auch bei
der Frage der herkömmlichen Werte und Normen.
Der europäische Green-Deal und die links-grüne Politik vieler
europäischer Regierungen waren eine Reaktion auf die Proteste der
Mittelstands-Kids um Fridays for Future gewesen. Deren Forderungen waren
nichts weiter als die Fortsetzung westlicher Werteorientierung,
verstärkt durch pubertäre Vorwurfshaltung und kopflose Panik.
Unter dem Eindruck der Bauernproteste in ganz Europa, dem Murren gegen
die Zumutungen des Gebäudeenergiegesetzes, des Verbrennerverbots und
andere grüner Umerziehungsversuche wächst die Ablehnung in der
Bevölkerung gegenüber den Grünen und ihren Anhängern. Deren ideologisch
verblendetes Denken, dem die Interessen der einfachen Leute gleichgültig
zu sein scheinen, weckt zunehmend auch Aggressionen besonders gegenüber
grünen Politikern.
Grün scheint unten durch zu sein. Das zeigt sich in den Wahlergebnissen.
Für die einfachen Leute bedeutet der grüne Einflussverlust aber noch
keine Entwarnung. Zwar hat man den Regierenden mit den Ergebnissen der
Europawahl gezeigt, wo der Hammer hängt und wer entscheidend ist für das
Funktionieren der Gesellschaft. Aber das Hamsterrad der
Regierungswechsel dreht sich trotzdem weiter.
Wie die Schwedendemokraten, die Basisfinnen und andere Rechtspopulisten
an der Macht deutlich gemacht haben, ändert die Drehrichtung dieses
Hamsterrades nichts an den Lebensverhältnissen. So lange sich die
einfachen Leute keine Partei schaffen, die alleine ihren Interessen
verpflichtet ist, haben sie eigentlich keine wirkliche Wahl. Jede neue
Regierung bringt nur weitere neue Enttäuschungen, so lange diese nicht
verbunden ist mit einer neuen Ordnung.
(1) Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 11.06.2024: Auch die Jugend rückt nach rechts
(2) ebenda
(3) ebenda
(4) FAZ vom 13.6.24: Frankreich muss wegen Neuwahlen mehr Zinsen zahlen
(5) FAZ vom 11.6.24: Ein Konkurrent für Orban
(6) Wahlbeteiligung EU nach Ländern
(7) FAZ vom 11.6.24: Das Beben im Osten
(8) FAZ vom 11.06.2024: Auch die Jugend rückt nach rechts
(9) FAZ vom 10.6.2024: Koalition ohne Fortschritt
Rüdiger Rauls ist Reprofotograf und Buchautor. Er betreibt den Blog Politische Analyse
https://ruedigerraulsblog.wordpress.com/2024/06/20/wahllos-in-europa/
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