Entnommen: http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=29103
Kundgebung "Gute Nachbarschaft mit Russland", Aachen, 9. Mai 2024
In einer Zeit, in der der Dritte Weltkrieg droht
Von Arbeiterfotografie
"Liebe Freundinnen und Freunde des Friedens, in einer Zeit, in der
Kriegs-Minister Pistorius redet von 'Kriegstüchtigkeit,
Führungsfähigkeit, Wehrpflichtfähigkeit, für den Kriegsfall optimal
aufgestellt, groß angelegter Einsatz gegen eine Großmacht mit hoch
intensivem Gefecht, Aufwuchsfähigkeit, Innovationsüberlegenheit,
Kriegsversorgung' und Putin mit Hitler vergleicht; dieser Minister laut
Umfragen der 'beliebteste' sei; die russische Botschaft in Berlin eine
Note der Bundesregierung erhält, laut der die Teilnahme russischer
Vertreter an Gedenkveranstaltungen zum 79. Jahrestag der Befreiung der
KZ-Häftlinge unerwünscht ist; die Landesanwaltschaft des Freistaats
Bayern am 'Tag der Pressefreiheit' einem Professor der Universität
München mitteilt, ihm würden seine Dienstbezüge um ein Zehntel gekürzt,
weil er mehrfach eine Kolumne in der Zeitung 'Demokratischer Widerstand'
veröffentlicht habe; Deutsche Politiker 'den Ukraine-Krieg nach
Russland tragen' wollen; nicht nur der französische Präsident Macron
fordert, Truppen aus EU-Ländern in die Ukraine zu schicken; der
britische Außenminister Cameron sagt, die Ukraine habe das Recht, Ziele
in Russland mit britischen Waffen anzugreifen; der Generalbundesanwalt
die geplante Zerstörung der russischen Krimbrücke durch deutsche
Taurus-Marschflugkörper vom Artikel 51 der UN-Charta gedeckt sieht; in
der Zeitschrift der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik
gefordert wird, 'russisches Vermögen, soweit es in Europa eingelagert
ist, für Waffenlieferungen an die Ukraine zu verwenden'; 90.000
NATO-Soldaten mit dem Manöver 'Steadfast Defender', davon 12.000
Bundeswehrsoldaten mit dem Manöver 'Quadriga 2024' den Krieg gegen
Russland proben; in der der Dritte Weltkrieg droht, wollen wir an dem
Tag, an dem Russland dem Sieg im Großen Vaterländischen Krieg gedenkt,
also heute, 'dem Wahnsinn etwas entgegensetzen' und für 'Gute
Nachbarschaft mit Russland' eintreten! Wir haben auch allen Grund dazu!"
Mit diesen Worten leitet Dr. Ansgar Klein die Kundgebung der Aachener
Bürgerinitiative "Gute Nachbarschaft mit Russland" am 9. Mai 2024 ein.
ArbeiterfotografInnen haben sie für die NRhZ dokumentiert.
1 Kundgebung "Gute Nachbarschaft mit Russland" im Hof
Fortsetzung der einleitenden Rede von Dr. Ansgar Klein:
Vor zwei Tagen hat der alte und neue Präsident der russischen Föderation
Wladimir Putin u.a. folgendes gesagt: „Wir lehnen den Dialog mit den
westlichen Ländern nicht ab. Sie haben die Wahl: Wollen sie weiterhin
versuchen, die Entwicklung Russlands zu bremsen, die jahrelange Politik
der Aggression und des Drucks auf unser Land fortsetzen, oder einen Weg
der Zusammenarbeit und des Friedens suchen?“
Zu unserem „Weg der Zusammenarbeit und des Friedens“ haben wir
prominente Redner eingeladen, die wir hier und jetzt herzlich begrüßen:
Prof. Ulrike Guérot, eine glühende Europäerin, was sie u.a. mit dem 2014
von ihr gegründeten „European Democracy Lab“ und ihrem 2016 erschienen
Buch „Warum Europa eine Republik werden muss – Eine politische Utopie“
bewiesen hat. Weil sie nicht nur in der Vergangenheit, sondern auch zur
derzeitigen politischen Lage immer klare, kritische Worte geäußert hat,
ist sie bei den „Herrschenden“ in Ungnade gefallen. Chapeau! dass Sie
nach all dem, was Ihnen widerfahren ist, den Mut haben, hier zum Thema
„Gute Nachbarschaft mit Russland“ öffentlich aufzutreten! Herzlich
willkommen, Ulrike Guérot!
Michael Aggelidis! Er ist stellvertretender Landesvorsitzender der
Partei dieBasis in NRW. Er hat nicht nur beim diesjährigen Ostermarsch
in Düsseldorf eine viel beachtete Rede gehalten; er ist auch in Aachen
aufgetreten, und zwar im Sommer 2020 bei einer unserer Kundgebungen
gegen die „Corona-Maßnahmen“ auf dem Willy-Brandt-Platz. Herzlich
willkommen, Michael Aggelidis!
Wolfgang Effenberger! Er war Pionierhauptmann der Bundeswehr, hat dort
sozusagen am eigenen Leib das NATO-Unwesen erfahren und ist zu einem
nimmermüden Publizisten zur jüngeren deutschen Geschichte und zur
US-Geopolitik geworden. Hervorheben möchte ich seine letzten Bücher:
„Schwarzbuch EU & NATO – Warum die Welt keinen Frieden findet“ und
„Die unterschätzte Macht – Von Geo- bis Biopolitik – Plutokraten
transformieren die Welt“. Herzlich willkommen: Wolfgang Effenberger!
Wir hätten gerne auch einen Vertreter der russischen Botschaft als
Redner gewonnen, was uns leider nicht gelungen ist. Doch gibt es dank
der NachDenkSeiten ein bemerkenswertes Interview mit dem russischen
Botschafter Sergej Netschajew, aus dem wir gleich einen Ausschnitt
vortragen werden. – Die NachDenkSeiten sind übrigens auf einer
Internet-Filter-Liste jugendgefährdender Inhalte gelandet.
Rede von Michael Aggelidis:
„Freundinnen und Freunde des Friedens und der Demokratie, ich zitiere
aus der Tagesschau aus der Weizsäcker-Rede zum Kriegsende im Wortlaut
„Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung“ (Stand: 08.05.2015 14:00 Uhr).
Einleitende Worte der Tagesschau: „Richard von Weizsäcker war der erste
Bundespräsident, der den 8. Mai 1945 einen „Tag der Befreiung“ nannte.
Seine Rede vom 8. Mai 1985 vor dem Deutschen Bundestag (…) gilt als ein
Meilenstein in der öffentlichen Aufarbeitung der NS-Zeit in Deutschland.
tagesschau.de dokumentiert sie im Wortlaut.“ Soweit die Tagesschau. Ob
die das heute auch noch so formulieren würde?
Jetzt Weizsäcker: „(…) Die meisten Deutschen hatten geglaubt, für die
gute Sache des eigenen Landes zu kämpfen und zu leiden. Und nun sollte
sich herausstellen: Das alles war nicht nur vergeblich und sinnlos,
sondern es hatte den unmenschlichen Zielen einer verbrecherischen
Führung gedient. Erschöpfung, Ratlosigkeit und neue Sorgen
kennzeichneten die Gefühle der meisten. Würde man noch eigene Angehörige
finden? Hatte ein Neuaufbau in diesen Ruinen überhaupt Sinn? Der Blick
ging zurück in einen dunklen Abgrund der Vergangenheit und nach vorn in
eine ungewisse dunkle Zukunft. Und dennoch wurde von Tag zu Tag klarer,
was es heute für uns alle gemeinsam zu sagen gilt: Der 8. Mai war ein
Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden
System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. (…)“ Soweit der
ehemalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker.
Heute, am Jahrestag des Sieges über die Hitlerbarbarei überbieten sich
die Politiker der regierenden politischen Klasse der Altparteien in
antirussischer Rhetorik und Aussagen, die die Schlussfolgerung erlauben,
dass hier aktive Kriegsvorbereitung betrieben wird. Wir sagen dazu:
Nicht mit uns! Unsere Kinder kriegt Ihr nicht!
Vielmehr ist historische Erinnerung politisch richtig: Die UdSSR hatte
27 Millionen Tote zu beklagen, ob Soldaten der Roten Armee, Partisanen,
die im Hinterland der Font gegen die Mordkommandos der Hitler’schen
Sondereinheiten kämpften oder die Zivilisten, die in Leningrad unter der
Blockade der Wehrmacht verhungerten, um hier nur ein Kriegsverbrechen
der Nazis zu nennen. Die Sowjetunion trug die Hauptlast des Krieges und
der anschließende Sieg der Alliierten wäre ohne diesen Kampf im Großen
Vaterländischen Krieg – wie ihn die Russen nennen – unmöglich gewesen.
Die heute aus zahlreichen Politikeräußerungen der Ampel herauszuhörende –
ich formuliere das jetzt sehr höflich – Russophobie ist jedenfalls ein
politisch metastasierendes Krebsgeschwür in einer freien und
demokratischen Gesellschaft. Wie ist es möglich, so frage ich, dass eine
solche Geschichtsvergessenheit und Verantwortungslosigkeit durch unsere
politische Klasse, assistiert durch die Staats- und Konzernmedien
praktiziert wird?
Denn wenn diese Politiker dazu auffordern, Kommandostäbe und Ministerien
in Russland anzugreifen, müsste es eigentlich Ermittlungsverfahren
wegen Vorbereitung eines Angriffskrieges geben, wenn, ja wenn es nicht
diese unselige Weisungsgebundenheit der Staatsanwaltschaft exakt durch
diese Politik gibt, die für eben diese anzuklagenden Straftaten die
Verantwortung tragen, liebe Freundinnen und Freunde! Klar ist, wir
benötigen in Deutschland vielmehr eine unabhängige Staatsanwaltschaft,
die wie in Italien kriminellen Politikern das Handwerk legen kann, liebe
Freundinnen und Freunde!
Auch die so genannte CDU ‚Opposition‘ kann es kaum noch erwarten, Taurus
in die Ukraine zu liefern und damit Russland zu zwingen, Deutschland
als Kriegsbeteiligte zu betrachten. Damit schaden diese Leute unserem
Land, sie schaden dem Frieden und das wird immer mehr Menschen deutlich –
und das ist gut so!
Unlängst haben sich nicht nur Ungarn und Slowenien gegen eine offizielle
Beteiligung mittels Truppen in der Ukraine ausgesprochen, sondern auch
der italienische Verteidigungsminister. Aber Leute wie der
US-Demokraten-Fraktionschef Jeffries wollen eine direkte Beteiligung von
US-Truppen zur Rettung des korrupten und kriminellen Kiewer Regimes.
Und wisst Ihr, warum der das sagt und er damit viele Gesinnungskumpane
in der EU hat, in zahlreichen europäischen Regierungen? Weil er und
seine Kinder nie an die Front gehen würden und weil er und
Seinesgleichen glauben, sie würden mit heiler Haut davonkommen, weil
andere für ihre Profitinteressen sterben sollen. Und das macht uns
wütend! Und deshalb sagen wir und ich wiederhole mich gerne: unsere
Kinder kriegt Ihr nicht! Wir werden Euch die Waffen aus der Hand
schlagen!
By the way: wer will denn nach den verlorenen Kriegen der USA in
Vietnam, in Afghanistan, in Syrien und jetzt gegen die Houthis – zum
Teil also gegen Barfußkrieger – allen Ernstes von einer echten
militärischen Chance der US – Truppen ausgerechnet gegen die Russische
Armee halluzinieren? Und wir als Deutsche sollen Spalier stehen und den
US -Truppen zujubeln, wenn die Richtung Osten fahren und unseren eigenen
Untergang demütig hinnehmen? Nein! Das werden wir Deutsche nicht! Nicht
noch einmal!
Um es mit Jeffrey Sachs, dem amerikanischen Wirtschaftswissenschaftler,
der die UN berät, zu sagen: fast alle europäischen Politiker lügen.
Ihre Hauptlüge ist der Umstand, dass Russland Deutschlands Feind sei,
Russland für so gut wie alles Übel verantwortlich ist und wir das
Richtige täten, wenn wir Russland bekämpfen. Der Niedergang
Deutschlands, vor Allem der industrielle, aber auch der kulturelle und
politische Niedergang unseres Landes, auch Europas wird mit einer
beispiellosen medialen Hetze und Desinformation begleitet. Die Neocons
der USA treiben einen Keil zwischen uns und Russland und bedrohen damit
Frieden, Wohlstand und Zukunft unseres Landes. Deutschland muss sich
dagegen zur Wehr setzen Liebe Freundinnen und Freunde!
Unsere industrielle Zukunft liegt in der Kooperation mit Russland, China
und den anderen BRICS – Staaten! Wer das negiert, wer das bestreitet,
meint es nicht ehrlich und belügt Deutschland und seine Bürgerinnen und
Bürger.
Die US-Regierung unternimmt nämlich große Anstrengungen, Industrie aus
Deutschland abzuwerben. Noch merken wir scheinbar nichts davon,
lediglich die Nennung von Insolvenzen und gestrichenen Arbeitsplätzen
schaffen es in die Schlagzeilen der Staats- und Konzernmedien. Es ist im
Grunde genommen gleich, von welcher Seite wir dieses Problem
betrachten, der Dreh und Angelpunkt, der Ausgangspunkt des Abstiegs
Deutschlands ist die Vasallentreue gegenüber dem transatlantischen
Hegemon und damit muss jetzt Schluss sein!
Liebe Freundinnen und Freunde, es gibt mit Sicherheit eine Veränderung
in der Geopolitik, die Frage ist nur, ob Deutschland als Mitgewinner auf
dem BRICS – Zug mitfährt oder den industriellen Niedergang hinnimmt.
Ich meine: Im Interesse unseres Landes müssen wir uns mit aller
Entschiedenheit gegen diesen gewollten und beabsichtigten Niedergang
stemmen!
Dieser ist von unseren transatlantischen Eliten gewollt und bewusst
herbeigeführt. Der französische Historiker und Soziologe Emmanuel Todd
sieht bereits den bevorstehenden Untergang des Westens, verursacht u.a.
durch die bevorstehende Niederlage der USA und der NATO in der Ukraine.
Er kommt er zu dem Schluss, dass die Niederlage schließlich in einer
Aussöhnung Russlands mit Europa und einer Annäherung an Deutschland
gipfeln wird, was den Wünschen der Vereinigten Staaten zuwiderläuft.
Klingt das utopisch? Schaut man sich die aktuelle Hysterie an, kann man
das für eine riskante Äußerung halten. Für mich und für viele Menschen
in Deutschland ist das jedoch eine große Hoffnung! Aber dafür müssen wir
kämpfen, geschenkt bekommen wir diese Entwicklung nicht!
Ich erinnere an ein historisches Beispiel: am 16. April 1922 trafen sich
im idyllischen Badeort von Rapallo in Italien die Vertreter
Sowjetrusslands und Deutschlands zu so genannten Pyjama-Konferenz,
während parallel eine Weltwirtschaftskonferenz lief. Als am nächsten
Morgen die schockierten Vertreter der Angelsachsen ins Plenum kamen,
präsentierten der damalige Außenminister Rathenau, Reichkanzler Joseph
Wirth und der russische Außenminister Tschitscherin den
Kooperationsvertrag zwischen beiden Mächten, die nach dem 1 Weltkrieg
dadurch ihre internationale Isolation beendeten und wirtschaftlich
kooperierten. Damals war dieser Vertrag eine Herzensangelegenheit des
gesamten deutschen Bürgertums – und natürlich der KPD. Und warum, so
frage ich, sollte so etwas nicht auch heute möglich sein, sicher unter
anderen Vorzeichen, aber auch mit großen Möglichkeiten? Möglichkeiten
für Arbeitsplätze, für große Gewinne, für Frieden! Für kluge Unternehmer
also jede Menge Chancen – ganz im Gegensatz zur jetzigen Politik, die
Deutschland ruiniert! Wann endlich gibt es im Bürgertum, so frage ich,
einen Aufstand, wann endlich einen Kurswechsel, weg von der
Nibelungentreue des Transatlantismus hin zu einem souveränen
Deutschland, dass mit seinem großen Nachbarn im Osten in Frieden
prosperiert?
Wir müssen eine Regierung anstreben, die einen Aufnahmeantrag zu BRICS
stellt – auch wenn das nach jetzigen Maßstäben illusorisch erscheint.
Aber dahin, liebe Freundinnen und Freunde, muss der Diskurs letztlich
gehen.
Lasst uns diesen Kampf um Frieden und Gerechtigkeit weiterführen!
Beenden wir die unfassbar geschichtsvergessene Kriegspolitik der
deutschen Bundesregierung, die kein Problem damit hat, dass auf
ukrainischen Panzern Hakenkreuze und Bandera-Flaggen prangern und die
ihre Waffenlieferungen an die rechtsextreme Regierung Netanjahu in
diesem Jahr vervielfacht hat. Nur wer innerlich souverän ist und frei
von Bevormundung, der kann freie Entscheidungen treffen: für die
Wiederaufnahme der Gas- und Öllieferungen aus Russland, für die
Wiederbelebung des deutschen Mittelstands und der Entlastung der
Verbraucher und der privaten Haushalte. Wer innerlich souverän ist, kann
politische Entscheidungen treffen: für die Kündigung aller
Truppenverträge, für den Abzug der US-Soldaten aus Deutschland, für den
Austritt aus der militärischen Integration der NATO, denn in der
politischen Abteilung der NATO wollen wir die Transatlantiker noch eine
Weile ärgern – und dann wickeln wir den ganzen verdammten Laden ab!
Rede "Der 9. Mai 2024 – ein denk- und geschichtswürdiger Tag" von Wolfgang Effenberger
Der heutige 9. Mai fällt nicht nur auf Christi Himmelfahrtstag, sondern
steht auch für drei geschichtsträchtige Ereignisse: Die seit 1950
jährliche Karlspreisverleihung in Aachen, der Europa-Tag, der auf die
Robert-Schumann-Erklärung vom 9. Mai 1950 zurückgeht, und die
bedingungslose Kapitulation der deutschen Wehrmacht 1945 im Berliner
Stadtteil Karlshorst, ….an die alljährlich neben vielen Veranstaltungen
an verschiedenen sowjetischen Ehrenmälern in Berlin mit …einer großen
Siegesparade auf dem Roten Platz in Moskau erinnert wird – in diesem
Jahr können sogar erbeutete deutsche Leopardpanzer präsentiert werden.
Bereits am 7. Mai 1945 unterzeichnete im US-Hauptquartier von General
Dwight D. Eisenhower in Rääs Generaloberst Alfred Jodl – Chef des
Wehrmachtführungsstabes, eine Kapitulationsurkunde. Die Waffen sollten
am nächsten Tag ruhen. Die US-Amerikaner waren am 6. Juni 1944 auf dem
europäischen Kriegsschauplatz gelandet, die Sowjetunion war am 22. Juni
1941 von der Wehrmacht überfallen worden.
Die Sowjettruppen hatten allein in der Schlacht um Berlin mehr Gefallene
als die USA in Gesamteuropa. [i] Die Gesamtverluste der Sowjetunion
werden mit über 25 Millionen beziffert. Darin sind an die drei Millionen
russische Gefangene enthalten, die in Deutschland entweder durch
Genickschussanlagen oder durch Vernichtung mittels Arbeit ermordet
worden sind.
Ebenso beschämend ist die Belagerung des damaligen Leningrad durch die
deutsche Heeresgruppe Nord. Die Belagerung dauerte vom 8. September 1941
bis zum 27. Januar 1944. 28 Monate oder 872 Tage unvorstellbaren Leids.
Es war ein Teil des Vernichtungskriegs im Osten und somit „ein
genozidaler Akt, bei dem rund 1,1 Millionen Menschen gestorben sind“
[ii], die Stadtbevölkerung sollte gezielt ausgehungert werden. Das war
ein Kriegsverbrechen, zudem stand die Stadt unter ständigem
Artilleriebeschuss. [iii] Vor diesem Hintergrund ist die Forderung
Stalins auf eine deutsche Kapitulation im Hauptquartier von
Feldmarschall Georgi Schukow in Karlshorst zu verstehen. Und so
unterschrieben dann am 9. Mai 1945 – kurz nach Null Uhr – in Karlshorst
Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel als ranghöchster deutscher Soldat
sowie die Befehlshaber der Teilstreitkräfte vor den vier 4 Siegermächten
die bedingungslose Kapitulation. Damit war der Zweite Weltkrieg in
Europa offiziell beendet. [iv]
In den letzten Jahren kam es immer wieder wegen antirussischer
Ausschreitungen an den verschiedenen sowjetischen Ehrenmälern in Berlin
zu großen Polizeieinsätzen. 2024 wird wieder mit erheblicher
Polizeipräsenz im Treptower Park und am Tiergarten gerechnet. [v] Laut
Wikipedia wird der 9. Mai als Europa-Tag in Erinnerung an die
Schuman-Erklärung von 1950 als Ursprung der Europäischen Union gefeiert.
Der Stabschef des französischen Außenministers hatte jedoch später
erklärt: »Alles begann in Washington« [vi].
Am 9. Mai 1950 traf der US-Außenminister Dean Acheson in Paris mit
seinem französischen Kollegen Robert Schuman und dem französischen
Vizeministerpräsidenten Georges Bidault zusammen. Anschließend
verkündete Schuman: „Die französische Regierung schlägt vor, die
Gesamtheit der französisch-deutschen Kohle- und Stahlproduktion einer
gemeinsamen Hohen Behörde zu unterstellen, … so daß jeder Krieg zwischen
Frankreich und Deutschland nicht nur undenkbar, sondern materiell
unmöglich ist.“ [vii]
Diese Erklärung, deren Urheber US-Außenminister Acheson war, steht im
Zusammenhang mit Kriegsvorbereitungen – wie immer, wenn Energie und
Stahl für kommende Kriege gebündelt werden. Sieben Wochen vor der
Schuman-Erklärung, am 16. März 1950, hatte sich Winston Churchill für
einen deutschen Verteidigungsbeitrag ausgesprochen. Und nur wenige
Monate nach der Schuman-Erklärung wurde die »Dienststelle des
Bevollmächtigten des Bundeskanzlers für die mit der Vermehrung der
alliierten Truppen zusammenhängenden Fragen« eingerichtet – dahinter
verbarg sich nichts anderes als die Vorbereitung zur Wiederbewaffnung
der BRD.
Ein Jahr zuvor, am 4. April 1949, war die NATO gegründet worden. Laut
Lord Ismay, dem 1. Generalsekretär, mit der Absicht, „Amerika drin, die
Russen draußen und die Deutschen unten zu halten.“ [viii] Im
Bündnisvertrag wird die Einsicht verlangt, dass Wirtschaftlicher
Wiederaufbau und Stabilität wichtige Elemente der Sicherheit sind. Daher
auch der Marshallplan. Nur wenige Monate später, am 19. Dezember 1949,
verabschiedeten die USA den Kriegsplan »Dropshot«, mit dem 1957 die
Sowjetunion angegriffen werden sollte.
In der »Grundannahme« heißt es wörtlich: »Am oder um den 1. Januar 1957
ist den Vereinigten Staaten durch einen Aggressionsakt der UdSSR
und/oder ihrer Satelliten ein Krieg aufgezwungen worden.« Daraufhin
sollten 300 Atombomben und zigtausende hochexplosiver Bomben abgeworfen
werden, um 85 Prozent der industriellen Kapazität der Sowjetunion mit
einem einzigen Schlag zu vernichten. Der Zeitpunkt war zweifellos auf
den ursprünglich geplanten Abschlusstermin der Remilitarisierung
Westdeutschlands abgestimmt.
Als dann jedoch 1957 der Satellit Sputnik seine Kreise um die Erde zog,
mussten die Kriegsplanungen überarbeitet werden, und der Zeitpunkt für
DROPSHOT wurde vertagt. In Moskau aber ist der Plan unvergessen.
Für mich war es 1999 unvorstellbar, dass sich die Bundesrepublik
Deutschland erstmals an einem Krieg, und dann auch noch an einem
völkerrechtswidrigen Angriff beteiligt! Nachdem die USA für den Krieg
gegen Rest-Jugoslawien kein UN-Mandat bekamen, änderten sie kurzerhand
ihre Strategie und mandatieren seither ihre Kriege selbst.
Die Vereinten Nationen sind obsolet geworden – stattdessen beruft man
sich auf eine diffuse, exklusive „regelbasierte Ordnung“ und damit auf
ein imperiales Faustrecht. Nun soll Deutschland angesichts der sich
militärisch ausweitenden Konflikte kriegstüchtig werden. Die
Entwicklung, für die der so genannte Wertewesten hauptverantwortlich
ist, zielt auf Krieg gegen Russland und China.
Diese absehbare Gefahr brachten wenige Monate nach dem Maidan-Putsch
Anfang 2014 Willy Wimmer und ich im Vorwort zu „Wiederkehr der
Hasardeure – Schattenstrategen, Kriegstreiber, stille Profiteure 1914
und heute“ zum Ausdruck: „die gleichen Kreise, die vor hundert Jahren
nationale Konflikte für ihre Interessen instrumentalisierten, sind heute
wieder am Werk. Wieder wird bedenkenlos gepokert und dabei billigend
die Gefahr eines Weltkriegs und damit neues unermessliches Leid in Kauf
genommen“. [ix]
Im September 2014 setzte das Pentagon die Langzeitstrategie TRACOC
525-3-1 „Win in a Complex World 2020 -2040“ in Kraft. Darin wurden Heer,
Marine und Luftwaffe auf die künftigen Konflikte eingestimmt: An erster
Stelle wird die Bedrohung durch Russland und China genannt, dann die
durch Iran und Nordkorea und erst zum Schluss die Bedrohung durch
transnationale Terroristen.
Im US-Strategiepapier vom Oktober 2022 nannte US-Präsident Biden als Hauptziele:
Abbau der wachsenden multidisziplinären Bedrohung durch China
Abschreckung der von Russland ausgehenden Herausforderung in Europa
Ausschluss jedes Verzichts auf einen nuklearen Erstschlag.
Zur Umsetzung dieser Prioritäten gehört u.a. der Aufbau eines
dauerhaften Vorteils. Wie will ein Land mit diesem Anspruch in Frieden
mit anderen Nationen leben? In den Handreichungen des wissenschaftlichen
Dienstes des US-Kongresses vom 15. November 2022 ist zu lesen, dass
viele militärische Operationen der USA und 2 Weltkrieg und danach das
Ziel hatten, regionale Hegemonie in Eurasien zu verhindern.
Stand das serbisch dominierte Rest-Jugoslawien der NATO-Osterweiterung
im Weg? Oder hatte es sich zu sehr an China gebunden, wie der Angriff
auf die chinesische Botschaft in Belgrad vermuten lässt?
Die Kriege und Bürgerkriege der Gegenwart (Irak, Libyen, Syrien,
Ukraine usw.) zeigen, dass die Blutspur der Strategen des Ersten
Weltkriegs bis in die heutige Zeit reicht und so lange kein Ende finden
wird, bis die Triebkräfte, die in den Ersten Weltkrieg geführt haben,
aufgedeckt sind und die Konflikte in eine nachhaltige Friedenslösung
münden.
Vor Beginn der Münchner Sicherheits-Konferenz 2024 unterschrieben der
deutsche Kanzler und der ukrainische Präsident ein auf zunächst 10 Jahre
befristetes Sicherheitsabkommen samt Ankündigung eines
milliardenschweren Militärhilfepakets.
Eingangs verurteilen darin beide Länder – ich zitiere: „auf das
Schärfste den ungerechtfertigten, unprovozierten, illegalen und brutalen
Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, durch den Russland in
gravierender Weise gegen das Völkerrecht einschließlich der UN-Charta
verstößt.
Deutschland ist unerschütterlich in seiner Unterstützung für die
Unabhängigkeit, Souveränität und territoriale Unversehrtheit der Ukraine
innerhalb der Grenzen, die seit 1991 international anerkannt sind“
gebunden. [x]
Dieses „Sicherheitsabkommen“ wurde unmittelbar nach der Unterzeichnung
wirksam. Damit ist Deutschland auf Gedeih und Verderb an das Schicksal
der Ukraine gekettet. Der Eingangssatz lässt jedes diplomatische
Geschick vermissen und wird nicht nur die Hardliner im Kreml gegenüber
Deutschland unversöhnlich stimmen. Deutschland hat jetzt aus Russland
keine Zurückhaltung mehr zu erwarten.
Wie konnte der deutsche Kanzler Olaf Scholz einen für die BRD so
existenzbedrohenden Pakt unterschreiben? Sollte die Ukraine auf dem
Schlachtfeld in die Knie gezwungen werden, könnte sich der Krieg zu
einem umfassenderen regionalen Konflikt ausweiten, in den auch andere
europäische Verbündete der Vereinigten Staaten verwickelt werden. [xi]
Dieses Szenario wurde schon am 28. Februar 2023 bei der
US-Senatsanhörung zum Ukraine-Krieg angedacht:
Senator Rick Scott befragte den 3-Sterne-General Keith Kellogg: „Aber
warum hat Deutschland nicht seinen Teil zur tödlichen Hilfe
beigetragen?“ „Ich glaube“, so der General“, Deutschland spielt in
Europa im Moment keine Rolle mehr“. Anschließend schwärmte der General
dem Senator vor: „Wenn man einen strategischen Gegner besiegen kann und
dabei keine US-Truppen einsetzt, ist man auf dem Gipfel der
Professionalität, denn wenn man die Ukrainer siegen lässt, ist ein
strategischer Gegner vom Tisch, und wir können uns auf das
konzentrieren, was wir gegen unseren Hauptgegner tun sollten, und das
ist im Moment China…. wenn wir dabei scheitern, … müssen wir vielleicht
einen weiteren europäischen Krieg führen, das wäre dann das dritte Mal.“
[xii]
Nun, die USA scheitern gerade in der Ukraine! Kommt nun der dritte große
europäische Krieg? Die USA scheinen in einer Situation zu sein, in der
als Ausweg nur noch der umfassende Krieg gesehen werden kann. Wieso
verschließt sich der deutsche Kanzler den zeitgeschichtlichen
Zusammenhängen? Dass sich seit 2015 in jedem Jahr die
NATO-Militärmanöver weiter bis ins Gigantische gesteigert haben, kann
ihm nicht entgangen sein! Dazu die unsägliche Kriegsrhetorik der
NATO-Generalsekretäre Rasmussen und Stoltenberg. Bertolt Brecht
verfasste 1951 einen „Offenen Brief an die deutschen Künstler und
Schriftsteller“. Angesichts der Remilitarisierung der jungen
Bundesrepublik warnte er vor einem Dritten Weltkrieg: „Das große
Karthago führte drei Kriege. Es war noch mächtig nach dem ersten, noch
bewohnbar nach dem zweiten. Es war nicht mehr auffindbar nach dem
dritten.“ [xiii]
»Der ›Internationale Karlspreis zu Aachen‹, der 1950 erstmals vergeben
wurde, ist der älteste und bekannteste Preis, mit dem Persönlichkeiten
oder Institutionen ausgezeichnet werden, die sich um Europa und die
europäische Einigung verdient gemacht haben«, heißt es bedeutungsschwer
auf der Homepage der Stiftung, die den Preis alljährlich vergibt. Weiter
ist dort zu lesen: »Zum Namensgeber für den Preis wurde Karl der Große,
der als erster Einiger Europas gilt und der Ende des achten
Jahrhunderts Aachen zu seiner Lieblingspfalz wählte; damit wurde eine
Brücke zwischen europäischer Vergangenheit und Zukunft geschlagen.«
[xiv]
Karl der Große als Vorbild für ein geeintes und friedliches Europa? Karl
wurde am Weihnachtsfest des Jahres 800 nach alttestamentlicher Sitte
von Papst Leo III. gesalbt und gekrönt. Seine Anrede lautete:
„Allergnädigster, erhabener, von Gott gekrönter, großer,
friedebringender Kaiser, der das Römische Reich regiert und durch Gottes
Barmherzigkeit auch König der Franken und Langobarden ist.“
Es war also kein deutsches oder fränkisches Reich entstanden, sondern
das westliche Imperium Romanum. Folglich kann Karl der Große nicht als
Mentor eines geeinten Europas dienen. Auch findet sich weder bei seinem
Biografen Einhard noch in den Reichsannalen des karolingischen Hofes ein
Wort zu Europa. Von Europa sprachen anscheinend eher gebildete Fremde,
Iren und Angelsachsen. Kaiser Karl war bei Dänen, Polen, Ungarn,
Griechen oder Russen nicht sonderlich beliebt.
Und die Sachsen setzten sich über 32 Jahre lang gegen die unerbittlichen
Unterwerfungs- und Christianisierungsfeldzüge Karls zur Wehr, in denen
sie die Absicht einer Frankisierung wie auch der Zerschlagung ihrer
demokratischen Stammesstrukturen erkannten. Erst zur Zeit Napoleons
nahmen die Vorstellungen von Europa Kontur an. Nachdem Napoleon die
Lombardei erobert hatte, glaubte sich in der Tradition Karls: »Ich bin
Karl der Große.« [xv]
Angesichts der Macht Napoleons skizzierte der deutsche Romantiker
Friedrich Schlegel 1810 das Bild von Karl als »Gesetzgeber für das ganze
abendländische Europa. [xvi] Selbst im Dritten Reich erfuhr Karl
Anerkennung. In seinen Tischgesprächen im Führerhauptquartier bat Hitler
seinen Chefideologen Alfred Rosenberg, »einen Heroen wie Karl den
Großen nicht als Karl den Sachsenschlächter zu bezeichnen. Geschichte
müsse immer aus ihrer Zeit heraus verstanden werden«. [xvii] Für ihn war
Karl der erste Einiger aller germanischen Stämme und der erste Schöpfer
eines »vereinigten Europas«. Karl gelangte nun zu der fragwürdigen
Ehre, Namensgeber für die 1. Französische SS-Waffen-Grenadierdivision
»Charlemagne« zu werden. [xviii]
Das braune Regime missbrauchte den großen Franken als integrierende
Symbolgestalt für die eigene europäische Machtchimäre. »Karl der
Europäer« überstand den Zusammenbruch von 1945 jedoch unbeschadet. Die
beeindruckende Aachener Karlsausstellung des Europarats von 1965 galt
»dem ersten Kaiser, der Europa zu vereinen wusste« [xix] – mithin einem
Leuchtturm. Aber der leuchtet nicht. Der Mythos vom großen Europäer
stammt vor allem von nationalsozialistischen Geschichtsschreibern, die
den mittelalterlichen Kaiser zum Urahn eines von Hitler geeinten
Kontinents machten. Jährlich zu Christi Himmelfahrt wird der
Internationale Karlspreis zu Aachen an Persönlichkeiten des öffentlichen
Lebens verliehen. Der erste Preisträger war Richard Nikolaus Graf
Coudenhove-Kalergi, am 18. Mai 1950, »in Anerkennung seiner Lebensarbeit
für die Gestaltwerdung der Vereinigten Staaten von Europa«. [xx]
1925 war sein umstrittenes Werk „Praktischer Idealismus“ erschienen,
eine krude Mischung aus puritanischer Arbeitsethik und marxistischer
Heilserwartung.
Propagiert wird ein heroischer Aktionismus mit dem Ziel der völligen
Vereinheitlichung der Weltbevölkerung und der totalen technischen
Beherrschung der Erde im Sinne einer „Aristokratie der Gesinnung“, die
zu einer sozialen Entwicklung ohne Kriege führen soll. Der naive Glaube
an den „heroischen Willen“ im Kampf für das Heil der Menschheit
bescherte Europa im 20. Jahrhundert die aggressiven Machtstrukturen
kollektiver Zwangssysteme – Nationalsozialismus und Stalinismus.
Coudenhoves Vision kann einen das Gruseln lehren: „Der Mensch der fernen
Zukunft wird Mischling sein. … Die eurasisch-negroide Zukunftsrasse,
äußerlich der altägyptischen ähnlich, wird die Vielfalt der Völker durch
eine Vielfalt der Persönlichkeiten ersetzen“ [xxi]
Die Edlen, entstanden aus der Zuchtwahl nach den »göttlichen Gesetzen
erotischer Eugenik«, sollen die Massen führen. Die abendländische Kultur
mit ihrer Vielfalt individueller Entwicklungsmöglichkeiten soll
orientalisiert, das Volk umerzogen werden: »Ein pazifiziertes und
sozialisiertes Abendland wird keine Gebieter und Herrscher mehr brauchen
– nur Führer, Erzieher, Vorbilder. In einem orientalischen Europa wird
der Zukunftsaristokrat mehr einem Brahmanen und Mandarin gleichen als
einem Ritter.«
Coudenhove geißelte den moralischen Verfall sowohl im Kapitalismus als
auch im Kommunismus, hoffte aber in naiv-platonischer Manier auf eine
»Aristokratie des Geistes«. [xxii] Seine Analyse der Demokratie als
Fassade der Geldherrschaft klingt allerdings geradezu aktuell: „… weil
die Völker nackte Plutokratie nicht dulden würden, wird ihnen die
nominelle Macht überlassen, während die faktische Macht in den Händen
der Plutokraten ruht. In republikanischen wie in monarchischen
Demokratien sind die Staatsmänner Marionetten, die Kapitalisten
Drahtzieher: sie diktieren die Richtlinien der Politik, sie beherrschen
durch Ankauf der öffentlichen Meinung die Wähler, durch geschäftliche
und gesellschaftliche Beziehungen die Minister.« [xxiii]
Coudenhove-Kalergis »praktischen Idealismus« könnte man als eine der
vielen romantischen Gesellschaftsutopien abtun, hätte er nicht eine so
fatale politische Wirkkraft entfaltet. 2008 erhielt die deutsche
Kanzlerin Angela Merkel den begehrten Preis. In ihrer Dankesrede betonte
sie, dass die höchsten irdischen Güter, »Freiheit, Menschlichkeit und
Frieden« immer wieder aufs Neue zu hegen und zu pflegen seien. Nur 6
Jahre zuvor hatte sie als CDU-Chefin eindringlich für eine deutsche
Beteiligung am Irak-Krieg geworben. Anfang Dezember 2022 gab die
Karlspreisträgerin Merkel ohne jede Scham zu, dass das Abkommen von
Minsk nur dazu diente, Zeit zu gewinnen, um die Ukraine aufzurüsten:
„Das Minsker Abkommen 2014 war der Versuch, der Ukraine Zeit zu geben …
Sie hat diese Zeit auch genutzt, um stärker zu werden, wie man heute
sieht.“ [xxiv]
Und der Karlspreisträger Emmanuel Macron ist gewillt, Truppen in die
Ukraine zu schicken. Auch er hatte nichts unternommen, um das
Minsk-Abkommen umzusetzen und damit Frieden in die Ukraine zu bringen.
So wenig Karl der Große ein friedenbringender Kaiser war, sind es heute
die demokratisch gewählten Repräsentanten.
Dabei haben im Vergleich zu Merkel & Macron die beiden größten
Europäer Charles de Gaulle & Willy Brandt keinen Karlspreis
bekommen. Sie erinnern sich: De Gaulle wies die NATO aus Frankreich und
von Willy Brandt stammt der Ausspruch: „Ohne Frieden ist alles andere
NICHTS“. Nun taumelt die europäische Union in eine Katastrophe, die sich
seit mindestens 10 Jahren ankündigt. Und Deutschland ist bei einem 3.
Weltkrieg Aufmarschgebiet und zentrale Drehscheibe. Gute Nachbarschaft
mit Russland ist daher für uns überlebenswichtig.
[i] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1184660/umfrage/amerikanische-verluste-waehrend-des-zweiten-weltkrieges/
[ii] https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/340408/leningrad-niemand-ist-vergessen/
[iii] Ebda.
[iv] https://www.berlin.de/politische-bildung/politikportal/blog/...
[v]
https://www.msn.com/de-de/nachrichten/politik/russland-von-kz-gedenkfeier-ausgeladen-was-heißt-das-für-den-9-mai-in-berlin/ar-AA1njdO6?ocid=BingNewsSerp
[vi] Wolfgang Effenberger: Schwarzbuch EU & NATO Warum die Welt keinen Frieden findet. Höhr-Grenzhausen 2020, S. 131
[vii] Ebda.
[viii] Ebda., S. 122f.
[ix] Wolfgang Effenberger/Willy Wimmer: Wiederkehr der Hasardeure. Höhr-Grenzhausen 2014, S. 18
[x]www.bundesregierung.de/resource/blob/975226/2260264/8efa1868839ede7609437b341d75c3c5/2024-02-16-ukraine-sicherheitsvereinbarung-deu-data.pdf?download=1
[xi] Ebda.
[xii]
https://www.congress.gov/118/crec/2023/02/28/169/38/CREC-2023-02-28-dailydigest.pdf;
https://www.youtube.com/watch?v=tmmPHvlbdwI
[xiii] www.deutschlandfunk.de/vor-70-jahren-als-bertolt-brecht-den-offenen-brief-an-die-100.html
[xiv] 1 www.karlspreis.de
[xv] Vgl. Döbber/Roith: Karl, der große Europäer? Ein dunkler
Leuchtturm. In: Leben und Lernen in der EU, www.
schulseiten.de/jvfg/page.php?page=geschichte_geschichte_3
[xvi] Zit. wie www.nrhz.de/flyer/beitrag. php?id=22793
[xvii] Picker, Henry: Hitlers Tischgespräche. Frankfurt a. M. 1993, S. 166
[xviii] Zit. wie Döbber/ Roith: Karl, der große Europäer? A. a. O.
[xix] Zit. wie www.spiegel.de/spiegel/ print/d-21197891.html
[xx] Zit. wie www.karlspreis.de/de/preis traeger/richard-nikolaus-graf-coudenho- ve-kalergi-1950/vita
[xxi] Coudenhove-Kalergi, R. N.: Praktischer Idealismus. Adel – Technik – Pazifismus. Wien/ Leipzig 192, S. 23
[xxii] Coudenhove-Kalergi 1925, S. 33
[xxiii] Ebda., S. 39
[xxiv] https://www.wsws.org/de/articles/2022/12/20/merk-d20.html
Redemanuskript von Prof. Ulrike Guérot (frei gespochen):
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Bekannte und Freunde, liebe
Zuschauer & Zuhörer, auch ich freue mich sehr, heute an diesem
besonderen Tag, diesem doppelten Gedenktag, zum einen an die deutsche
Kapitulation am 9. Mai 1945 und zum zweiten an die Europäische Erklärung
von Robert Schuman vom 9. Mai 1950, zu Ihnen sprechen zu können; zwei
Gedenktage, die erstmalig und einmalig mit der feierlichen Verleihung
des Karlspreises heute am 9. Mai 2024 zusammenfallen, der wiederum seit
1950 vergeben wird.
Das ist viel Geschichte, es sind viele historisch aufgeladene Daten –
Wolfgang Effenberger hat sie Ihnen gerade aufgefächert – die in einer
rund 20-minütigen Rede kursorisch zu kommentieren fast unmöglich ist.
Zumal wir – nach 70 Jahren Frieden in Europa, Frieden, den wir Europa
verdanken, denn Europa, das hieß viele Jahrzehnte #niewiederKrieg –
jetzt wieder in einer Zeit leben, von der man schon jetzt sagen kann,
dass sie historisch aufgeladen ist, eine Zeit, in der jeder den
politischen Umbruch, die Zäsur fühlen kann, und schließlich eine Zeit,
in der man den Krieg am Horizont buchstäblich riechen kann, wie ein
Gewitter: Deutschland müsse jetzt „kriegstüchtig“ werden, so heißt es,
Macron wiederum sagte gegenüber dem Economist, dass er an einem
möglichen Einsatz von Bodentruppen in der Ukraine festhalte. Während die
EU sich nicht aufraffen kann, andere Kriege angemessen zu verurteilen
und in ihren Erklärungen mit Blick auf Gaza nicht einmal den Begriff
„Cease Fire“ auf Papier bekommt.
Ich möchte vorschieben, dass meine Einladung zum einen sehr spontan
erfolgte, erst letzten Sonntag, so dass ich Ihnen keine historisch
ausgefeilte Rede wie Wolfgang bieten kann, dafür war die Zeit zu knapp.
Und dass es zum Anderen für mich etwas ungewöhnlich ist, hier draußen,
sozusagen vor dem Aachener Rathaus zu sprechen, denn mehrere Male war
ich Gast bei der Verleihung des Karlspreises, zum Beispiel 2017, als der
Preisträger der britische Historiker – und Freund von mir – Timothy
Gaton Ash aus Oxford war; oder 2018, als der Karlspreis an den damals
frisch gewählten französischen Präsidenten Emmanuel Macron vergeben
wurde, der kurz nach Amtsantritt 2017 mehrere wichtige europäischen
Reden an der Sorbonne oder in Athen gehalten hat. Darauf werde ich
zurückkommen.
Deswegen möchte ich mich eher auf ein paar persönliche Erinnerungen
beschränken, Erinnerungen an das Europa in den 1980er und 1990er Jahren,
an meine Zeit bei Jacques Delors, den großen Kommissionspräsidenten von
1985 bis 1995, an die damalige Aufbruchstimmung in eine Politische
Union, an die Idee eines gemeinsamen europäischen Hauses von Michael
Gorbatchov, an die Idee einer europäischen Sicherheitsarchitektur mit
Russland. Kurz: ich möchte erinnern an die Ambitionen, die Absichten,
und die Träume, die man damals von einem einigen, friedlichen und
prosperierenden Europa hatte. Ich möchte kurz skizzieren, welche
Debatten darüber geführt wurden, in knappen Sätzen nachzeichnen, wo die
EU m.E. falsch abgebogen ist, wann die EU die Sympathien und das
Wohlwollen der europäischen Bürger verloren, ihre Ziele verfehlt, ihr
demokratisches Antlitz verspielt hat, und heute offenbar dabei ist, ihr
Erbe und ihren Auftrag – nämlich ein Friedensprojekt zu sein – in den
Mülleimer der Geschichte zu schreddern und zwar vor unseren Augen, in
unserer Zeit!
In dem die EU jenen europäischen Wesenskern schreddert – Frieden – den
der französische Autor Laurent Gaudet in seinem großartigen Epos
„L’Europe – un banquet des Peuples“, so beschreibt: „Ce que nous
partageons, c’est que nous étions tous burreau et victime.“ Was wir in
Europa teilen, ist, dass wir alle zugleich Opfer und Schlächter waren.“
Die europäische Einigung sollte dazu führen, dass wir daraus Lehren
ziehen, durch eine gemeinsame, friedenssichernde föderale Ordnung. Jetzt
werden die Staaten der EU seit geraumer Zeit immer mehr in ein
Kriegsgeschehen hineingezogen, oder bereiten sich gar aktiv drauf vor:
man könne ja nicht anders. Der imperialistische Putin allein sei schuld,
eine Mitverantwortung des Westens wird kategorisch ausgeschlossen,
obgleich viele Argumente auf dem Tisch liegen, dass es eine solche gibt.
Wir werden die Schulfrage den Historikern überlassen und hier nicht
diskutieren, denn längst ist die Frage nicht mehr, wer zuerst angefangen
hat. Sondern wer jetzt zuerst aufhört!
Auch wenn ich derzeit nicht mehr in Bonn bin, wer weiß – was das LAG
Köln entscheidet – möchte ich Bertha von Suthner zitieren, deren Namen
einer der großen Plätze in Bonn schmückt und die 1916 den
Friedensnobelpreis bekommen hat für „Die Waffen nieder“. Das ist das,
was jede Mutter sagt, wenn zwei Kinder sich streiten: „Es ist mir egal,
wer angefangen hat. Ihr hört jetzt beide sofort auf.“ Denn am Anfang
ging es noch um gelb-blaue Fahnen, Solidarität und Helme. Dann um
Panzer, dann um Luftabwehrraketen. Inzwischen liegt die atomare
Bedrohung in der Latenz, mit der Putin droht, nachdem im September 2022
die damalige britische Außenministerin schon bereit war, to push the
nuclear button.
Um das zu betonen: unbestritten geht es um einen „russischen
Angriffskrieg“. Ob er „völkerrechtswidrig“ ist, dazu gibt es bereits
erste Diskussionen unter Juristen. Aber an der Eskalationsspirale drehen
zwei, und nicht nur einer! Wie General Kujat, Ex-Generalinspekteur der
Bundeswehr sagt: seit den am Unwillen des Westens (!) gescheiterten
Friedenverhandlungen vom April 2022 ist der Westen mitverantwortlich für
den Krieg. Und ich habe in den letzten Monaten keine EU gesehen, die –
würdig des Friedensnobelpreises, der ihr 2012 verliehen wurde – alles,
aber auch alles getan hätte, Frieden und Diplomatie zu forcieren.
Im Gegenteil. Die einseitige und hohe finanzielle und militärische
Unterstützung der Ukraine von inzwischen insg. rund 107 Mrd Dollar, die
auf dem Dezember Gipfel 2023 der EU beschlossen wurde, das unhaltbare
(jeder weiß es!) Versprechen einer EU-Mitgliedschaft der Ukraine und in
der Tat jene verhängnisvolle Verkettung des deutschen Schicksals mit dem
ukrainischen durch die vertragliche Bindung vom 16. Februar 2024, die
Wolfang schon zitiert hat („Deutschland ist unerschütterlich in seiner
Unterstützung für die Unabhängigkeit, Souveränität und territoriale
Unversehrtheit der Ukraine innerhalb der Grenzen, die seit 1991
international anerkannt sind“[1]) und die zehn Jahre Gültigkeit hat,
also bis 2034 (!!!), sind wohl Ausdruck dafür, dass die EU, dass die
europäischen Staaten, mit einer mir unverständlichen Lust auf
Selbstschädigung offenbar lieber auf Jahre den Krieg und den
militärischen Konflikt riskieren, auf den sie sich sichtlich
vorbereiten, anstatt den Frieden zu gestalten. Weil man nicht
eingestehen kann, dass man sich verkalkuliert hat, weil man zu lange
erzählt hat, dass Putin den Krieg nicht gewinnen darf, ohne zu
spezifizieren, was das denn eigentlich heißen soll? Und das, obwohl
deutsche oder auch amerikanische Generäle und Experten wiederholt zum
Ausdruck bringen, dass dieser Krieg militärisch nicht zu gewinnen ist;
obgleich sich die Berichte über den Zusammenbruch der ukrainischen Front
häufen und die ukrainischen Männer zuhauf desertieren.
War das nicht genau diese europäische Kriegserfahrung, die der Franzose
Boris Vian in seinem wunderbaren Lied „Le Deserteur“ , einem Kleinod
europäischer Chanson-Kunst, zum Ausdruck gebracht hatte: Wenn Sie
Soldaten möchten, Herr Präsident, dann schicken Sie ihre eigenen Söhne…
heißt es in dem Lied. Als es zum erstem Mal 1954 im französischen Radio
gespielt wurde, wurde es sofort zensiert und dann bis Ende des
Algerienkrieges 1962 verboten. Kriegszeiten sind Zensurzeiten – auf
beiden Seiten der Front!!! Über den Frieden zu sprechen ist, ihn zu
fordern ist auch heute schon wieder hart an der Grenze der Strafbarkeit
in Deutschland und Europa.
Wie kann es sein, dass wir 2024 wieder da sind, wo wir 1954, vor siebzig
Jahren schon einmal waren, und sich z.B. die polnische Regierung damit
rühmt, ukrainische Männer in Polen aufzuspüren und zurück an die Front
zu schicken, u.a. zur Verteidigung einer ukrainischen nationalen
Souveränität und territorialen Unversehrtheit, die indes ein
Kunstprodukt der jüngeren Geschichte ist, wie alle Grenzen in Europa
entweder ein Kunstprodukt oder das Ergebnis blutiger Kämpfe aus dem
letzten Jahrhundert sind: ob das Elsass Französisch oder Schlesien
Deutsch oder Tirol Italienisch ist: darüber wurden die Schlachten im 20.
Jahrhundert geführt, bevor durch eine föderale Ordnung in Europa die
nationalen Grenzen durchlässig wurden und es nicht mehr so wichtig war,
zu welchem Land eine bestimmte Region gehört.
Genau das war nach dem Mauerfall mit der Charta von Paris von 1990 auch
die Idee für Osteuropa: eine föderale Ordnung mit Russland, eine
europäische Sicherheitsarchitektur, in der die nationale Zuordnung
einzelner Regionen nicht mehr so wichtig ist, weil die Grenzen des
europäischen Kontinentes durchlässig sind und die europäischen Völker in
Frieden unter dem Dach einer kooperativen, föderalen, europäischen
Ordnung leben, anstatt nationale Grenzen und Territorien durch Krieg zu
verteidigen und den Schutz voreinander zum einzigen Ziel zu erheben, wo
dich der Friede unteilbar ist.
Die Frage nämlich, ob z.B. die Krim russisch oder ukrainisch ist, ist,
ist genauso schwer zu beantworten wie die Frage ob das Elsass Deutsch
oder Französisch ist. Alle europäischen Staaten sind im Kern
multiethnisch, multireligiös und multinational, alle haben
unterschiedliche Regionen. Wenn sie Elsässer fragen, ist das Elsass,
jenseits seiner staatlichen Zugehörigkeit, einfach elsässisch. Und
während im Donbass das Russische gerade aus den Schulbüchern entfernt
wird, wird das elsässische in den dortigen Schulen neben dem
französischen gerade wieder eingeführt. Wozu wurde siebzig Jahre
erzählt, dass Europa die Überwindung der Nationalstaaten sei? Es steht
noch in jedem Schulbuch über die EU….. wollen wir diese Schulbücher
jetzt umschreiben?
Ausgerechnet Wolodymir Selenski hat letztes Jahr den Karlspreis bekommen
hat, eine Entscheidung, die mich, ehrlich gesagt, verdutzt hat, weil
ich keine „herausragenden Bemühungen im Bereich der europäischen
Einigung“ in seinem Lebenswerk erkennen konnte, die doch das Aachener
Preiskomitee verlangt, außer dass sein Land das Motiv dafür
bereitstellt, die EU ausgerechnet in einem Krieg zu einen. Manchmal
glaube ich, ganz Europa ist derzeit in einem Spielfilm, dessen Titel in
Memoriam von James Dean heißt: Denn sie wissen nicht, was sie tun…. Für
mich ist es derzeit neben den sinnlosen Toten an der Front das
Schlimmste, dass Europa nicht in den Spiegel schauen kann; und nicht in
die Texte, die seine Gründungsdokumente sind, so sehr müsste es sich
schämen.
Eine in den Osten ausgedehnte, regionale, föderale Ordnung wäre die
europäische Antwort auf das Kriegsgeschehen. Neben dem Verrat am Frieden
ist es die vermeintliche Verteidigung einer ahistorischen ‚nationalen
Einheit‘ der Ukraine, die diesen Krieg so unerträglich uneuropäisch
macht: während die EU behauptet, ihre Werte zu verteidigen, in dem sie
diesen Krieg im Namen der nationalen Einheit der Ukraine führt,
versuchen Schottland, Katalonien oder Korsika gerade, nationale
Einheiten zu durchbrechen. Wollen wir mit der EU zurück ins 20.
Jahrhundert?
„Europa: Die Zukunft der Geschichte?“, so hieß eine große Ausstellung
über Europa in Zürich schon 2015. Wir müssen also kurz zurück in die
Geschichte, um die heutigen Fehlstellungen der EU zu erkennen, bevor ich
zum Abschluss ein paar Ideen vorstellen möchte, damit Europa in eine
andere europäische Zukunft findet, als eine Rückkehr in seine blutige
Geschichte.
Inzwischen – „Verschwörungstheorien“ sind ja derzeit in Mode – sind
viele, im Übrigen gute historische Bücher im Umlauf, die das Projekt der
europäischen Einigung seit 1950, jener Erklärung von Robert Schuman, an
die wir heute am 9. Mai erinnern, nicht mehr als Friedensprojekt
beschreiben, das nach den Schrecken des 30-jährigen europäischen Krieges
(Philipp Blom) von 1914 bis 1945, inklusive Holocaust beschämt auf der
Taufe gehoben wurde, sondern die es von Anfang an als amerikanisches
Projekt beschreiben, gestartet und gestaltet u.a. mit dem Marshall Plan.
Kurz: die USA hätten die europäische Idee stets in ihrem Sinn
gesteuert. Das ist mir zu flach, wiewohl es sicher eine Seite der
Medaille ist. Vielmehr erscheint die Geschichte der EU als ein
umschlungener Pfad, oszillierend zwischen europäischen Ambitionen und
auswärtiger Einflussnahme, USA oder CIA hin oder her.
Denn es gab – und gibt vielleicht noch? – eine andere Idee von Europa,
eines Europas, geboren aus dem Geist des Widerstandes, wie es in dem
gleichnamigen Buch von Frank Nieß[2] heißt, nämlich genau jene Idee
eines friedlichen, föderalen, regionalen, sozialen und vor allem
bürgerbasierten Europas jenseits nationalstaatlicher Zuordnungen, dessen
Protagonist der ersten Stunde der legendäre italienische anti-Faschist
Altiero Spinelli gewesen ist, der wiederum bis in die 1980er Jahre
Mitglied des Europäischen Parlamentes war, und Co-Autor des europäischen
Manifestes von Ventone 1941. Darin heißt es: „Die erste Aufgabe, die
angepackt werden muss, und ohne deren Lösung jeglicher Fortschritt auf
dem Papier bleibt, ist die endgültige Beseitigung der Grenzen, die
Europa in souveräne Staaten aufteilen.“ [3] Wenig später heißt es im
sog. Hertensteiner Programm von 1946 in Punkt 5: „Die Europäische Union
steht allen Völkern europäischer Wesensart, die ihre Grundsätze
anerkenne, offen.“ Ferner heißt es dort unter Punkt 8: „Die Europäische
Union richtet sich gegen niemanden und verzichtet auf jede
Machtpolitik, lehnt es aber auch ab, Werkzeug irgendeiner fremden Macht
zu sein.“ Wohlgemerkt: in den Texten, die damals den europäischen Geist
atmeten, ging es also um europäische Völker, nicht um Staaten! Und es
ging um die Entsagung von einem Machtanspruch. Das geflügelte Wort von
Jean Monnet lautete: „L’Europe, nous ne coalisons pas des états, mais
nous unissont des hommes.“ Europa, das heißt nicht, Staaten zu
integrieren, sondern Menschen zu einen.
Die EU aber hat, und darauf wird als einen ihrer zentralen Webfehler
zurückzukommen sein, stets versucht, Staaten zu integrieren – durch
einen Binnenmarkt oder eine gemeinsame Währung, eine gemeinsame
Verteidigungspolitik oder eine Klimapolitik – und nicht wirklich
versucht, Europa als Bürgerprojekt zu begreifen, als Projekt einer
gemeinsamen europäischen Demokratie und nicht Integration. Deswegen
konnte die EU bis heute nicht zu einer eigenständigen Souveränität
gelangen und leidet an einem Demokratiedefizit, das wiederum der
Nährboden für die heutigen populistischen Parteien ist, die zwar die EU
angreifen, die aber nicht unbedingt gegen ein geeintes Europa sind. In
dieser Differenz zwischen EU und Europa, zwischen Bürgern und Staaten,
zwischen europäischer Integration und europäischer Demokratie sind
vielleicht die Lösungen zu suchen, um Europa im 21. Jahrhundert anders
zu gestalten. Denn wenn die EU heute vielen als „usurpiert“ erscheint,
von wem auch immer – den USA oder Konzernen – dann konnte das nur
passieren, weil die demokratische Bindung der Bürger zum europäischen
Projekt nie richtig vorhanden war.
Auch Frank Nieß beschreibt schon akribisch für die 1940er Jahre, wie das
europäische Projekt und die vielfältigen europäischen Bewegungen aller
Ortens in der Nachkriegszeit, vor allem in den Jahren 1945 bis 1949,
also vor der Erklärung von Robert Schuman, zum Spielball von
Einflussnahmen wurde: Einflussnahmen der USA ebenso wie der Briten, von
Stalin genauso wie von ökonomischen Akteuren. Um Europa und das, was es
sein sollte, gab es also stets Gezerre, nach dem II. Weltkrieg und bis
in die jüngere und jüngste Geschichte. Quo vadis, Europa? Welches
Europa? Europe at the crossroads? ist eine millionenfach gestellte
Frage.
Wie ein roter Faden zieht sich in Europa die Frage nach Bundesstaat oder
Staatenbund, nach Föderation oder Union, nach nationaler oder
europäischer Souveränität – also letztlich die Frage: wer entscheidet in
Europa, wer ist der Souverän? – durch die europäische Geschichte, auch
durch die über 70-jährige Geschichte der EU. Und damit vor allem die
Frage: entscheiden die Europäer selber über ihr Schicksal, ihre Werte
und ihre geostrategischen und ökonomischen Interessen und wenn ja, wie
machen sie das zusammen? Oder entscheiden „auswärtige Mächte“?
Die europäischen Bibliotheken sind randvoll mit juristischen Analysen
über die Versuche einer europäischen Verfassung, über die europäischen
Verträge von Rom bis Maastricht, über Reformbemühungen und
Regierungskonferenzen von Amsterdam über Nizza und von Laeken bis
Lissabon. Nach über 70 Jahren Integration ist die Bilanz der EU
ernüchternd. Wir, die Europäer, die europäischen Bürger, haben es nicht
geschafft, im demokratischen Sinn Herr des europäischen Projektes zu
werden, und die europäische Einigung so zu bauen, so zu vollenden, wie
es damals in den Texten des Nachkriegseuropas angedacht oder auch
erträumt war. Und zwar unabhängig davon, was die USA vielleicht gewollt
oder gesteuert haben. Denn die unbestrittenen Interferenzen der USA sind
nur die eine Seite. Die andere ist, bis heute, was wir Europäer aus und
auf dem europäischen Kontinent machen wollen?
Wenn wir eine andere Zukunft in Europa wollen als die Geschichte, müssen
wir das Nachdenken über Europa im 21. Jahrhundert mit dieser Frage
beginnen, genauer: fortsetzen. Il faut cultiver son jardin, man muss
seinen Garten hegen, pflegte Voltaire zu sagen. Wir haben den
europäischen Garten nicht gehegt! Wir haben ihn verwildern lassen.
Das eigentliche Problem für mich ist, dass wir jedes öffentliche
Nachdenken darüber, was wir mit und auf diesem Kontinent zusammen machen
wollen, jede konstruktive institutionelle Debatte über die EU, ihre
Governance-Strukturen etc. seit Jahren eingestellt haben. Es geht nicht
mehr darum, dass wir Änderungen am europäischen Gefüge nicht mehr
umsetzen oder implementieren können, sondern dass wir praktisch keine
institutionellen Änderungswünsche an der EU mehr denken, artikulieren
und politisch debattieren können. Die großen Debatten aus der Ära Delors
über les grands projets européen, die großen europäischen Projekte, sie
sind dahin. Europa ist zu einer einzigen großen Krisenerzählung
geworden, Bankenkrise, Eurokrise, Flüchtlingskrise, Krieg. Wer heute 20
Jahre alt ist, hat seit Jahren in der europäischen Medienlandschaft kein
einziges positives Bild von Europa geliefert bekommen, obgleich das
Leben jedes europäischen Bürgers zu großen Teilen durch die EU bestimmt
und reguliert ist.
Muss man sich dann wundern, dass die Afd, wie andere populistische
Parteien, den Dexit, Öxit, Italexit, Polexit etc., fordern und die EU
als unreformierbar bezeichnen? Ich, die ich in den letzten beiden
Jahrzehnten auf hunderten solcher Reformkonferenzen beigewohnt habe
würde dem beipflichten. Wir sind denkfaul geworden mit Blick auf die
Ausgestaltung einer europäischen Demokratie oder einer Verfassung;
denkfaul mit Blick auf unseren kulturellen Beitrag in Zeiten des
Transhumanismus, in denen die europäische Philosophie vielleicht mehr
denn je gebraucht wird, und ebenso denkfaul mit Blick auf Europas Rolle
in der Welt, in der zukünftigen, multipolaren Welt, die sich am Horizont
abzeichnet und in der Europa keine Rolle mehr spielen wird, wenn nicht
bald eine neue, zugkräftige Idee von sich selbst entwickelt.
Noch im Oktober 2023, es ist erst wenige Monate her, als einige
Abgeordnete im Europäischen Parlament einen neuen europäischen Konvent
planten, der 2025, nach den Europawahlen beginnen sollte, der Skizzen,
Pläne und Entwürfe für ein Europa 2030/ 2035 machen sollte, um die
bevorstehende Erweiterung der EU um die Balkanstaaten, die Ukraine oder
die Türkei mit institutionellen Reformschritten zu begleiten, wurde
dieser Vorstoß torpediert. In diesen Konvent sollten auch die 49
Bürgervorschläge für Europa, die im Rahmen einer einjährigen
Bürgerbefragung der EU zwischen 2021 und 2022 entwickelt worden sind,
eingebracht werden. Doch der Konvent wurde kassiert. Kein
Zukunftsentwurf, keine Beratungen, kein Nachdenken. Niemand bedauert es,
niemanden interessiert es, schlimmer noch: die wenigsten wussten davon.
Wie aber soll Europa – und das sollte es ja ursprünglich – ein
europäisches Gemeinwesen werden, wenn sich niemand dafür interessiert?
Wenn es aber, und das ist mein Punkt, kein gelebtes, erlebtes, belebtes
demokratisches Gemeinwesen wird, dann wird die EU (oder ist die schon!)
zum Monster: Nous avons crée un monstre, sagte der berühmte französische
Ökonom Thomas Piketty schon während der Bankenkrise. Aber niemanden
scheint es zu stören, in einem Monster zu leben, ein Apparatus, der
jetzt z.B. durch einen European Digital Service Act die Meinungsfreiheit
in Europa weiter einschränkt, eine EU, die ihre Zugriffsrechte immer
weiter – ich habe das schon 2016 geschrieben – in die europäischen
Demokratien fräst, ohne dafür legitimiert zu sein.
Kann man sich in einem Zustand, in der die EU eine abstrakte, von
politischen Prozessen entkernte, supranationale Hülle für Governance
Strukturen geworden ist, anstatt eine echte bürgernahe, europäische
Demokratie, darüber beschweren, wenn andere Mächte die „Steuerung“ in
Europa übernehmen, und hier ihre Interessen ausleben?
Wenn „die USA“ ihre Stellvertreterkriege – in denen es, die Spatzen
pfeifen es von den Dächern, neben der kolportierten Absicht, „Russland
zu zerschlagen“, im Wesentlichen um wirtschaftliche Interessen, vor
allem um gute Böden in der Ukraine geht – in die Mitte Europas pflanzen?
Wenn „die Chinesen“ von Belgrad über Budapest mit ihren
Infrastrukturprojekten bis ins Herz Europa vorstoßen? Wenn „die Russen“
Europa jetzt in militärische Panik versetzen?
Wessen Schuld ist es, wenn Europa seine Selbstschädigung betreibt, sich
ökonomisch und sozial ausnehmen lässt, sich auseinanderdividieren lässt,
kein Rückgrat hat, sich nicht emanzipiert, nicht souverän ist, sich
nicht wehren kann oder will gegen Missbrauch, kurz: wenn Europa ein
suizidales Verhalten an den Tag legt, ja, wenn Europa Selbstmord begeht?
Was – fast würde ich sagen wollen: zum Teufel – ist in uns Europäer
gefahren, dass wir heute 2024, am 9. Mai, an dem wir drei historische
Daten feiern, so nackt dastehen? Genauer: dass Europa gar nicht mehr
dasteht, sondern schon zerfallen ist und in seinem Wesenskern,
zerbröselt ist, ohne das wir es zu bemerken scheinen, zu thematisieren
wagen, zu trauern bereit sind…..
Denn, und hier erlauben Sie mir bitte, etwas persönlich zu werden: es
gab Chancen, Gelegenheiten, Zeitfenster. Es gab Bemühungen, große
Politiker, Entwürfe.
1993 bin ich, 30-jährig, auf Max Kohnstamm getroffen, den ehemaligen
Berater von Jean Monnet. Auf einer Autofahrt erzählte er mir, wie er in
einer Art Shuttle Diplomatie in den 1950er und 1960er Jahren von Stalin
zu Wehner, von De Gaulle zu Adenauer oder Andreotti gejettet ist, um die
institutionelle Einigung Europas zu forcieren, so dass mir fast
schwindelig wurde. Und ob Jean Monnet jetzt Agent der CIA oder nicht
war, ist relativ egal: die Absichten der einen sind die Chancen der
anderen. Helmut Schmidt und Valéry Giscard d’Estaing haben den Ecu als
Vorläufer des Euro als Projekt währungspolitischer Unabhängigkeit von
den USA konzipiert; Helmut Kohl und Francois Mitterrand haben, mit
Delors zusammen, die einheitliche europäische Akte, dann den
Binnenmarkt, dann den Euro gemacht und die politische Union auf die
Schiene gebracht. Das Schäuble-Lamers Papier von 1994, das ist heute
genau 30 Jahre her, war ein kühner, kluger Entwurf für ein demokratisch
geeintes Europa. Es ging um Mehrheitsentscheidungen, die Durchbrechung
der nationalstaatlichen Repräsentanz, die Aufwertung des Europäischen
Parlamentes. Der europäische Bürgerbegriff wurde begründet, es sollte um
mehr gehen als um ein „market citizenship“, eine Marktbürgerschaft. „In
einen Binnenmarkt kann man sich nicht verlieben“, hat Jacques Delors
immer gesagt, „wir müssen Europa eine Seele geben“, und gemeint war eine
politische Seele. Der gleiche Delors der immer wieder und wieder
versucht hat, neben dem Euro eine Sozialunion zu etablieren und der 1992
auch den Karlspreis bekommen hat: zurecht! Aus meinem Erleben kann ich
diesen Personen nicht absprechen, dass sie sich ehrlich um ein
demokratisches, bürgernahes Europa bemüht haben. Aber sie haben es nicht
geschafft.
Ich wünschte, ich könnte Geist und Debatten über Europa der 1990er Jahre
noch einmal einfangen, für die heutige Jungend U-30: es gab
Aufbruchstimmung, der europäische Pass, die bordeauxrote Hülle wurde
geschaffen, das europäische Hochschulinstitut gegründet, Beethovens 9.
Sinfonie zur europäischen Hymne: „Alle Menschen werden Brüder….“ Es hat
dem Kontinent gut getan, es war eine fiebrige Stimmung, die
Vorstellung, nach dem Mauerfall könnte ganz Europa einig und frei
werden, war ansteckend, Populismus war noch ein Fremdwort.
Nicht, dass die europäischen Projekte – Binnenmarkt, Euro,
Ost-Erweiterung – ein Ponyritt gewesen wären. Nein, es gab zähe,
strittige Debatten. Aber Europa hatte eine Vorstellung von sich selbst,
ein Ziel, vor allem das Ziel, eine politische Gemeinschaft zu werden.
Und darin war es damals weiter als heute! Im Vorfeld der europäischen
Verfassung von 2003 wurden Bücher geschrieben über La question de l’état
européen[4], die Frage eines europäischen Staates. Habermas und Derrida
füllten die Feuilletons mit Debatten über eine europäische Verfassung.
Etienne Balibar stellte die Frage: Sommes nous des Citoyens Européens?
Sind wir europäische Bürger? Oder sind wir als europäische Bürger noch
in „nationalen Containern“? Joschka Fischer sprach in seiner legendären
Humboldtrede vom Mai 2000 über die Europäische Avantgarde, sogar die
Briten erwogen unter Tony Blair eine Teilnahme am Euro. Das ist rund
zwanzig Jahre her und hätte ich es nicht selbst erlebt, ich würde es
heute selbst nicht mehr glauben.
In unserem Buch „Endspiel Europa“ beschreiben Hauke Ritz[5] und ich
detailliert, wie ab dem Moment, wo Europa eigentlich kurz vor seiner
Apotheose, seiner Vollendung stand – Erweiterung, Euro, Verfassung –
also um die Jahrtausendwende, das europäische Projekt ab da eigentlich
nur noch den Abhang der Geschichte herunterrutscht ist.
In der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts reihen sich Bankenkrise,
Eurokrise, Flüchtlingskrise, Pandemie und jetzt der Krieg in und um die
Ukraine aneinander. Europa wurde zu einer einzigen Krisenerzählung. Der
amerikanische Einfluss auf diese Geschehnisse – Bankenkrise oder Maidan –
ist nicht zu negieren. Aber immer ist die Geschichte dialektisch, immer
gibt es die Gegenbewegung, die Europa aus dem Geist des Widerstandes
denkt und nicht zum Spielball äußerer Interessen werden lassen möchte.
Nach der Bankenkrise formte sich vor allem unter jungen Leuten der
Diskurs über das andere Europa, une autre Europe. Aber noch gibt es
öffentliche oder akademische Debatte und relevante Gruppen, die
Vorschläge unterbreiten, z.B. die Reformvorschläge der sog. „Glienicker
Gruppe“ von 2013 oder diejenigen der „Groupe Eiffel“ von 2014. Der
Begriff des europäischen Bürgers gewinnt an Fahrt, die ersten
transnationalen Parteien – DiEM oder VOLT – formieren sich, der Pulse of
Europe ist auf den Straßen. Es gibt den ersten bürgerbasierten
Widerstand gegen das, was Bruno Amable in seinem Buch „Le Blog
Bourgeois“[6] nennt, also im Zuge der Bankenkrise vor allem jugendlichen
Widerstand gegen das neoliberale Europa und die Governance-Strukturen
des Euro. Noch Jean Claude Juncker, Karlspreisträger von 2006, legt,
nachdem er 2014 EU-Kommissionspräsident wurde, 2016 ein Weißbuch zur
Reform der EU vor. Auch dieses Weißbuch verschwindet in der Schublade
der Geschichte.
Auch die Rolle Deutschlands, genauer: die von Angela Merkel, in diesen
Jahren die Demokratisierung der europäischen Strukturen zu verhindern,
werden die Historiker auch Doch was ich erzählen möchte: wir hatten
unsere Chance, es gab in Europa Akteure, die über die europäische
Zukunft nachgedacht haben, die ein politisch geeintes Europa wollten.
Auch Emmanuel Macron, der 2018 noch davon sprach, dass die NATO
„Hirntod“ ist, und der heute Bodentruppen in die Ukraine schicken möchte
(dazu mehren sich Berichte, dass die franz. Ehrenlegion schon in der
Ukraine ist, was eine Verletzung europäischer Vertragsgrundlagen wäre,
die im Rahmen des Kriegsgeschehens ein Dammbruch für eine direkte
europäische Beteiligung sein könnte), hat nach Amtsantritt zunächst
mehrere gute europäische Reden vorgelegt. 2018 war ich dabei, dort in
jenem Rathaus, in dem heute der Karlspreis an den europäischen
Oberrabbiner Pinchas Goldschmidt verliehen wird – den Beitrag des
Judentums zum kulturellen Erbe Europas möchte ich hier ausdrücklich
hervorheben und Rabbi Goldschmidt zum Karlspreis gratulieren – wo der
Bürgermeister von Aachen, Marcel Philipp, Emmanuel Macron in den
Karlspreis einführte, mit den Worten – aus dem Kopf zitiert – er sei
sicher, dass Macron endlich eine deutsche Antwort auf seine europäischen
Vorschläge bekommen würde: Démocracie, unité, souveraineté en Europe:
Demokratie, Einigkeit und Souveränität für Europa. Emmanuel Macron war
der erste Staatschef, der von europäischer Demokratie für die
europäischen Bürger, nicht mehr von Integration gesprochen hat. Und von
europäischer Souveränität statt nationaler Souveränität. Bundeskanzlerin
Angela Merkel hatte die Laudatio. Die Nervosität des ganzen Saales war
zum Greifen, bevor Angela Merkel sie einer belanglosen Rede aus dem Saal
entweichen ließ wie Luft aus einem Luftballon, den man einfach
loslässt, und der dann wild zappelt, bevor er schlaff auf den Boden
plumpst. Bürgermeister Philipp war die Enttäuschung anzusehen.
Deutschland hatte nicht auf Frankreich geantwortet. Das
deutsch-französische Tandem war gestorben, der letzte Versuch, ein
politisches Europa zu Wege zu bringen, abgewürgt.
In der Retrospektive war die zweite Dekade in diesem Jahrhundert wohl
das entscheidende Tauziehen zwischen den Ideen eines bürgerbasierten,
anderen Europas und dem Emporkommen des europäischen Populismus: Europa
erlebte die PiS in Polen, Orban in Ungarn, den Brexit. Das Gespenst des
europäischen Populismus ging um, ein Konflikt, ein Diskurs indes, der
mit nationalstaatlichen Konturen nichts mehr zu tun hat, sondern auf
eine Art europäischen Bürgerkrieg verweist, der zwischen Stadt und Land,
reich und arm, jung und alt, Ost und West usw. verläuft.
Beide Gruppen, die Verfechter einer europäischen Demokratie und die
europäischen Populisten, teilen, dass sie gegen die EU sind, aber für
Europa. Also für ein Europa jenseits der EU! Die einen strebten die
Vollendung der europäischen Demokratie an; die anderen die Rückkehr zu
nationaler Souveränität, solange es keine europäische Demokratie und
keine europäische Souveränität gibt. Die Europawahlen in genau einem
Monat werden zeigen, dass letztere wohl vorerst gewinnen werden. Aber
vielleicht – oder hoffentlich – nur vorerst?
Denn die Frage der europäischen Souveränität ist immer noch der große
weiße Elefant auf dem Tisch der EU. Wenn wir die europäische
Souveränitätsfrage lösen wollten, müssten wir verstehen, dass
Souveränität nach außen – also europäische Handlungsfähigkeit – und
Souveränität nach innen – also die Legitimität eines politischen Systems
– mit einander verwoben sind. Das eine ist nicht ohne das andere zu
haben. Das habe ich im Januar 2022 noch für einen bekannten Think Tank
in Brüssel ausargumentiert; das Papier ist inzwischen von der Webseite
verschwunden.
Und, zweitens, müssten wir verstehen, dass die europäische Souveränität
weder bei der EU liegt, noch bei den Nationalstaaten, sondern das
Souveränität immer vom Volke ausgeht, genauer von den Bürgern, in diesem
Fall den europäischen Bürgern.
Sie alleine wären die Größe, die eine europäische Demokratie formen, die
sich auf gleiches Recht jenseits von Herkunft und Identität einigen
könnten, die den allgemeinen politischen Gleichheitsgrundsatz für alle
europäischen Bürger fordern könnten, um endlich aus den ‚nationalen
Rechts-Containern“ herauszutreten, ganz so, wie Altiero Spinelli sich
das 1941 vorstellte. Würden sie das tun, würden die europäischen Bürger
genau über jene Brücke gehen, die ich versucht habe, zu umreißen, jene
Brücke von europäischer Integration, die die Staaten gestalten, zu
europäischer Demokratie, und auf dem Grundsatz gleichen Rechtes eine
Republik begründen. Nicht alles wäre besser, aber Europa einen wichtigen
Schritt gegangen. Hoffen wir also, dass sich Europa, wenn es aus dem
bevorstehenden Krieg 2034 vielleicht wieder hervor kommt und sich wieder
besinnt, Europa sein zu wollen, die alten Texte noch einmal liest,
versteht, welche falschen Abbiegungen die EU im 20. Jahrhundert genommen
hat, und als regionale, föderale Bürgerrepublik noch einmal sein Glück
im 21. Jahrhundert versucht.
[1]
www.bundesregierung.de/resource/blob/975226/2260264/8efa1868839ede7609437b341d75c3c5/2024-02-16-ukraine-sicherheitsvereinbarung-deu-data.pdf?download=1
[2] Frank Nieß, Die europäische Idee. Aus dem Geist des Widerstands, edition Suhrkamp, Frankfurt 2001
[3] Vgl.: https://www.cvce.eu/de/obj/das_manifest_von_ventotene_1941-de-316aa96c-e7ff-4b9e-b43a-958e96afbecc.html
[4] Jean Marc Ferry, La Question de l’état Européen, PuF, Paris 2000
[5] Hauke Ritz und Ulrike Guérot
[6] Bruno Amable, Le Blog Bourgeo
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