Entnommen: https://freedert.online/meinung/205268-ueber-kontinuitaet-verfolgung-andersdenkender-in/
Über die Kontinuität der Verfolgung Andersdenkender in Deutschland
12 Mai 2024 08:03 Uhr
Immer wieder zeigt sich, dass die Justiz konservativ und
regierungskonform ist; das war im Kaiserreich so, im Nationalsozialismus
– und ist auch heute so. Das Vorgehen gegen Menschen und Parteien hat
dabei auch in der Bundesrepublik Deutschland schon eine längere
Vorgeschichte.
Über die Kontinuität der Verfolgung Andersdenkender in DeutschlandQuelle: Legion-media.ru © Alamy
Keine ganz neue Idee: Schild mit der Aufschrift "Demokratiefeinde verbieten" auf der Leipziger Buchmesse im März 2024
Von Wolfgang Bittner
Allgemein bekannt ist, dass in der Vergangenheit Kritiker der Obrigkeit
und auch Menschen, die andere als die gängigen oder verordneten
Vorstellungen von gesellschaftlichem Leben hatten, verfolgt wurden. In
Rom wurden Christen verbrannt, im europäischen Mittelalter Hexen, bis
vor kurzer Zeit gab es in manchen Landesteilen Deutschlands noch
Aufregung, wenn eine Katholikin einen Protestanten heiratete. Auch die
Verfolgungen in der Nazi-Diktatur bleiben unvergessen.
Weniger bekannt ist mittlerweile, dass nach 1945 eine regelrechte
Kommunistenjagd stattfand. 1951 hatte die Bundesregierung einen Antrag
auf Verbot der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) gestellt, dem
das Bundesverfassungsgericht am 17. August 1956 durch ein Urteil
stattgab. Die Folgen des Verbots für die linke Bewegung in der sich neu
formierenden Gesellschaft der BRD waren gravierend. Die Partei wurde
aufgelöst, das Parteivermögen eingezogen, Büros wurden geschlossen,
Zeitungen verboten, Druckereien, Buchhandlungen und Wohnungen
durchsucht, viele Funktionäre verhaftet. Der Parteivorsitzende Max
Reimann und mehrere Spitzenfunktionäre flüchteten in die DDR, um einer
Verhaftung zu entgehen.
Deutschland vor dem drohenden Krieg – ein Trauerspiel
Meinung
Deutschland vor dem drohenden Krieg – ein Trauerspiel
Die Repressionen und Tausende von Urteilen gegen Kommunisten hatten
schon vor dem KPD-Verbot zu einem dramatischen Mitgliederschwund
geführt, wodurch die kommunistische Bewegung in der bundesdeutschen
Politik bedeutungslos wurde. Es wurden sogar Linke wegen
"verfassungsfeindlicher Beziehungen", also wegen einer "Kontaktschuld",
zu Freiheitsstrafen verurteilt, weil sie an Veranstaltungen in der DDR
teilgenommen hatten. Es kam vor, dass sie vor denselben Richtern
standen, die sie während des Nationalsozialismus ins Konzentrationslager
geschickt hatten.
1968 gründete sich als kommunistische Nachfolgeorganisation die Deutsche
Kommunistische Partei (DKP), die aus politischen Erwägungen geduldet
wurde. Aber die Mitglieder standen unter Beobachtung des
Verfassungsschutzes, und schon drei Jahre später gab es den sogenannten
Extremisten-Erlass, auch Radikalen-Erlass genannt, dem viele
Andersdenkende, überwiegend Kommunisten, anheimfielen. Diese Opfer, von
denen manche während des Nationalsozialismus in Konzentrationslagern
überlebt hatten, wurden nicht selten von Beamten, Staatsanwälten und
Richtern verhört und drangsaliert, die schon vor 1945 Jagd auf sie
gemacht hatten.
Gemeinsam mit Bundeskanzler Willy Brandt einigte sich am 28. Januar 1972
die Ministerpräsidentenkonferenz darauf, dass Bewerber und Mitarbeiter
im öffentlichen Dienst künftig auf ihre Verfassungstreue hin überprüft
werden sollten. Der unter dem Titel "Grundsätze über die Mitgliedschaft
von Beamten in extremistischen Organisationen" ergangene Beschluss
führte zu einer erneuten Hetzjagd auf Sozialisten und Kommunisten.
Hunderttausende von Bewerbern für den öffentlichen Dienst wurden auf
ihre politische "Zuverlässigkeit" überprüft.
Die Feindstaatenklausel in der UN-Charta – Deutschland muss sich aus der Vormundschaft befreien
Analyse
Die Feindstaatenklausel in der UN-Charta – Deutschland muss sich aus der Vormundschaft befreien
Zahlreiche Behördenbedienstete und Tausende von Verfassungsschutzbeamten
hatten alle Hände voll zu tun. Betroffen von der Überprüfungspraxis
waren nicht nur Personen, die sich für bedeutende öffentliche Ämter, für
Hochschullehrstellen oder Tätigkeiten im sicherheitsempfindlichen
Bereich bewarben, sondern ebenso Lehrer, Juristen, Mediziner,
Volkswirte, Landvermesser und so weiter. Sogar Lokomotivführer,
Briefzusteller und Friedhofsgärtner fielen dem Radikalen-Erlass zum
Opfer.
Verdachtsgründe für die Anhörungen waren vor allem die Mitgliedschaft in
der DKP, Aktivitäten innerhalb dieser Partei, Tätigkeiten für ein
"Organisationskomitee Vietnam" und Reisen in die DDR. Einem Postboten
aus Frankfurt am Main wurde seine Entlassung mit der Begründung
angekündigt, aufgrund seiner "Aktivitäten in der DKP" und ihren
"Hilfsorganisationen" sei seine "Entlassung aus dem Beamtenverhältnis
unabweisbar", wenn es ihm nicht gelänge, die an seiner "Verfassungstreue
bestehenden Zweifel auszuräumen".
Diese Praxis mit einer Umkehrung der Beweislast, mit Spitzeleien,
Verdächtigungen, Anhörungen und Berufsverboten war – daran gibt es
keinen Zweifel – verfassungswidrig. Nach Artikel 33 des Grundgesetzes
hat jeder Deutsche "nach seiner Eignung, Befähigung und fachlichen
Leistung gleichen Zugang zu jedem öffentlichen Amte". Gemäß Artikel 3
darf niemand wegen seiner politischen Anschauungen benachteiligt werden;
gemäß Artikel 4 ist die Freiheit des weltanschaulichen Bekenntnisses
unverletzlich; Artikel 9 billigt jedem Deutschen das Recht zu,
Vereinigungen zu bilden. Nach Artikel 21 wirken die Parteien bei der
politischen Willensbildung des Volkes mit und ihre Gründung ist frei.
Zwar heißt es weiter: "Parteien, die nach ihren Zielen oder nach dem
Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitliche
demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder
den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, sind
verfassungswidrig." Über die Frage der Verfassungswidrigkeit hat jedoch –
so steht es in Absatz 4 – das Bundesverfassungsgericht in einem
förmlichen Verfahren zu entscheiden.
Daraus ergibt sich, dass Angehörigen einer nicht verbotenen Partei die
Mitgliedschaft in dieser nicht im Geringsten zum Vorwurf gemacht werden
kann. Dennoch hat das Bundesverwaltungsgericht in einer grundlegenden
Entscheidung vom 6. Februar 1975 (im Fall der Lehrerin Anne Lenhard,
Mitglied der DKP) eine mehr als zweifelhafte, aber gewünschte
Rechtsansicht vertreten, wenn es ausführt: "Das Bekenntnis zu den Zielen
einer (nicht verbotenen) politischen Partei, die mit der freiheitlichen
demokratischen Grundordnung unvereinbar sind, und erst recht der aktive
Einsatz für diese Ziele machen den Beamtenbewerber […] untauglich für
den Beamtendienst […]."
Die Teilung der Welt und der Gesellschaft in Gut und Böse
Das Bundesverfassungsgericht hat dagegen am 21. März 1961 festgestellt:
"Das in erster Linie die Parteiorganisation schützende Privileg des Art.
21 Abs. 2 erstreckt sich auch auf die mit allgemein erlaubten Mitteln
arbeitende parteioffizielle Tätigkeit der Funktionäre und Anhänger einer
Partei. Ihre Tätigkeit ist durch das Parteienprivileg auch dann
geschützt, wenn ihre Partei durch eine spätere Entscheidung des BVerfG
für verfassungswidrig erklärt wird […]. Die Anhänger und Funktionäre
einer solchen Partei handeln, wenn sie die Ziele ihrer Partei
propagieren und fördern, sich an Wahlen beteiligen, im Wahlkampf aktiv
werden, Spenden sammeln, im Parteiapparat tätig sind oder gar als
Abgeordnete sich um ihren Wahlkreis bemühen, im Rahmen einer
verfassungsmäßig verbürgten Toleranz. Das Grundgesetz nimmt die Gefahr,
die in der Gründung oder Tätigkeit einer solchen Partei bis zur
Feststellung ihrer Verfassungswidrigkeit besteht, in Kauf."
Im Widerspruch dazu und entgegen Art. 21 Abs. 4 des Grundgesetzes hat
der Hessische Verwaltungsgerichtshof in einem Urteil vom 27. Juli 1977
zum Fall der Lehrerin Sylvia Gingold in den Leitsätzen rechtsfehlerhaft
festgestellt: "Die DKP ist eine verfassungsfeindliche Partei." Hier, wie
auch in anderen Fällen, haben Verwaltungsrichter ihre ideologische
Befangenheit offenbart, indem sie verfassungswidrige Urteile gefällt
haben.
Es zeigt sich immer wieder, dass die Justiz konservativ und
regierungskonform ist; das war im Kaiserreich so, im
Nationalsozialismus, und ist auch heute so. Man mag von der DKP oder
auch von der AfD halten, was man will, aber das Grundgesetz lässt ein
weites Parteienspektrum zu. Wer mit der Zielsetzung einer zugelassenen
Partei nicht einverstanden ist, muss sich im demokratischen Diskurs
damit auseinandersetzen.
Bis die Bundesregierung 1976 unter Helmut Schmidt die
Extremismus-Regelungen auf Bundesebene abschaffte, wurden Schätzungen
zufolge bis zu 3,5 Millionen Regelanfragen zu Sicherheitsüberprüfungen
für Anwärter des öffentlichen Dienstes an die Verfassungsschutzbehörden
gestellt; etwa 1250 als linksextrem bewertete Personen, überwiegend
Lehrer und Hochschullehrer, wurden nicht eingestellt, etwa 260 Personen
entlassen. Nach neuen Richtlinien von 1979 sollten dann Informationen zu
einer Person beim Verfassungsschutz nur noch beim Vorliegen konkreter
Verdachtsmomente angefragt werden. Die Länder hoben den Radikalen-Erlass
ab Ende der 1970er Jahre nach und nach auf, Bayern erst 1991.
1995 entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Fall
einer niedersächsischen Lehrerin, ihre Entlassung wegen Mitgliedschaft
in der DKP verstoße gegen das Recht auf Meinungs- und
Vereinigungsfreiheit der Europäischen Menschenrechtskonvention. Diese
Entscheidung und das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 21. März
1961 könnten aufgrund der zunehmenden Überwachung und Bevormundung der
Bevölkerung und auch im Hinblick auf die Ausgrenzung der AfD (einer
zugelassenen Partei) und ihrer Mitglieder wieder Bedeutung erlangen.
Denn für die rechtliche Bewertung der Zulassung einer Partei ist es
unerheblich, ob sie dem rechten oder linken Spektrum angehört.
Vorabdruck aus einem im September im Verlag zeitgeist erscheinenden Buch
von Wolfgang Bittner mit dem Titel: "Niemand soll hungern, ohne zu
frieren" Untertitel: "So wie es ist, kann und wird es nicht bleiben."
Erstveröffentlichung: www.nachdenkseiten.de/?p=114932
Mehr zum Thema – Wolfgang Bittner: "Deutsche Querfront" – Verleumdungen, unbewiesene Behauptungen
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen