Entnommen: https://linkezeitung.de/2023/07/02/kapitalismus-bis-zum-bitteren-ende/
Kapitalismus bis zum bitteren Ende
VERÖFFENTLICHT VON LZ ⋅ 2. JULI 2023 ⋅ HINTERLASSE EINEN KOMMENTAR
von Rüdiger Rauls – https://ruedigerraulsblog.wordpress.com
Die schwerste Bankenkrise seit der Lehman-Pleite scheint für die USA
vorerst überstanden. Auch der Streit um die Schuldengrenze ist fürs
erste beigelegt. Die Zahlungsunfähigkeit der größten Volkswirtschaft der
Welt konnte im letzten Moment abgewendet werden. Ist nun die Welt des
Kapitalismus wieder in Ordnung?
Kapital auf der Flucht
Notenbank und Regierung der USA haben mit der Bereitstellung von
Finanzmitteln und Bürgschaften verhindern können, dass der Untergang
mehrerer mittelgroßer Banken sich zu einer großen Finanzkrise ausweitet.
Kaum ist an dieser Front Ruhe eingetreten, tun sich bereits neue
Abgründe auf. Das Beben rund um die Silicon Valley Bank hat zum Abfluss
von „fast 600 Milliarden Dollar … aus dem US-Bankensystem“ (1) geführt.
Ein Großteil dieser Gelder wurde längerfristig in Geldmarktfonds
angelegt. Das kommt der US-Regierung sehr ungelegen, wo doch gerade
jetzt der amerikanische Staat auf jeden kaufwilligen Investor angewiesen
ist. Denn die USA, die reichste Volkswirtschaft der Welt, sind knapp
bei Kasse, wie der Streit um die Anhebung der Schuldenobergrenze
deutlich machte.
Schon jetzt erreichen die Staatsschulden die unvorstellbare Summe von
rund 31,5 Billionen Dollar. Die Einigung im Streit um die
Schuldenobergrenze erlaubt eine Erhöhung um zusätzliche 1,5 Billionen.
Da die US-Regierung sich während dieser Auseinandersetzung keine neuen
Mittel beschaffen durfte, ist nun der staatliche Finanzierungsbedarf
entsprechend groß.
Die US-Bank J.P. Morgan schätzt, dass die Regierung bis September 2023
neue Gelder in Höhe von 850 Milliarden Dollar über Anleihen aufnehmen
muss. Nur so kann der Staat seine Zahlungsverpflichtungen erfüllen und
weiter funktionieren. Ausgerechnet die reichen westlichen Staaten sind
die am höchsten verschuldeten und verfügen nicht über genügend
Einnahmen, um die Staatsausgaben zu schultern.
Im Geschäftsjahr 2023 hatte die US-Regierung Staatseinnahmen von 2,99
Billionen Dollar, denen aber Ausgaben von 4,16 Billionen
gegenüberstanden.(2) Angesichts ihrer gewaltigen Verschuldung ist die
US-Regierung abhängig von der Bereitschaft privater Anleger und
institutioneller wie Geldmarkt-Fonds, ihr Geld in amerikanischen
Staatspapieren anzulegen. Anderenfalls ist die Zahlungsfähigkeit des
Landes in Gefahr. Doch Finanzministerin Janet Yellen hat Zweifel, ob
„die Geldmarktfonds die Anleiheflut des US-Staates allein aufnehmen
können“.(3)
Um Investoren anzulocken, müssen die USA schon jetzt an den
Finanzmärkten Zinsen zahlen, die im Schnitt um 1,5 Prozentpunkte über
denen deutscher Staatsanleihen liegen. Zudem sind durch die Maßnahmen
der FED zur Inflationsbekämpfung inzwischen die Renditen kurzlaufender
Anleihen höher als die von langlaufenden, normalerweise ist das
umgekehrt. Angesichts solcher Nachteile dürfte es für die US-Regierung
schwierig werden, Käufer für langfristige Anleihen zu finden.
Unter den Bedingungen des kapitalistischen Finanzmarktes gibt es da nur
eine Lösung: Es müssen höhere Zinsen für die Langläufer angeboten
werden. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die USA für neue
längerfristige Anleihen bald einen Zinssatz mit einer Fünf vor dem Komma
bieten müssen. Das aber wird den ohnehin schon angespannten US-Haushalt
zusätzlich belasten.
Interessenkonflikte
„Alleine in den letzten vier Quartalen … musste die US-Regierung auf die
gesamte Staatsverschuldung 853 Milliarden Dollar an Zinsen
bezahlen.“(4) Das entspricht fast einem Drittel der gesamten
Staatseinnahmen des Landes von 2,99 Billionen Dollar. Dabei wachsen die
Zinsforderungen schneller als die Wirtschaftsleistung zunimmt. Allein
innerhalb eines Jahres haben sie sich von 600 Mrd auf 853 Mrd Dollar
erhöht und das bei wesentlich niedrigeren Zinssätzen als den aktuellen.
Erschwerend kommt hinzu, dass zu den größten Gläubigern der USA nicht
nur private und institutionelle Anleger gehören sondern auch Staaten wie
China, mit denen die USA immer heftiger in Konflikt geraten. Russland
hat seinen Bestand an US-Anleihen bereits weitgehend abgebaut und der
chinesische sinkt auch. Das bedeutet, dass bei steigendem Finanzbedarf
der USA die Kundschaft für deren Anleihen schrumpft. Das Missverhältnis
zwischen Angebot und Nachfrage nach amerikanischen Staatsanleihen
scheint sich auszuweiten.
Die politischen Folgen dieser Situation haben sich bereits während des
Streits um die Erhöhung der Schuldenobergrenze angedeutet und dürften in
den nächsten Jahren immer mehr in den Vordergrund treten. Wessen
Interessen wird die amerikanische Regierung bei einer Verschärfung der
Schuldenlage zuerst bedienen? Erfüllt sie die Zinsforderungen ihrer
Gläubiger oder aber wiegen für sie die Bedürfnisse der eigenen
Bevölkerung schwerer? Beides zu bedienen, wird immer schwieriger.
Geht immer mehr Geld aus den Staatseinnahmen in die Zinsaufwendungen,
wird die Regierung Abstriche machen müssen an den staatlichen Leistungen
gegenüber der eigenen Bevölkerung, wenn es zu keiner wesentlichen
Steigerung der Wirtschaftsleistung kommt. Denn die Alternative wäre die
Reduzierung oder gar Einstellung der Zinszahlungen, was dem
Zahlungsausfall gleich käme. Dieses Vorgehen aber wird durch die
amerikanische Verfassung selbst verboten. Der 14. Zusatzartikel stellt
klar, dass „der Wert der amerikanischen Staatsschulden nicht infrage
gestellt werden dürfe“(5).
Würde irgendeine amerikanische Regierung die Zinszahlungen nicht
erfüllen, würde sie gegen die amerikanische Verfassung verstoßen und
sich einer Welle von Klagen gegenübersehen, die zugunsten der Gläubiger
ausgehen dürften. Zudem würde wohl kaum ein Anleger noch amerikanische
Staatsanleihen kaufen. Vielmehr wäre mit einer Verkaufswelle zu rechnen,
denn jeder würde verkaufen wollen, solange die Papiere noch einen
gewissen Gegenwert haben. Die Folge wäre ein Anstieg der Zinsen in
astronomische Höhen.
So bleibt den USA gar nichts anderes übrig, als dem systemischen Rivalen
China, dessen Aufstieg man mit aller Macht verhindern will, weiterhin
seine Zinsen zu zahlen auf den Anleihebestand von etwa einer Billion
Dollar, während die eigene Bevölkerung Gefahr läuft, die Gürtel enger
schnallen zu müssen. Insofern sind die Drohungen der USA gegenüber China
etwas vollmundig. Die Amerikaner sind von chinesischem Wohlwollen viel
stärker abhängig als umgekehrt. Eine Verkaufswelle aus China wäre eine
Katastrophe für die amerikanische Wirtschaft.
Die Prioritäten sind klar: Zinsen und Tilgungen gehen vor, alle anderen
Zahlungen müssen warten. Das gilt auch für die Zahlungen an die ungefähr
60 Millionen Rentenbezieher. Im Konflikt zwischen den Interessen der
Investoren und der eigenen Bevölkerung, werden die Regierungen der USA
denen der Investoren den Vorzug geben müssen – aus rechtlichen wie auch
aus wirtschaftlichen Gründen.
So wurde der aktuelle Kompromiss mit den Republikanern über die Anhebung
der Schuldengrenze erkauft mit der Zusicherung der Demokraten,
staatliche Ausgaben für die nächsten zwei Jahre einzufrieren und
Verschärfungen bei den Empfängern sozialer Leistungen einzuführen. Das
sind die Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus, an denen aller guter Wille
welcher Regierung auch immer scheitern wird, so lange sie sich der
privatwirtschaftlichen Ordnung verpflichtet fühlt.
Kapital-Kannibalismus
Die führenden kapitalistischen Staaten, allen voran die USA, taumeln dem
finanziellen Zusammenbruch entgegen, wenn sich an den derzeitigen
Gegebenheiten nichts ändert. An der Zahlungsverpflichtung für den
Schuldendienst führt kein Weg vorbei. Es bleibt ihnen folglich nur, die
Ausgaben für die Bevölkerung einzudampfen, oder aber die
Wirtschaftsleistung muss in einem Maße gesteigert werden, dass höhere
Staatseinnahmen zum Abbau von Schulden und der Verringerung der
Zinsverpflichtungen führen.
Darin aber gerade liegt das Problem für die Gesundung der westlichen
Staatsdefizite. Besonders die bisherigen staatlichen Maßnahmen zur
Steigerung der Wirtschaftskraft sind ein bedeutender Beitrag zur
Verschuldung der Staaten. Speziell bei den USA kommen die gewaltigen
Ausgaben für Rüstung und Kriegsführung hinzu, bei denen aber auch in
Zukunft gemäß dem Kompromiss zwischen Demokraten Republikanern nicht
gespart werden soll.
Die Ertragskraft der Wirtschaft in den führenden kapitalistischen
Staaten reicht nicht aus, um die staatlichen Ausgaben zu finanzieren.
Um diesen Niedergang der Ertragskraft aufzuhalten, hatten die
Regierungen immer mehr Zugeständnisse an die Wirtschaft gemacht.
Unternehmenssteuern wurden in Milliardenhöhe gesenkt, um den
Wirtschaftsstandort für Investoren attraktiv zu machen oder seine
Attraktivität für die ansässigen Unternehmen zu erhalten.
Auf der anderen Seite wurden Subventionen in Milliardenhöhe gewährt, um
die Konkurrenzfähigkeit von Wirtschaftszweigen zu erhalten, die auf dem
Weltmarkt nicht mehr wettbewerbsfähig waren. Aufstrebenden
Wirtschaftszweigen wiederum wurden durch Subventionen oder Kaufanreize
unterstützt, um Marktreife zu erreichen. Milliarden wurden ausgegeben
für Bankenrettungen und Abwrackprämien zur Stützung der Autoindustrie.
All das geschah in der Hoffnung und sicherlich auch dem guten Glauben,
Arbeitsplätze zu sichern und neue zu schaffen, und dadurch zum Wachsen
der Staatseinnahmen beizutragen. Aber stattdessen es belastete die
Haushalte und führte nicht zu den erwarteten Mehreinnahmen in der
Staatskasse. Dabei waren doch all diese Maßnahmen sogar wissenschaftlich
durch die Theorien der Wirtschaftswissenschaften.
Aber diese Politik diente nicht allein der Verbesserung der
Haushaltslage sondern auch einem politischen Ziel: der Erhaltung der
privatwirtschaftlichen Ordnung. Das private Unternehmertum als Stütze
und Träger der kapitalistischen Ordnung galt es zu schützen
beziehungsweise zu fördern. Dieses Handeln befand sich in
Übereinstimmung mit dem Denken der gesellschaftlichen Mehrheit, und weil
diese Mehrheit so denkt, ist sie auch immer noch bereit, die Nachteile
dieses Systems weiterhin zu ertragen.
Eine Beschleunigung der Verschuldung erfährt die westliche Wirtschaft
durch die Sanktionen gegenüber Staaten, die sich nicht den westlichen
Vorstellungen unterwerfen wollen. Diese Sanktionen schädigen immer mehr
die eigene Wirtschaft statt die der Sanktionierten. Das wird im Konflikt
mit Russland, aber auch mit China immer deutlicher. Westliche
Unternehmen müssen sich aus lukrativen Märkten zurückziehen und
Umsatzeinbußen hinnehmen. Das mindert ihre Ertragskraft.
Wenn auch Markt und Ertragskraft westlicher Unternehmen schwinden, die
Verschuldung und Zinsverpflichtungen ihrer Staaten jedoch werden nicht
geringer. Inzwischen ist ein neuer Subventionswettlauf unter den
westlichen Staaten entbrannt. Man wirbt sich gegenseitig die Unternehmen
ab. Der Wertewesten kannibalisiert sich selbst.
Besonders die Europäische Union und die USA überbieten sich gegenseitig
mit staatlichen Zuwendungen für Unternehmen, die sich im jeweiligen
Wirtschaftsraum ansiedeln wollen. Ständig werden neue Förderprogramme
aufgelegt, um Zukunftsindustrien wie die Produktion von Batterien,
Solartechnologie oder Chips anzulocken oder selbst aus dem Boden zu
stampfen. Das kostet enorm viel Geld und der Erfolg ist zweifelhaft.
Denn der Vorsprung Chinas in vielen dieser Industrien scheint
uneinholbar. Im Vergleich dazu ist die heimische Industrie ein „Trabi
mit kaputtem Motor“. (6)
Während die westlichen Staaten die Zinsen erhöhen müssen, um Kapital
anzulocken oder die Inflation zu bekämpfen, hat China zuletzt Zinsen auf
1,9%(7) gesenkt und steigert mit den dadurch sinkenden
Investitionskosten die Ertragslage seiner Unternehmen. Während die USA
die Zinsen erhöhen müssen, um Anleger für ihre Anleihen zu finden,
profitiert China von den höheren Zinsen des systemischen Rivalen USA.
(1) Frankfurter Allgemeine Zeitung 16.06.2023: Anleger erwartet eine Flut von US-Staatsanleihen
(2) https://fiscaldata.treasury.gov/americas-finance-guide/
(3) Frankfurter Allgemeine Zeitung 16.06.2023: Anleger erwartet eine Flut von US-Staatsanleihen
(4) https://finanzmarktwelt.de/us-staatsverschuldung-zinslast-schuldenobergrenze-das-grosse-problem-268101/
(5) FAZ 11.5.2023: Die US-Regierung spielt Zahlungsausfall durch
(6) FAZ 19.6.2023: Trabi mit kaputtem Motor
(7) Frankfurter Allgemeine Zeitung 16.06.2023: Anleger erwartet eine Flut von US-Staatsanleihen
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