Entnommen: https://linkezeitung.de/2023/07/11/eine-analyse-der-neuen-nato-strategie/
Eine Analyse der neuen NATO-Strategie
VERÖFFENTLICHT VON LZ ⋅ 11. JULI 2023 ⋅ HINTERLASSE EINEN KOMMENTAR
von Thomas Röper – http://www.anti-spiegel.ru
Die NATO steht vor einem historischen Umbau und sie bereitet sich wieder
auf einen großen Krieg in Europa vor, wie eine Analyse zeigt.
Die russische Nachrichtenagentur TASS hat eine sehr (sehr, sehr)
lesenswerte Analyse der neuen NATO-Strategie veröffentlicht, die ich
übersetzt habe. Wenn ich so etwas in russischen Medien lese, frage ich
mich jedes Mal, warum man in deutschen Medien nie brauchbare Analysen
geopolitischer und militärischer Vorgänge findet.
Beginn der Übersetzung:
Die drei militärischen Pläne der NATO gegen Russland: Das Bündnis kehrt zu seinen Wurzeln zurück
Der Militärblock wird das Kommando über Einheiten von bis zu 300.000
Soldaten sowie über umfangreiche See- und Luftstreitkräfte übernehmen
Auf dem NATO-Gipfel in Vilnius am 11. und 12. Juli wird ein neuer
Generalplan für den Einsatz der Bündniskräfte gegen Russland in Europa
verabschiedet. Er besteht aus drei regionalen Teilen und sieht die
Verlegung von bis zu 300.000 Soldaten sowie umfangreiche See- und
Luftstreitkräfte unter dem Kommando des Bündnisses vor, wobei die
Logistik für die rasche Verlegung von Verstärkungen aus den USA und den
westlichen NATO-Staaten an die Ostflanke ausgearbeitet wird.
Ein solcher Plan wird zum ersten Mal seit dem Ende des Kalten Krieges
vor mehr als 30 Jahren verabschiedet. De facto kehrt die NATO zu ihren
Wurzeln zurück, denn sie plant einen umfassenden Krieg mit Russland in
Europa und zieht zu diesem Zweck die größtmöglichen Ressourcen aus den
europäischen Ländern ab. Genau zu diesem Zweck wurde die NATO auf
Initiative Großbritanniens und der USA am 4. April 1949 gegründet.
Drei regionale Pläne
„Auf dem Gipfeltreffen werden wir weitere wichtige Schritte zur Stärkung
unserer Verteidigungspolitik der Abschreckung durch drei neue regionale
Verteidigungspläne ergreifen, um die beiden Hauptbedrohungen für unser
Bündnis – Russland und den Terrorismus – zu bekämpfen. Ein Plan ist für
den Norden und den Atlantik, ein anderer für Mitteleuropa, der sich auf
die baltischen und mitteleuropäischen Regionen erstreckt, und ein
dritter für die Mittelmeer- und Schwarzmeerregionen“, sagte
NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg auf einer Pressekonferenz am 7.
Juli in Brüssel.
„Diese Pläne [implizieren], dass die NATO 300.000 Soldaten in hoher
Bereitschaft einsetzt, einschließlich bedeutender Luft- und
Seekampfkräfte“, sagte er.
In der Tat werden sich die zentralen und nördlichen Militärpläne der
NATO auf die Konfrontation mit Russland konzentrieren, während der
südliche die Ressourcen zwischen dem Kampf gegen Terrorgruppen in
Nordafrika und der Konfrontation mit Russland in der Schwarzmeerregion
und in Nordafrika aufteilen wird.
Rob Bauer, der Vorsitzende des NATO-Militärausschusses, erklärte
seinerseits bei einer geschlossenen Pressekonferenz in Brüssel, dass für
jede Region ein anderes NATO-Kommando zuständig sein wird: der Norden
und der Atlantik werden von einem Hauptquartier in Norfolk (USA)
geleitet, der zentrale Plan wird einem Kommando in Brunssum
(Niederlande) zugewiesen, die Mittelmeer- und Schwarzmeerregion wird von
einem Hauptquartier in Neapel (Italien) geleitet. Bauer sagte auch,
dass die Pläne die Integration von Weltraum- und Computerkräften in die
Operationen vorsehen.
Ihm zufolge befinden sich derzeit 40.000 Soldaten, 100 Kampfflugzeuge
und 27 Schiffe unter dem Kommando der Allianz in ständiger Bereitschaft.
Das bedeutet, dass die Zahl der ständig einsatzbereiten Kräfte um das
7,5-fache erhöht werden soll. „Die Hauptarbeit wird also nach Vilnius
beginnen – wir werden die neuen Pläne, die dort beschlossen werden, in
die Praxis umsetzen müssen. Und das funktioniert nicht wie ein Schalter,
sondern wird Jahre dauern“, sagte er.
Und das werde „große Investitionen der NATO-Länder“ erfordern. Eine
weitere wichtige Entscheidung auf dem NATO-Gipfel in Vilnius wird die
deutliche Ausweitung der Militärausgaben des Bündnisses sein.
Intermare und Skandinavien
Strategisch hat das Bündnis es vorgezogen, „das Rad nicht neu zu
erfinden“, denn die neuen Pläne sehen die Remilitarisierung der
Intermare-Zone vor, also des Gebiets zwischen der Ostsee und dem
Schwarzen Meer. Im Laufe der Jahre wurde dieser Begriff von polnischen,
französischen, deutschen und anglo-amerikanischen politischen Eliten mit
demselben Ziel verwendet, Russland von Europa zu isolieren und einen
„Verteidigungswall gegen die Russen“ zu errichten. Die NATO hatte nach
dem Kalten Krieg im Gegenzug für den Abzug der sowjetischen Truppen aus
der DDR versprochen, sich nicht auf den Intermare-Raum auszudehnen. Und
in der Russland-NATO-Grundakte von 1997 verpflichtete sich das Bündnis,
dort keine „bedeutenden militärischen Kräfte“ zu stationieren.
Neu in diesen Plänen wird die arktische Dimension sein. Seit den Siegen
Peters des Großen im Großen Nordischen Krieg, die der Hauptgrund dafür
waren, dass Schweden ein halbes Jahrhundert später, im Jahr 1780, auf
seine geopolitischen Ambitionen verzichtete und seine ewige Neutralität
erklärte, wurde Skandinavien, also das gesamte Gebiet nördlich der
Ostsee, als eine Zone der Neutralität und Entspannung betrachtet. Das
Gebiet war für keinen führenden Politiker der Welt von Interesse:
Fische, Walrosse und Eis…
Mit dem Erscheinen effektiver Technologien für die Erschließung von
Offshore-Bodenschätzen unter arktischen Bedingungen und vor allem mit
der Erwärmung des Klimas und der Öffnung des Nördlichen Seewegs stieg
der Appetit auf Einfluss in dieser Zone drastisch an. Daher musste auch
die militärische Macht in die Region projiziert werden.
Die Türkei und Schweden als Geo-Gegner
Das Verständnis der geographischen Gegebenheiten der neuen militärischen
Planung der NATO bietet neue Einblicke in den Widerstand der Türkei
gegen den Beitritt Schwedens zum Bündnis. Die militärischen Ressourcen
der NATO sind aufgrund des Konflikts in der Ukraine derzeit stark
eingeschränkt. Die Türkei und Schweden sind die geografisch
gegenüberliegenden Punkte des Bündnisses. Die Region vom Baltikum bis
Rumänien ist für die NATO kein Thema, denn angesichts ihrer Nähe zur
heißen Zone des militärischen Konflikts in der Ukraine wird die NATO
alles in Bewegung setzen, was sie kann. Der Mittelmeerraum und die
Arktis sind jedoch zweitrangig, was bedeutet, dass sie um Ressourcen der
NATO konkurrieren. Indem Ankara den Beitritt eines wichtigen nördlichen
Landes zur NATO blockiert, verunsichert es die Bündnisstaaten in Bezug
auf die nördliche Region und setzt so Ressourcen für den Süden frei, der
von der Türkei dominiert wird.
Egal, wie oft Stoltenberg erklärt, dass Schweden vollständig in die
militärischen Pläne des Bündnisses integriert wird, unabhängig davon, ob
es bereits Teil des Blocks ist oder noch nicht, wird es beispielsweise
bei der Vergabe von Rüstungsaufträgen eindeutig keine politische
Priorität haben. Ankara muss jedoch auch aufpassen, dass es innerhalb
der NATO nicht zu einem übermäßigen Ärgernis wird und dürfte daher den
USA und den führenden NATO-Staaten Zugeständnisse in Bereichen machen,
die keine Priorität haben.
Verteidigung oder Angriff
Von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer ist die NATO-Grenze zu Russland
und Weißrussland mehr als 2.000 Kilometer lang. Allein die Landgrenze
Russlands zu Finnland ist mehr als 1.000 Kilometer lang. Außerdem soll
ein Teil der NATO-Kräfte für Aufgaben in Nordafrika eingesetzt werden.
Das heißt, unter dem Kommando der Allianz stehen 300.000 Soldaten auf
einer Länge von 3.000 Kilometern in ständiger Bereitschaft.
Die NATO beabsichtigt in ihrer Planung, bestimmte Brigaden und
Bataillone aus verschiedenen Bündnisstaaten eng an bestimmte
Einsatzgebiete an der Ostflanke zu binden. Das heißt, dass zum Beispiel
eine deutsche Einheit, die einen Sektor für Kampfhandlungen in Nordpolen
zugewiesen bekommen hat, dauerhaft in der BRD stationiert sein wird,
wobei sie eine kleine taktische Gruppe nach Polen verlegt und den
größten Teil ihrer Ausrüstung und Waffen dauerhaft dort stationiert. Das
Personal der gesamten Einheit wird regelmäßig zu Übungen in dieses
Gebiet reisen. So werden die 300.000 Soldaten über die gesamte Ostflanke
des Bündnisses „verteilt“, einschließlich des Hohen Nordens und des
südlichen Mittelmeerraums, und sie sollen nicht in einer schlagkräftigen
Faust auf einem schmalen Abschnitt der Front versammelt werden. Der
Ukraine-Konflikt hat deutlich gezeigt, dass eine Truppe von 100.000 Mann
auf einer fast 1.000 km langen Grenze für eine vollwertige Offensive
gegen einen vergleichbaren Gegner nicht ausreicht.
Aber diese 300.000 Mann starke einsatzbereite Truppe entspricht nicht
einmal annähernd den gesamten Ressourcen der NATO. Das sind die Kräfte,
die in der ersten Phase eines Konflikts zusätzlich zu den Armeen der
Bündnisstaaten, die sich bereits in Grenznähe zu Russland befinden,
eingesetzt werden sollen. So gab es in Polen laut offenen Daten im Jahr
2022 125. 500 Soldaten und 35.000 Kämpfer der Territorialverteidigung.
In Finnland beläuft sich die Zahl der Berufssoldaten und Wehrpflichtigen
auf 35.000, zuzüglich der Mobilisierungsreserve von 700.000… In
Rumänien sind es 36.000 Personen.
Doch das ist noch nicht alles. Die USA haben bereits mehr als 10.000
Militärangehörige auf bilateraler Basis allein nach Polen entsandt, die
nicht zu den NATO-Kontingenten gehören, und sie stellen in Polen Waffen
und Ausrüstung für die rasche Verlegung von Zehntausenden weiterer
Soldaten nach Polen bereit.
Aber auch das ist noch nicht alles. Eine der Hauptprioritäten des
Bündnisses in den letzten Jahren war der Ausbau seiner militärischen
Transportinfrastruktur mit dem einzigen Ziel, so schnell wie möglich
Verstärkung aus dem Westen (einschließlich der großen Häfen an der
Atlantikküste, wo Transporte aus den USA, Kanada und anderen verbündeten
Ländern ankommen können) nach Osteuropa zu bringen.
Bei der kleinen Truppe von 300.000 Mann, von der die NATO-Führung
spricht, handelt es sich also nicht einmal um eine erste Einheit,
sondern buchstäblich um das Vorauskommando für den ersten Kontakt. Die
NATO arbeitet derzeit daran, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass
sie in einem möglichen Konflikt ihre gesamten militärischen Fähigkeiten
einsetzen kann. Das Bündnis plant nicht nur einen
Verteidigungsschwerpunkt, sondern die NATO-Zentrale hat mit der Planung
für einen globalen Konflikt mit Russland begonnen. In diesem Ausmaß ist
die Frage, ob sich das Bündnis auf eine Verteidigung oder einen Angriff
vorbereitet, im Grunde sinnlos. Die beste Verteidigung ist ein
Präventivschlag. Im Moment natürlich nur auf der Planungsebene.
Ist die Kapazität realistisch?
Theoretisch liegt die verfügbare kombinierte Kapazität der
NATO-Bodentruppen im Jahr 2022 bei über vier Millionen Mann. Das ist
jedoch eine sehr willkürliche Zahl. Wenn man von einem globalen Konflikt
ausgeht, muss einerseits die Mobilisierungskapazität berücksichtigt
werden, und zwar nicht nur die personelle, sondern auch die
organisatorische und militärtechnische (wie soll man sich versammeln, wo
soll man ausbilden, was soll man bewaffnen, wer wird das Kommando
haben). Andererseits bleibt auch die Frage der Kampfbereitschaft der
vorhandenen vier Millionen Militärangehörigen offen, wenn man den
Zustand der Ausrüstung und die Verbringung erheblicher Mengen davon in
die Ukraine, die Munitionsbestände etc. berücksichtigt. Es gibt eine
dritte Partei – die Luft- und Seestreitkräfte des Bündnisses, die im
Falle eines globalen Konflikts entscheidend sein werden.
Natürlich denkt das Bündnis auch an die Atomstreitkräfte. Es ist jedoch
bemerkenswert, dass die Staats- und Regierungschefs der NATO in allen
öffentlichen Erklärungen zu ihren künftigen militärischen Plänen dieses
Thema sorgfältig vermeiden. Insgesamt hat die Ukraine der NATO in der
Praxis gezeigt, dass ein langwieriger Konflikt mit einer Atommacht mit
nichtnuklearen Mitteln theoretisch möglich ist. Und wenn das der Fall
ist, müssen die erforderlichen Pläne vorhanden sein.
Die ukrainische Offensive
Die ukrainische Sommeroffensive hat eine Bedeutung für die NATO, die
weit über den aktuellen Ukraine-Konflikt hinausgeht. Sie soll ein Test
für die Ausrüstung, die Taktik und die Organisation von Kampfeinsätzen
der Allianz gegen den Hauptgegner der NATO sein.
Die Ergebnisse sind derzeit so entmutigend, dass sie bei den Staats- und
Regierungschefs der NATO-Länder und den Militärplanern des Bündnisses
auf dem Gipfel in Vilnius ernsthafte Fragen aufwerfen können, inwieweit
die militärischen Strukturen der NATO-Hauptquartiere überhaupt
einsatzfähig sind. Diese Fragen wurden jedoch bereits beantwortet. Die
Misserfolge der ukrainischen Streitkräfte werden höchstwahrscheinlich
auf ihren niedrigen Ausbildungsstand und das Fehlen einer ernsthaften
Luftunterstützung zurückgeführt werden.
Vor dem Gipfel erklärte ein Militärexperte in Brüssel gegenüber der TASS
unter der Bedingung der Anonymität, dass „Kiew nicht über den
wichtigsten Trumpf der NATO verfügt – mächtige Luft- und Seeeinheiten,
die eine Schlüsselrolle in der militärischen Planung der Allianz
spielen“. „Parallel zur Offensive der ukrainischen Armee fand in Europa
jedoch das größte Luftmanöver der letzten 30 Jahre, Air Defender 2023,
statt (vom 12. bis 23. Juni – Anmerkung TASS), an dem bis zu 300
verschiedene Flugzeuge teilnahmen. Geübt wurden groß angelegte
militärische Luftoperationen gegen einen technologisch fortgeschrittenen
Feind. So wurde die Luftkomponente von den NATO-Militärs synchron mit
der Gegenoffensive in der Ukraine getestet, aber nicht im Kampfmodus,
sondern im Trainingsmodus“, so der Experte weiter.
Auf diese Weise können die NATO-Militärs versuchen, reale
Kampferfahrungen der Streitkräfte und Simulationen der Luftkriegsführung
im Rahmen der Ausarbeitung ihrer militärischen Pläne zu kombinieren und
den Politikern deren Fähigkeiten beweisen.
Kriegshysterie
Die neuen globalen Militärpläne der Allianz erfordern die Aufrüstung der
europäischen Armeen, die Militarisierung der Wirtschaft, um die
Ausrüstungs- und Munitionsbestände wieder aufzubauen, die Aufstockung
der Verteidigungshaushalte und den umfassenden Einsatz von Luft- und
Seekapazitäten, die sich in den Händen der USA befinden. Die Angst vor
einem nuklearen Konflikt wiederum führt dazu, dass ein wirksamer
nuklearer Schutzschirm benötigt wird. All diese Faktoren haben ein Ziel:
Europa so fest wie möglich an die USA zu binden. Die wirtschaftliche
Schwächung Europas, dessen begrenzte Ressourcen zunehmend für
militärische Zwecke eingesetzt werden, ist auch für die USA äußerst
vorteilhaft, da sie viele direkte Konkurrenten der amerikanischen
Industrie auf der Weltbühne schwächt und die Fähigkeit Europas, mit den
USA um Ressourcen zu konkurrieren, verringert.
Mit anderen Worten: Die Allianz setzt darauf, eine mehrjährige
militärische Konfrontation in Europa aufrechtzuerhalten, ohne dass es zu
einem umfassenden militärischen Konflikt kommt. Wie Admiral Bauer
sagte, wird die Verwirklichung der militärischen Pläne der NATO
„jahrelange Arbeit erfordern“. Das heißt, es geht um den systematischen
Aufbau einer Vorkriegsmentalität in der Alten Welt, die sich auf alles
auswirken wird, von der Wirtschaft bis zu den Medien.
Ein direkter Krieg mit Russland ist sehr gefährlich. Brüssel ist sich
dessen wohl bewusst und wird ihn wahrscheinlich aktiv vermeiden, indem
es den Grad der Eskalation sorgfältig abwägt. Aber die Entwicklung einer
langfristigen militärischen Mentalität und der Kampf gegen einen
gemeinsamen Feind sind ein vielversprechender Weg, um die Kontrolle der
USA über ihre Verbündeten zu erhöhen.
Ende der Übersetzung
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