Nach dem
Afghanistan-Debakel: Berlin und Brüssel verfolgen eigenständige
europäische Kriegspolitik
VERÖFFENTLICHT VON LZ ⋅ 4. SEPTEMBER 2021
von
Johannes Stern – http://www.wsws.org
Deutschland und die Europäische Union verstärken nach dem
Debakel in Afghanistan ihre Offensive für eine eigenständige
europäische Kriegspolitik. Auf einem informellen Treffen im
slowenischen Kranj diskutierten die EU-Verteidigungsminister am
Donnerstag über die Aufstellung einer schnellen Eingreiftruppe, die
auch unabhängig vom US-Militär agieren kann.
Der Rückzug
der USA aus Afghanistan werde die EU dazu veranlassen, ihre eigenen
ständigen Streitkräfte aufzustellen, erklärte der Hohe Vertreter
der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Josep Borell, nach dem
Treffen.
„Es ist klar, dass der Bedarf an mehr europäischer
Verteidigung noch nie so offensichtlich war wie heute nach den
Ereignissen in Afghanistan“, sagte Borrell. „Es gibt Ereignisse,
die als Katalysator für die Geschichte dienen. Manchmal passiert
etwas, das die Geschichte vorantreibt, es schafft einen Durchbruch,
und ich denke, die Ereignisse in Afghanistan in diesem Sommer sind
einer dieser Fälle.“
Die europäischen Mächte hatten
zunächst mit einer Mischung aus Desillusion und Empörung auf den
Abzug der US-Truppen und den schnellen Zusammenbruch des
pro-westlichen Marionettenregimes in Kabul reagiert. Nun wollen sie
sich so aufstellen, dass sie in Zukunft in der Lage sind,
Militäroperationen wie in Afghanistan auch ohne die Unterstützung
Washingtons durchzuführen.
Europäische Verteidigungspolitik
werde „nur glaubhaft sein, wenn wir auch in der Lage sind,
außerhalb unserer Grenzen komplizierte militärische Operationen zu
starten“, erklärte der amtierende EU-Komissar für Binnenmarkt und
Industriepolitik, Thierry Breton, gegenüber der Süddeutschen
Zeitung. Dafür sei eine schnell zu mobilisierende EU-Eingreiftruppe
notwendig, „mit allem, was das für Logistik, Vorbereitungen und
Kommandostrukturen bedeutet – und mit Blick auf die Risiken für
jene Frauen und Männer, die für Europa im Einsatz wären“.
Bereits
vor dem Treffen in Kranj hatte Borell einen Gastbeitrag in der New
York Times veröffentlicht. Unter dem Titel „Europa, Afghanistan
ist dein Weckruf“ plädierte er darin für die Aufstellung einer
europäischen Streitmacht und eine weitere Steigerung der
europäischen Verteidigungsausgaben.
„Neben dem Ausbau
zentraler militärischer Fähigkeiten“, darunter „Lufttransport
und Luftbetankung, Führung und Kontrolle, strategische Aufklärung
und weltraumgestützte Mittel“, brauche die EU „Streitkräfte,
die leistungsfähiger, verlegefähiger und interoperabler sind“.
Gleichzeitig werde „der Europäische Verteidigungsfonds, der
eingerichtet wurde, um die Verteidigungskapazitäten der EU zu
stärken“, in den nächsten Jahren „mit knapp 8 Milliarden Euro
ausgestattet“.
Borell ließ keinen Zweifel daran, dass es
der EU dabei nicht etwa um „Menschenrechte“ und „Demokratie“
geht – die Propaganda, mit der die US-geführten
Militärinterventionen in Afghanistan, Libyen oder im Irak
gerechtfertigt wurde –, sondern um die Durchsetzung
imperialistischer Interessen mittels Kriegs.
„Eine
strategisch autonomere und militärisch fähigere EU wäre besser in
der Lage, die kommenden Herausforderungen in Europas Nachbarschaft
und darüber hinaus zu bewältigen“ und „die Verteidigung seiner
Interessen zu stärken“, schreibt Borell in der Times.
Die
EU müsse nicht nur „Bedrohungen“ wie „die Gefahr erneuter
Terroranschläge“ und „irreguläre Migration“ bekämpfen,
sondern auch andere Mächte zurückschlagen. China, Russland und der
Iran würden bereits jetzt „mehr Einfluss in der Region
[Zentralasien] haben“, während Pakistan, Indien, die Türkei und
die Golfmonarchien sich neu positionierten. Europa könne „nicht
zulassen, dass sie nach dem westlichen Abzug die einzigen
Gesprächspartner für Afghanistan sind“, und müsse „sein
Engagement neu ausrichten“.
Besonders aggressiv gebärdet
sich der deutsche Imperialismus. In einem Statement beklagte die
deutsche Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU),
dass die Europäer nicht in der Lage gewesen seien, den Abzug der
westlichen Truppen aus Afghanistan zu verhindern. „Wir Europäer
haben gegen die Entscheidung der USA zum Abzug kaum Widerstand
geleistet, weil wir mangels eigener Fähigkeiten keinen leisten
konnten“, klagte sie auf Twitter.
Das ist
unmissverständlich. Wäre es nach Berlin gegangen, hätte der
brutale 20-jährige Kriegseinsatz, der Hunderttausende Menschenleben
gekostet hat und auf die imperialistische Kontrolle und Ausbeutung
des rohstoffreichen und geostrategisch wichtigen Landes zielte,
fortgesetzt werden müssen. Für Kramp-Karrenbauer und die deutsche
Bourgeoisie lautet die zentrale Lehre aus Afghanistan nicht weniger,
sondern mehr Aufrüstung und Krieg.
Man müsse „jetzt
europäisch stärker werden, um auf Augenhöhe mit den USA das
westliche Bündnis insgesamt stärker zu machen“, so die
Verteidigungsministerin. Dabei dürfe man nicht bei „der Frage
stehenbleiben, ob wir eine ‚europäische Eingreiftruppe‘ wollen
oder nicht“. Die zentrale Frage für die Zukunft der Europäischen
Sicherheits- und Verteidigungspolitik sei, „wie wir unsere
militärischen Fähigkeiten in der EU endlich gemeinsam nutzen! Mit
welchen effektiven Entscheidungsprozessen, echten gemeinsamen Übungen
und gemeinsamen Missionen.“
Um die Kriegspläne umzusetzen,
könnten in der EU „Koalitionen von Willigen nach der gemeinsamen
Entscheidung aller vorangehen“. Auch müsse man prüfen, ob die
EU-Mitgliedsstaaten „regionale Verantwortungen für Sicherheit
festlegen, gemeinsam Spezialkräfte trainieren und wichtige
Fähigkeiten wie strategischen Lufttransport und Satellitenaufklärung
gemeinsam organisieren“. Deutschland sei „zu diesen Themen“
bereits „mit interessierten EU-Staaten im Gespräch“.
Arbeiter
und Jugendliche auf dem ganzen Kontinent müssen dies als Warnung
verstehen. Die herrschende Klasse in Deutschland arbeitet seit langem
fieberhaft daran, Europa unter ihrer Führung zu organisieren, um
sich nach zwei verlorenen Weltkriegen wieder zu einer
außenpolitischen und militärischen Großmacht aufzuschwingen.
Bereits nach der deutschen Wiedervereinigung und der Auflösung der
Sowjetunion durch die stalinistische Bürokratie vor 30 Jahren
plädierten führende Politiker und Militärs für eine stärkere
Rolle Deutschlands in Europa und der Welt.
Auf der Münchner
Sicherheitskonferenz 2014 verkündeten dann der damalige
Bundespräsident Joachim Gauck und sein sozialdemokratischer
Nachfolger Frank-Walter Steinmeier gemeinsam mit der aktuellen
Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen
(CDU), endgültig die Rückkehr des deutschen Militarismus. Es
folgten eine massive Aufrüstung der Bundeswehr, die Verlegung von
deutschen Kampftruppen an die russische Grenze und neue
Kriegseinsätze im Nahen und Mittleren Osten und in Afrika. Inmitten
der Corona-Pandemie schlachtet die herrschende Klasse nun das Debakel
in Afghanistan aus, um die begonnene Offensive voranzutreiben.
Die
Bundesregierung kann nur deshalb so aggressiv auftreten, weil ihr
Kurs auch von den nominell „linken“ Oppositionsparteien
unterstützt wird. Mehr als zwei Jahrzehnte, nachdem die Grünen den
ersten deutschen Kriegseinsatz seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs
im Kosovo mit auf den Weg gebracht haben, stehen sie an der Spitze
der deutsch-europäischen Kriegsoffensive.
Seit dem ersten
Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen
Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche
des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die
Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30
Jahre.
Im Wahlkampf kritisiert die grüne Kanzlerkandidatin
Annalena Baerbock die Große Koalition in Bezug auf eine
deutsch-europäische Großmachtpolitik durchgehend von rechts. Im
letzten Triell warf sie CDU/CSU und SPD vor, sich international
„wegzuducken“ und forderte eine „aktivere deutsche
Außenpolitik“.
Auch die Linkspartei steht mit beiden Beinen
im Lager des deutschen Imperialismus. Bei den Wahlen schielt sie auf
ein Regierungsbündnis mit den Hartz-IV- und Kriegsparteien SPD und
Grüne und hat längst klargestellt, dass sie als Teil einer
möglichen rot-rot-grünen Bundesregierung die Nato und deutsche
Auslandseinsätze befürworten würde.
Am 25. August
unterstützte die Linke den „Einsatz bewaffneter deutscher
Streitkräfte zur militärischen Evakuierung aus Afghanistan“.
Während sich die Mehrheit der Fraktion enthielt, stimmten fünf
Abgeordnete, darunter ihr sicherheitspolitischer Sprecher Matthias
Höhn, offen für den Einsatz.
Die Pläne der herrschenden
Klasse, die USA als führende Interventionsmacht zu ersetzen, haben
etwas Größenwahnsinniges. Doch sie müssen todernst genommen
werden. Letztlich befeuern die gleichen grundlegenden Widersprüche
des Kapitalismus, die hinter der Aggression des US-Imperialismus
stehen und nach dem Abzug aus Afghanistan immer direkter die Gefahr
eines Nuklearkriegs mit Russland und China heraufbeschwören, die
deutsch-europäische Kriegsoffensive.
Diese wiederum
verschärft die Konflikte zwischen den imperialistischen Mächten
selbst – auch innerhalb Europas.
Die einzige Möglichkeit,
einen vernichtenden dritten Weltkrieg zu verhindern, ist der Aufbau
einer Antikriegsbewegung der internationalen Arbeiterklasse. Die
objektiven Voraussetzungen dafür reifen schnell heran. In der
Perspektive zur letzten Rede von US-Präsident Joe Biden zum Debakel
in Afghanistan schreiben wir:
Der demütigende Rückzug aus
Afghanistan markiert nicht nur das Scheitern der US-Politik in diesem
Land, sondern das Scheitern einer ganzen Strategie und Weltanschauung
– des Programms der globalen Vorherrschaft und innenpolitischen
Reaktion, das seit 30 Jahren verfolgt wird. Angesichts der wachsenden
sozialen Ungleichheit und der mörderischen, profitorientierten
Corona-Politik der herrschenden Klasse weltweit trifft das Debakel in
Afghanistan mit einem Wiederaufleben des Klassenkampfs in den USA und
international zusammen und hat revolutionäre Implikationen.
Die
Sozialistische Gleichheitspartei (SGP) kämpft in der Bundestagswahl
dafür, die sich entwickelnden Kämpfe der Arbeiter – darunter die
wichtigen Streiks der Lokführer, Pfleger und Lieferbeschäftigten in
Deutschland – mit einer sozialistischen und internationalistischen
Perspektive zu bewaffnen, um die Kriegsentwicklung zu stoppen und
ihre Ursache – das kapitalistische Profitsystem – zu
beseitigen.
https://www.wsws.org/de/articles/2021/09/03/mili-s03.html
Kann es da noch eine Frage geben, wen man wählen sollte? Harry Popow
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