AUF TITANIC-KURS
Man stelle sich vor, man sei Passagier auf der Titanic. Auf Hoher See.
Auf Urlaubsfahrt. Auf Westkurs. Da heißt es, der Kapitän und der
Steuermann müssen ausgewechselt werden. Sie hätten das Schiff
ordnungsgemäß auf Westkurs gehalten, doch die demokratische Ordnung
verlange eine Neubesetzung. Soweit in Ordnung. Aber nur für die oberen
Herrschaften, für die Reeder.
Doch Passagiere auf dem untersten Deck protestieren. In ihrer
Uneinigkeit fragen sie sich, wer soll führen? Immer nur jene, die nach
Westen schielen und der Freiheitsstatue die Füsse küssen wollen? Wo doch
das Sternenbanner mit dem Militär-Industrie-Komplex in Afghanistan eine
enorme Niederlage erlitten hat und trotzdem weiterhin verstärkt über
andere Länder politisch, ökonomisch und militärisch herrschen will?
Die Spaltung im Unterdeck ist nicht totzukriegen: Da melden sich die
verschiedensten Stimmen: Es solle der Herr x sein, er liebe die grüne
Natur und die Tiere, er werde in Übersee eine Farm bauen und noch mehr
die im Aussterben befindlichen Bienen. Andere wollen nur ihren
häuslichen Frieden haben und vertrauen vor allem der SPD, die würde es
an der Seite der NATO schon noch richten. Weitere Michels im Unterdeck
schwören auf jene, die sich im Grützteich grün gefärbt haben und
bösartig das Lied des Krieges und der Aufrüstung gen Osten singen.
Die auf dem Oberdeck kümmert der Krawall auf dem Unterdeck keineswegs.
Sie haben die Michels mit gespaltenen Zungen voll im Griff. Dank der
langjährigen Hirnwäsche glauben jene, es gehe so weiter – ob unter der
Pandemie oder unter weiteren höheren „Herausforderungen“ im Interesse
eines starken Deutschlands in der EU. Mit flachgebürsteten Reden, die
deutliche Anzeichen von Phrasen haben, wollen sie alle Menschen
erreichen. Die einen versprechen soziale Verbesserungen, andere, dass
die Orang-Utans mehr unter Tierschutz zu stellen seien. Weitere wollen
mehr Freiheit für Andersgeschlechtliche, den Schutz auch der Wepen, mehr
Geld in Kliniken, niedrigere Mieten...
Über den Bordfunk ist zu hören: Kurz vor den Wahlen finden sich außer
Vertretern der etablierten Parteien auch ganz neue ein, von denen
niemals jemand etwas gehört, geschweige denn gelesen hat:
Ökologisch-Demokratische Partei, V-Partei³ (Partei für Veränderung,
Vegetarier und Veganer, DiB-(Demokratie in Bewegung), Tierschutzallianz
(Allianz für Menschenrechte, Tier- und Naturschutz), Die Humanisten
(Partei der Humanisten), Gartenpartei, (Die Urbane. Eine HipHop Partei),
Liebe (Europäische Partei Liebe), Volt (Volt Deutschland) u.a.
Doch die unterschiedlichen Standpunkte und Meinungen im Wahlkampf an
Bord der Titanic jucken den Einzelnen wenig, im Gegenteil, die
tiefgehende Spaltung zwischen dem Ober- und den unteren Decks auf dem
westlich Kurs haltenden Schiff lässt sie beruhigt schlafen: Die
etablierten Parteien haben heute zu allen wichtigen Themen die gleiche
Meinung. Es gibt kein Thema, bei dem sich deren Meinungen fundamental
unterscheiden.
Einige noch denkfähige Passagiere fragen sich: Wie sollen tausende
verschiedene Interessen unter einen Hut befördert werden? Friedensfragen
zum Beisiel, der einzigen Frage, die alle Wahlkampfleute zusammenführen
müsste.
Da träumen dennoch kampflustige Widerständler, die als Verschwörer und
Feinde der parlamentarischen Ordnung verschrien sind, von einer
richtigen Wende zu einem neuen Aufbruch – nicht mehr in Richtung nur
nach Westen, wo die Felsen im Wasser nur so auf die Titanic lauern. Sie
stellen sich die Frage, warum keine Partei – außer Die Linke Partei, die DKP oder die SGP - , energisch
Front macht gegen Aufrüstung und Kriegsvorbereitung und für den
Austritt aus der NATO, den grundlegenden Bedingungen für eine friedliche
Zukunft. Im Klartext: Unter diesen Klassenkampfbedingungen brauchst du
dich nicht wundern, dass sich die Titanic mit einem „WEITER SO“ nach wie
vor auf gefährlichem Kurs befindet.
Was bewirken also Wahlen? Das alles so bleibt? Dass das Bienensterben
weitergeht? Das das Klima uns nach wie vor zu schaffen macht? Dass die
Kranken für ihre Gesundheit enorm viel blechen müssen? Dass die
Mietwohnungen weiter unbezahlbar steigen werden? Dass die Arbeitslosen
weiter nur noch auf die Armenhilfe angewiesen sind?
Dass die Titanic dem Ruf des aus dem Meer ragenden großen Riffs nach
eines neuen innigen Zusammenstoßens unter Führung der willfärigen
Steuerleute unbedingt Folge leisten wird?
Wozu also einen neuen Steuermann wählen, wenn es alles beim Alten bleibt? Rummel, nichts als Rummel...
Oder ist noch Land zu gewinnen? Für die Michels im Unterdeck?
Harry Popow
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