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„Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden“ (Rosa Luxemburg)
Zum 150. Geburtstag einer großartigen
Revolutionärin. Dieser gerne und viel zitierte Satz stammt von Rosa
Luxemburg. Publiziert wurde er im Jahr 1918. Ein Jahr später wurde
sie ermordet, von Freicorps, die aus ihrem reaktionären bis
faschistischen Weltbild keinen Hehl gemacht hatten. Würde sie
dennoch an ihm festhalten? Was würde Rosa Luxemburg zu all dem
sagen, was heute in der Linken passiert, also nicht nur in der
Partei, sondern auch außerhalb von ihr? Von Wolf Wetzel.
„Die
Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden“, wird von
vielen zitiert und zu sehr verschiedenen Anlässen vorgetragen.
Leicht dahingesagt ist ein solcher Ausruf, wenn man selbst in der
Minderheit ist, die Macht gegen sich hat und jenen, die das
Meinungsmonopol innehaben, ein bisschen (mehr) Freiheit abringen
möchte.
In diesen Fällen appelliert man an den bürgerlichen
Staat und auch an sein Versprechen, die Rede- und Meinungsfreiheit
auch denen zu gewähren, die den bürgerlichen Staat ablehnen. In
diesen Fällen ist der Satz zwar immer noch richtig, aber nicht
wirklich eine Herausforderung, die Rosa Luxemburg damals zu einer
revolutionären Maxime erhoben hat. Denn die eigentliche Zumutung,
die in diesem Satz steckt, bezieht sich nicht auf die Anderen, die
einem das Wort verbieten, die unpassenden Meinungen zum Anlass
politischer Verfolgung nehmen.
Der berühmte Satz ist einer
Arbeit entnommen, die sich mit der russischen Revolution
auseinandersetzt, als diese 1918 gesiegt hatte und die einst
Verfolgten nun selbst Verfolger werden konnten, also nicht mehr um
Freiheit betteln oder ringen mussten, sondern sich in der
privilegierten Position befanden, sie (anderen) zu „gewähren“.
Rosa Luxemburg richtet also diesen Satz vor allem an die eigenen
Genoss*innen, die heftig darum stritten, wie es weitergeht, was die
Revolution voranbringt, was ihr schadet, was der nächste Schritt
sein muss, was in die Sackgasse führt.
„Freiheit nur für
die Anhänger der Regierung, nur für Mitglieder einer Partei –
mögen sie noch so zahlreich sein – ist keine Freiheit. Freiheit
ist immer Freiheit der Andersdenkenden. Nicht wegen des Fanatismus
der ‚Gerechtigkeit‘, sondern weil all das Belebende, Heilsame und
Reinigende der politischen Freiheit an diesem Wesen hängt und seine
Wirkung versagt, wenn die ‚Freiheit‘ zum Privilegium wird.“
(Rosa
Luxemburg: Zur russischen Revolution, in: dies.: Gesammelte Werke,
Bd. 4, Berlin 1974, S. 359)
Sie wollte damit einen Maßstab
setzen, für die Art und Weise, wie mit Widersprüchen,
gegensätzlichen Positionen in und außerhalb der (kommunistischen)
Partei umgegangen wird, umgegangen werden sollte. Ganz optimistisch
und großartig könnten man den Satz so verstehen: Lasst uns zusammen
diskutieren, lasst uns die Widersprüche aushalten, indem wir das
„andere“ verstehen lernen, nicht in Feindschaft, sondern in dem
Wissen, dass der „richtige“ Weg erst entsteht, wenn man die
anderen Wege abgelaufen hat. Und wenn wir uns dann für den
„richtigen“ Weg entscheiden, machen wir dies auf eine Art und
Weise, die berücksichtigt, dass der nicht eingeschlagene Weg
vielleicht doch der richtige gewesen sein könnte.
Das
schließt das Ringen um die „richtige“ Antwort nicht aus. Sie
berücksichtigt lediglich, dass sich das Richtige nicht im Leugnen
des anderen herauskristallisiert, sondern indem es sich an dem
anderen beweist. Dieses revolutionäre Selbstverständnis, diese
Selbstverpflichtung hat Rosi Wolfstein so ausformuliert:
„Durch
Fragen und immer erneutes Fragen und Forschen holte sie (Rosa
Luxemburg, d.V.) aus der Klasse heraus, was nur an Erkenntnis über
das, was es festzustellen galt, in ihr steckte. Durch Fragen
beklopfte sie die Antwort und ließ uns selbst hören, wo und wie es
hohl klang, durch Fragen tastete sie die Argumente ab und ließ uns
selbst sehen, ob sie schief oder gerade waren, durch Fragen zwang sie
über die Erkenntnis des eigenen Irrtums hin zum eigenen Finden einer
hieb- und stichfesten Lösung.“
(Rosi Wolfstein, 1920,
zitiert in: Jörn Schütrumpf (Hrsg.): Rosa Luxemburg oder: Der Preis
der Freiheit, 3., überarb. u. erg. Aufl., Berlin 2018, S. 102)
All
das kann man ehren, in Erinnerung rufen, zum politischen Vermächtnis
einer politischen Bewegung machen, die ihre Ideale nicht aufgibt,
wenn man (mit ihrer Hilfe) an die Macht gekommen ist, sondern zum
selbstverständlichen Bestandteil einer neuen Gesellschaftlichkeit
macht.
Aber was machen wir heute damit? Was würde Rosa
Luxemburg zu all dem sagen, was heute in der Linken passiert, also
nicht nur in der Partei, sondern auch außerhalb von ihr? Würde Rosa
Luxemburg auch 150 Jahre später mit der „Freiheit der
Andersdenkenden“ auch und gerade jene einschließen, die der Partei
nicht genehm sind oder auch eine Linke stören, die sich im
außerparlamentarischen Raum bewegt?
Rosa Luxemburg wäre
heute 150 Jahre alt. Das ist wahrlich ein Grund, an sie, an ihre
politischen Analysen, an ihre revolutionären Kämpfe zu erinnern.
Das tut, ziemlich naheliegend, die Rosa-Luxemburg-Stiftung, die man
der Partei DIE LINKE zuordnen kann, vor allem was ihre finanziellen
Grundlagen angeht. Auf deren Homepage findet man einen fein
aufmachten Rundgang durch Rosa Luxemburgs Leben und
Wirken.
Bedrückend wird diese Ehrung erst, wenn man
vergeblich nach einem Gegenwartsbezug sucht! Die Linke, nicht nur als
Partei, ist noch nie so schwach und bedeutungslos gewesen wie
derzeit. Das hat viele Gründe, aber eben auch solche, die gar nicht
in ihrer Hand liegen. Was sie jedoch ganz alleine zu verantworten
hat, ist die Zerstrittenheit, die Unfähigkeit, notwendige Konflikte
und Divergenzen offen und achtungsvoll auszutragen. Sprachlosigkeit
und ein immer größer werdendes Repertoire an Diffamierungen und
Denunziationen machen die Linke zu einem ziemlich unattraktiven,
gemeinen Ort, den man sich auf Dauer nicht antuen will.
Rosa
Luxemburg reloaded
Man stelle sich zum Genuss einmal vor,
Rosa Luxemburg wäre da, bei uns, und nähme sich die Zeit, die Linke
in Corona-Zeiten zu analysieren. Sie würde sich die Parlamentsarbeit
der LINKEN anschauen, sie würde die Querdenkerdemonstrationen
besuchen und würde sich bei denen umhören, die diesen vorwerfen,
„Hand in Hand“ mit Nazis zu laufen.
Was würde sie zur
Partei DIE LINKE sagen, die sich bei der Abstimmung über die
Suspendierung von Schutz- und Grundrechten 2020 enthalten hat? Würde
sie zur Debatte mit denen auffordern, die als Querdenker*innen
dagegen protestieren oder würde sie diese auch als „Covidioten“,
„Corona-Leugner“ und Nazi-Handlanger indiskutabel machen? Wäre
sie 150 Jahre später bereit, die Motive, Gedanken und Überlegungen
der Querdenker*innen als „all das Belebende, Heilsame und
Reinigende der politischen Freiheit“ zu begreifen?
Mit
ziemlich großer Sicherheit würde Rosa Luxemburg einiges bis vieles
aus den Reihen der Querdenker*innen nicht teilen. Das hatte sie mit
der „Freiheit der Andersdenkenden“ auch 1918 nicht so gemeint.
Ihr ging es darum, dass die Auseinandersetzung damit die Bedingung
dafür ist, dass das Heilsame und Reinigende eines solchen Prozesses
seine Wirkung entfalten kann.
Und noch etwas ist für das
revolutionäre Denken von Rosa Luxemburg bemerkenswert: Sie gesteht
sich und anderen auch zu, einen „Irrtum“, einen „Fehltritt“
zu begehen. Sie weiß, dass die Wahrheit, das Richtige weder einer
Partei noch seinen Kritiker*innen gehört. Sie hat diese selbst
begangen bzw. nicht verhindern können.
Solche Irrtümer oder
Fehltritte sind in ihrem Verständnis nicht das Ende einer
revolutionären Bewegung, sondern „fruchtbar“ – unter einer
Bedingung: Es gibt ein Bewusstsein über die Möglichkeit von
Irrtümern und die Notwendigkeit, Irrtümer auch sich selbst
gegenüber einzuräumen, ganz ohne irgendein Privilegium:
„Der
kühne Akrobat übersieht (…), daß das einzige Subjekt, dem jetzt
diese Rolle des Lenkers zugefallen, das Massen-Ich der Arbeiterklasse
ist, das sich partout darauf versteift, eigene Fehler machen und
selbst historische Dialektik lernen zu dürfen. Und schließlich
sagen wir doch unter uns offen heraus: Fehltritte, die eine wirklich
revolutionäre Arbeiterbewegung begeht, sind geschichtlich
unermeßlich fruchtbarer und wertvoller als die Unfehlbarkeit des
allerbesten ‚Zentralkomitees‘.“
(Rosa Luxemburg:
Organisationsfragen der russischen Sozialdemokratie, in: dies.:
Gesammelte Werke, Bd. 1/2, Berlin 1970, S. 444)
Es wäre doch
mehr als einen Versuch wert, dieses großartige Vermächtnis von Rosa
Luxemburg für heute fruchtbar zu machen, in unsere Zeit zu
übersetzen. So könnten wir Punkt für Punkt durchgehen, wo die
„Freiheit der Andersdenkenden“ das Maß der Dinge werden muss,
damit uns die Art und Weise, wie wir mit Streitereien und Differenzen
umgehen, attraktiv macht, anstatt das Fass zum Überlaufen zu
bringen.
Das würde Rosa Luxemburg – ohne wirklich in ihrem
Namen zu sprechen – sicherlich mehr gefallen, als sie in dieser
lang zurückliegenden Zeit ruhen zu lassen.
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