Entnommen: https://www.jungewelt.de/artikel/396190.chinas-wirtschaft-f%C3%BCr-den-wohlstand.html
CHINAS WIRTSCHAFT
Für den
Wohlstand
Vorabdruck. Wie hält China es mit
Markt- und Planwirtschaft? Zur hybriden Ökonomie in der
Volksrepublik
Von Uwe Behrens
Am 17.
Februar erscheint im Verlag Edition Ost das Buch »Feindbild China.
Was wir alles nicht über die Volksrepublik wissen« von Uwe Behrens.
Der Logistikexperte hat selbst jahrelang in China gearbeitet. Wir
veröffentlichen daraus vorab leicht gekürzt ein Kapitel über seine
Eindrücke und Einschätzungen zum Verhältnis von Plan- und
Marktwirtschaft in der Volksrepublik und der Eigentumsfrage. Wir
danken dem Verlag für die freundliche Genehmigung zum Abdruck.
(jW)
Als ausländischer Manager beobachtete ich mit
Neugier die Entwicklung der Organisations- und Eigentumsformen der
chinesischen Wirtschaft. Meine tägliche Arbeit brachte mich mit
unterschiedlichen Unternehmen in Berührung: staatliche und private
Firmen sowie Unternehmen aus Europa, den USA, aus Hongkong und
Taiwan. Während die Manager der staatlichen chinesischen Unternehmen
anfänglich meist nur gemeinsam auftraten, vorsichtig und mit Deckung
durch ihre Vorgesetzten handelten, entwickelten sich mit den Jahren
in privat geführten Gesellschaften und Joint Ventures richtige
Unternehmertypen: selbstbewusst, entschlussfreudig, souverän. Aber
auch die Manager etwa der staatlichen Eisenbahnverwaltungen, in den
Häfen und großer Exportunternehmen agierten zunehmend flexibler und
dynamischer.
Ich kam aus der DDR-Wirtschaft und verglich nun
meine theoretischen und praktischen Kenntnisse mit der sich in China
entwickelnden Wirtschaft. Schon in den späten fünfziger Jahren war
in der DDR das Verhältnis von Plan und Markt diskutiert worden.
Nicht wenige Ökonomen waren der Meinung, dass die Staatliche
Plankommission nicht zentral für die gesamte Volkswirtschaft alle
Parameter vorgeben sollte, wie das in der Sowjetunion geschah. Man
sollte es mit der Vorgabe von Hauptkennziffern bewenden und den
Betrieben Spielraum für eigenständiges Wirtschaften lassen. Diese
Überlegungen flossen in das Reformkonzept ein, das 1963 auf dem VI.
SED-Parteitag unter dem Titel »Neues Ökonomisches System der
Planung und Leitung« angenommen wurde. Es fußte auf der
Überzeugung, dass der Sozialismus kein Intermezzo zwischen
Kapitalismus und Kommunismus, sondern eine eigenständige und relativ
lange bestehende Gesellschaftsformation sein würde. In dieser Zeit
sollte sich nicht nur die sozialistische Ökonomie, sondern auch die
sozialistische Demokratie entfalten, also die überkommenen Merkmale
der kapitalistischen Ausbeutergesellschaft Schritt um Schritt
überwinden. Das aber fand nicht die Zustimmung der Führungsmacht
des Bündnisses, die ein Abweichen von ihrer Linie nicht akzeptierte.
Auch deshalb wurde 1964 Nikita Chruschtschow – der seinem Kollegen
Walter Ulbricht in Berlin für diese Reform freie Hand gegeben hatte
– durch Leonid Breshnew als Parteichef abgelöst. Die Reform wurde
in der DDR sukzessive zurückgenommen, die Ökonomen als
Revisionisten kaltgestellt, und 1971 musste auch ihr Initiator
Ulbricht gehen. Es begann im europäischen Realsozialismus die Phase
der Stagnation. Klassikerzitate flatterten weiterhin als Banner voran
(etwa: »Die Arbeitsproduktivität ist in letzter Instanz das
Allerwichtigste, das Ausschlaggebende für den Sieg der neuen
Gesellschaftsordnung« – W. I. Lenin), doch sie blieben Phrasen und
wurden kein politisch-ökonomisches Programm.
Dengs
Reformen
Anders die Chinesen. Sie schrieben sich die
Steigerung der Arbeitsproduktivität seit dem 3. Plenum im Dezember
1978 nicht nur auf die roten Fahnen, sondern machten sie zum
Programm. Mit den von Deng Xiaoping angeschobenen Reformen und der
Öffnung der chinesischen Gesellschaft begann ein rasanter
wirtschaftlicher Aufschwung, der binnen weniger Jahrzehnte China
nächst den USA zur stärksten Wirtschaftsmacht der Welt machte. Der
Ansatz war pragmatisch, nicht ideologisch. »Egal, wie die Katze
aussieht, schwarz oder weiß, Hauptsache, sie fängt Mäuse«,
erklärte Deng und verordnete dem Volk, tastend nach Steinen suchend
den Fluss zu durchqueren. Das bedeutete: raus aus den alten Gleisen,
neue Wege gehen, von anderen lernen, ausprobieren und verwerfen, wenn
es nicht funktioniert, und wiederum Neues versuchen.
Die
Reformen wurden zuerst in den Dörfern getestet. Die Landwirtschaft
war nach den Jahren des »Großen Sprungs« (1957–1962), der
»Kulturrevolution« (1966–1976) und den vielen Naturkatastrophen
besonders schwer gezeichnet. Trotz immenser Anstrengungen bei der
kollektiven Bewirtschaftung wurden die staatlichen Vorgaben nicht
erreicht, und die Einkommen der Landbevölkerung blieben oft unter
dem Existenzminimum. Die Bauern waren bisweilen so verzweifelt, dass
sie es wagten, gegen Gesetze und Vorgaben zu verstoßen und harte
Strafen in Kauf zu nehmen. Im Dorf Xiaogang nahe Nanjing in der
Provinz Anhui teilten die Bauern das kollektive Land unter den
Familien auf und bestellten es individuell.
Diese chinesischen
Bauernfamilien waren nunmehr ganz anders motiviert und vermochten es,
die Erträge um das Achtzehnfache zu steigern. Sie erfüllten die
staatlichen Abgaben, konnten sich selbst ausreichend ernähren und
obendrein auch auf dem freien Markt »freie Spitzen« verkaufen,
wovon nun auch andere profitierten. Das Beispiel machte Schule und
erreichte schließlich auch Beijing. Deng begrüßte dieses Modell
und empfahl es überall zur Anwendung. Unter drei Bedingungen.
Erstens: Grund und Boden bleiben Eigentum der Kommune. Zweitens:
Nutzungsrechte erhalten ausschließlich Familien. Drittens: Die
Gewinne werden erst nach Bedienung der staatlichen Abgaben
privatisiert. Es gibt aber keine Obergrenze.
Achtzig Prozent
der Chinesen lebten Ende der 1970er Jahre auf dem Lande und von der
Landwirtschaft, die auf diese Weise nun gleichsam privatisiert wurde.
Dadurch kam es zu einer enormen Steigerung der
Lebensmittelproduktion. Diese wiederum war verbunden mit der
Entstehung lokaler und regionaler Märkte, was zur Steigerung der
Produktivität führte, die Arbeitskräfte freisetzte und sie andere
Tätigkeiten ausüben ließ. Die Arbeitsteilung nahm zu. Erste
kommunale Produktionseinheiten entstanden in den Dörfern und
Kleinstädten. Sie gehörten den Gemeinden, stellten Produkte des
dörflichen Bedarfs her und vermarkteten die landwirtschaftlichen
Erzeugnisse, was zunehmend auch für die angrenzenden Städte von
Nutzen war. Die damit erzielten Erlöse verblieben in den Kommunen
und sorgten für deren Wohlfahrt.
Diese marktorientierten
öffentlichen Unternehmen unter der Aufsicht lokaler Regierungen, als
Township and Village Enterprises (TVE) bezeichnet, wurden im März
1984 offiziell eingeführt. Sie wurden in den achtziger Jahren zum
dynamischsten Teil der chinesischen Wirtschaft. 1985 gab es in ganz
China bereits 12,5 Millionen TVE. Die Zahl der dort Beschäftigten
stieg von 28 Millionen im Jahr 1978 auf einen Höchststand von 135
Millionen im Jahr 1996. Der Wert der Produktion wuchs von 49
Milliarden Yuan im Jahr 1978 auf 1,8 Billionen im Jahr 1992.
Nicht
nur die Lücken im staatlichen Angebot, die auf diese Weise gefüllt
wurden, trugen zum wirtschaftlichen Erfolg der TVE bei, sondern auch
die Kredite des staatlichen Bankensystems. Später nahm die
Konkurrenz untereinander zu, der Wettbewerb setzte ein, schließlich
floss auch ausländisches Kapital in diesen Bereich der Wirtschaft,
so dass sich ab Mitte der neunziger Jahre tiefgreifende Veränderungen
vollzogen. Das alles lief jedoch vernünftig ab, nicht schockartig.
Viele der freigesetzten Arbeitskräfte wanderten in die entstehenden
Sonderwirtschaftszonen in den Küstenregionen. Es begann die Phase
der Arbeitsmigration.
Das Management der TVE befand sich
ursprünglich kollektiv in der Hand der Dorfbewohner, zusehends
gewannen die gewählten oder eingesetzten Manager dort die Oberhand.
Die weitere Privatisierung setzte sich im Zusammenhang mit der
Dezentralisierung der staatlichen Administration durch. Diese
Entwicklung führte zu ungerechtfertigten Privilegien, verbunden mit
wachsender Korruption. Die Führung unter Jiang Zemin – Deng war
1997 verstorben – versuchte, die ungesunde Entwicklung dadurch zu
stoppen, dass rund dreißig Prozent der TVE gezielt in den Bankrott
geführt, also liquidiert wurden. Andere Unternehmen wurden in
staatliches Eigentum überführt und mussten sich nun gegenüber der
privaten Wirtschaft behaupten.
Die Entwicklung hatte trotz der
negativen Begleiterscheinungen bewiesen, dass kollektive Unternehmen,
also gesellschaftliches Eigentum an den Produktionsmitteln, zur
Entwicklung des Binnenmarktes und damit zum entstehenden Wohlstand
maßgeblich beitrugen. Nach meinem Verständnis hatte sich hier etwas
vollkommen Neues herausgebildet.
In all den Jahren konnte ich
in den westlichen Medien lesen, dass sich dieses Modell nicht
durchsetzen werde. Es passte nicht in das Raster der traditionellen
bürgerlichen Ökonomie. Der damals prophezeite Zusammenbruch
erfolgte jedoch nicht. 2017 wurden vom chinesischen Nationalen
Statistischen Büro 27 Millionen private Firmen angegeben. Die
privaten Unternehmen erbrachten 60 Prozent des Bruttoinlandsproduktes
(BIP), 65 Prozent der angemeldeten Patente, 75 Prozent der
technischen Innovationen und 80 Prozent der neuen
Produktentwicklungen. Dieser Bereich stellte 80 Prozent der
städtischen Arbeitsplätze und 90 Prozent der neu geschaffenen Jobs.
Der Anteil des ausländischen Kapitals an diesen Privatunternehmen
nahm tendenziell ab.
Fünf Eigentumsformen
Gegenwärtig finden wir in China fünf Formen von
Eigentum an Produktionsmitteln. Es gibt staatliches und kollektives
Eigentum – dieses findet sich vor allem in der Landwirtschaft und
in den Kommunen. Ferner existiert privates chinesisches Eigentum und
privates ausländisches Eigentum. Und schließlich die Form der Joint
Ventures, in denen chinesisches und Kapital aus dem Ausland gebunden
sind. Was ich persönlich für erheblich halte, ist die Tatsache,
dass in jeder Phase der Reform bis zum heutigen Tage spezielle
pragmatische Methoden der Leitung auf lokaler, regionaler und
staatlicher Ebene gefunden worden sind.
In den ersten Jahren,
etwa bis 1990, boten die großen staatlichen Unternehmen – etwa in
der Schwerindustrie – die »Eiserne Reisschüssel« zur
Grundversorgung der Bevölkerung. Da diese Unternehmen nicht
profitabel waren, wurden sie reformiert oder in öffentliche, an der
Börse geführte Gesellschaften umgewandelt – teils geschrumpft
oder mit anderen Firmen fusioniert in der Absicht, Gewinn zu
erwirtschaften. Bemerkenswert dabei war, dass kein staatseigener
Betrieb (State Owned Enterprise, SOE) in ein privates Unternehmen
umgewandelt wurde. Heute gibt es nur noch rund hundert große SOE,
die der Staatlichen Kommission für Vermögensaufsicht und
-verwaltung des Staatsrates unterstehen (State-owned Assets
Supervision and Administration Commission of the State Council,
SASAC, vergleichbar einem Ministerium). Von den durch die SASAC
verwalteten Unternehmen sind 83 auf der Liste der 500 weltgrößten
Unternehmen genannt. Sie sind fast ausschließlich in Sektoren der
Grundversorgung der Gesellschaft tätig: Infrastruktur,
Telekommunikation, Energieversorgung, Finanz- und Versicherungswesen,
Gesundheitswesen und Pharmazie.
Die Reform der
Staatsunternehmen war ein wesentlicher Schritt nicht nur zur
Transformation der chinesischen Volkswirtschaft – sie sorgte auch
für das entscheidende Wachstum. Sie führte zu einem Schub bei der
Steigerung der Produktivität – nicht zuletzt durch eine
Verbesserung des Managements. Die Leitungen der Unternehmen konnten
weitgehend selbständig operieren, es gab kaum Eingriffe von außen.
Der Staat hielt sich von operativen Entscheidungen fern, seine
einzige Funktion bestand in der Verwaltung des investierten
Staatskapitals in den strategisch wichtigen Sektoren.
Infolge
der nach 2013 begonnenen Reformen wurden private Kapitalbeteiligungen
an staatlichen Unternehmen, Börsengänge, Veräußerungen von
ineffektiven Einheiten sowie Transfusionen und die Umsetzung strenger
Auflagen beim Umweltschutz gesteuert. In Verbindung mit den Maßnahmen
gegen die Korruption wurden auch einheitliche Richtlinien für die
Besetzung von Führungsposten festgelegt. Vor allem achtete man auf
die Auswahl unabhängiger und moralisch unangreifbarer Direktoren.
Diese Richtlinien sollten und sollen eine Verselbständigung und
Herausbildung von »Seilschaften« im Management verhindern, kurz: Es
wird damit der Bildung einer »staatskapitalistischen Oberschicht«
entgegengewirkt.
Chinesische Ökonomen vertreten die
Auffassung, dass die Aufgabe der staatlichen Unternehmen nicht in
erster Linie darin bestehe, maximale Profite zu erwirtschaften. Sie
besteht vielmehr darin, die ökonomische wie politische Stabilität
des Staates zu sichern, indem sie die Grundversorgung der
Gesellschaft garantieren. Deshalb betrachten sie diese Unternehmen
als Rückgrat der sozialistischen Wirtschaft. Der Unterschied dieses
Herangehens im Vergleich zur neoliberalen oder privatkapitalistischen
Politik etwa in Deutschland wird offensichtlich, wenn man
beispielsweise die Versorgung des Landes mit modernen
Telekommunikationsnetzen (G4 oder G5) betrachtet. In China bestehen
selbst in den entlegensten Regionen Kommunikationsmöglichkeiten per
Telefon und Internet. Ob man sich in der Mitte der Wüste Taklamakan
oder in der Wüste Gobi befindet oder hoch im Gebirge in der Provinz
Sichuan – egal, man hat Internetzugang und kann ihn zur täglichen
Kommunikation nutzen. Die Relaisstationen werden nicht nach
wirtschaftlichen Gesichtspunkten, sondern zur flächendeckenden
Versorgung und Sicherheit der Bevölkerung errichtet. Das erlaubt es
selbst Kleinunternehmern in abgelegenen Dörfern, zu produzieren und
mit ihren Erzeugnissen zu handeln. In Deutschland haben noch immer
fünf Prozent aller Unternehmen keinen Internetzugang.
Das
gleiche Motiv bestimmt den Straßenbau in China. Vom Autobahnnetz
ausgehend wird das Straßennetz zur Erschließung des ländlichen
Raumes erweitert. Selbst in den kleinsten Siedlungen im Gebirge gibt
es elektrischen Strom. Zur Sicherung dieser Infrastruktur sind
unprofitable Investitionen erforderlich, die unter Umständen die
handelnden Unternehmen in die Verlustzone führen. In solchen Fällen
tilgt der Staat die Schulden und deckt die Verluste etwa durch
Subventionen.
Das Wirtschaftsjournal Fortune veröffentlicht
in jedem Jahr eine Liste der 500 umsatzstärksten Unternehmen der
Welt. 2020 waren dort erstmals mehr chinesische (124) als
US-amerikanische (121) Gesellschaften aufgeführt. In all den
chinesischen Unternehmen von einer bestimmten Größe an aufwärts
sind Parteigremien integriert, die neben der Durchsetzung der
staatlichen Vorgaben auch als Arbeitervertretung fungieren und auf
die Einhaltung des Arbeitsrechts achten. Staats- und Parteichef Xi
Jinping besuchte im Oktober 2020 Shenzhen und wiederholte dort die
Forderung, dass die KPCh die Führung auf allen Ebenen in der
privaten Wirtschaft beibehalten solle, um die Politik und die
Direktiven der Partei umzusetzen.
Welches
System?
Dennoch ist die Frage zu diskutieren, welches
Wirtschaftssystem in der Volksrepublik dominiert, wie lässt es sich
bezeichnen? Ist es noch Sozialismus oder schon Kapitalismus? Oder ist
der »Sozialismus chinesischer Prägung« ein Hybrid? Wie ich den
Reflexionen westlicher Medien entnehmen konnte, sprechen viele
Ökonomen und Politiker vom Wiederentstehen des Kapitalismus in
China, wobei wohl mehr der Wunsch der Vater ihres Urteils ist. Sie
hegen ganz offenkundig die Hoffnung, dass sich nach dem Prinzip
»Wandel durch Handel« letztlich das kapitalistische
Wirtschaftsmodell auch in China durchsetzen werde.
Die
Bedeutung der Privatunternehmen (POE) und ihrer Eigentümer wird nach
meiner Überzeugung überbewertet. Die staatliche Kontrolle des
Marktes orientiert sich an der Frage, wem der Markt dienen soll: dem
Profit oder der Erhöhung des Wohlstandes? Wer kontrolliert den
Markt: das Kapital/der Profit oder die Politik? China hat sich dafür
entschieden, dass die Politik den Markt im Interesse der Erhöhung
des Wohlstandes kontrolliert. Diese Politik führte zwangsläufig zu
Verwerfungen, damit auch zu sozialen Spannungen, die nach den
praktischen Prinzipien von Versuch und Irrtum gelöst und korrigiert
wurden. Erweist sich etwas als falsch oder unwirksam, wird ein neuer
Versuch gestartet. Von Staatskapitalismus oder Staatsmonopolismus
sprechen diejenigen Ökonomen und Politiker, die ebenfalls vom
alleinigen Gewinner Kapitalismus in der Geschichte ausgehen und dem
chinesischen allenfalls eine Sonderform zugestehen, nämlich einen
Kapitalismus, der von einer Schicht (oder Klasse) staatlicher Kader
kontrolliert wird, die sich verselbständigt habe.
Die
chinesische Wirtschaft ist meines Erachtens nicht
staatskapitalistisch, da die staatlichen Wirtschaftskader nicht nach
kapitalistischem Motiv, nämlich dem der Profitmaximierung, handeln,
sondern – entsprechend den staatlichen Vorgaben – im Interesse
aller handeln müssen. Das gilt um so mehr seit der intensiven
Kampagne gegen die Korruption, die insbesondere auf Kader der SOE
zielte. Man kann also nicht von einer sich verselbständigenden
Schicht oder Klasse der Wirtschaftskader sprechen. Andere Ökonomen
gebrauchen den Begriff »Staatssozialismus«. Dabei wird ebenfalls
die Rolle der POE überbewertet, aber angenommen, dass die
Planwirtschaft dominiere – nicht der Markt. Andere wiederum
sprechen von einer sozialistischen, gar kommunistischen zentral
geleiteten Planwirtschaft.
Aufgrund meiner Erfahrungen auf dem
chinesischen Markt, nach meinen unzähligen Geschäftsgesprächen und
-kontakten mit Wirtschaftsleuten aus Unternehmen in allen in China
existierenden Eigentumsformen kann ich sagen: Die chinesische
Wirtschaft ist weder eine kapitalistische noch eine sozialistische,
wie wir sie praktiziert haben. Sie ist eine sozialistische mit
chinesischem Charakter, ein Hybrid. Dass sie »nichtkapitalistisch«
ist, steht in der Verfassung. Sie schließt Privateigentum an Grund
und Boden aus. In Artikel 6 heißt es: »Die Grundlage des
sozialistischen Wirtschaftssystems der Volksrepublik China ist das
sozialistische Gemeineigentum an den Produktionsmitteln, das heißt
das Volkseigentum und das Kollektiveigentum der werktätigen Massen.
Mit dem sozialistischen Gemeineigentum wird das System der Ausbeutung
von Menschen durch Menschen abgeschafft, und es wird das Prinzip
›Jeder nach seiner Fähigkeit, jedem nach seiner Arbeitsleistung‹
praktiziert. Im Anfangsstadium des Sozialismus hält das Land an
einem grundlegenden Wirtschaftssystem fest, in dem das Gemeineigentum
dominiert, sich aber verschiedene Eigentumsformen nebeneinander
entwickeln, und es hält an einem Verteilungssystem fest, in dem die
Verteilung nach Arbeitsleistung dominiert, aber verschiedene
Verteilungsmethoden nebeneinander existieren.« Und in Artikel 7 der
chinesischen Verfassung steht: »Die staatseigene Wirtschaft ist die
sozialistische Wirtschaft unter Volkseigentum; sie ist die
dominierende Kraft in der Volkswirtschaft. Der Staat gewährleistet
die Konsolidierung und Entwicklung der staatlichen Wirtschaft.« 2004
wurden bei der Verfassungsreform in Artikel 13 der Schutz des
privaten Eigentums und der Vermögensrechte aufgenommen.
In
der chinesischen Wirtschaft herrscht das Wertgesetz mit all seinen
Erscheinungsformen von Angebot und Nachfrage sowie Kosten- und
Preisbildung, welche aber durch staatliche Eingriffe eingehegt
werden. Hier kommen die langfristigen Strategien, die
Fünfjahrespläne, von den Ministerien für die Industriezweige
umgesetzt, zum Tragen. Diese werden mit entsprechenden Verordnungen
und Regeln, mit Steuern und anderen monetären Stimuli durchgesetzt.
Die einzelnen Unternehmen, ob POE oder SOE, bewegen sich frei auf dem
Markt – der Staat hält sich dort heraus. Insofern kann man vom
Markt nicht mehr als vom alleinigen Regulator sprechen, sondern mehr
von einer normativen Feststellung als Grundlage zur
Einflussnahme.
Ausgleich der Konflikte
Der Ausgleich der Konflikte, die der Staat zwischen
staatlicher Wirtschaftssteuerung bei gleichzeitiger Förderung der
privatkapitalistischen Akkumulation vornimmt, erfolgt im Interesse
der Erhöhung des Wohlstandes der gesamten Gesellschaft. Die
marktwirtschaftliche Entwicklung ist darauf ausgerichtet, die
Nachfrage bedienende Erzeugung eines Angebotes zur Befriedigung der
Lebensbedürfnisse der breiten Mehrheit der Bevölkerung zu
gewährleisten. Der erzeugte Mehrwert wird – ebenfalls im Interesse
der Befriedigung der Bedürfnisse der breiten Mehrheit der
Bevölkerung – gesellschaftlich umverteilt. Das erfolgt durch die
Steuergesetzgebung, durch die Stützung der SOE im Bereich der
Daseinsvorsorge als auch durch das staatliche Sozial-, Gesundheits-
und Rentensystem.
Auf dem XV. Parteitag der KPCh 1997 wurde
ausdrücklich die Verteilung des gesellschaftlichen Mehrprodukts nach
Arbeitsleistung und Kapitalverwertung bestätigt. Zehn Jahre später,
auf dem XVII. Parteitag, wurde das heute geltende System initiiert:
die Primärverteilung auf dem Markt und die Sekundärverteilung in
Form der Sicherung der Daseinsvorsorge als öffentliche
Dienstleistungen, Sozialversicherungen und als Steuertransfers. Das
Mehrprodukt, der Gewinn der staatlichen Unternehmen, wird direkt, und
der Gewinn der Privatwirtschaft mehr und mehr über das staatliche
Besteuerungssystem zur Erhöhung des Wohlstandes eingesetzt.
Offensichtlicher Beweis dafür ist die Überwindung der Armut.
Konkret konnte ich solche Veränderungen an den Preisen im
öffentlichen Nahverkehr bemerken. Trotz erheblicher
Kostensteigerungen wurden die Tarife nicht oder nur minimal erhöht.
Die Telekommunikationsgebühren und damit verbundene Leistungen
werden ebenfalls subventioniert. Die Kranken- und die
Rentenversicherung wurde für alle registrierten Einwohner
verpflichtend eingeführt.
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