Freitag, 12. Februar 2021

CHINAS WIRTSCHAFT - Uwe Behrens, junge Welt

 

Entnommen: https://www.jungewelt.de/artikel/396190.chinas-wirtschaft-f%C3%BCr-den-wohlstand.html


CHINAS WIRTSCHAFT


Für den Wohlstand


Vorabdruck. Wie hält China es mit Markt- und Planwirtschaft? Zur hybriden Ökonomie in der Volksrepublik


Von Uwe Behrens


Am 17. Februar erscheint im Verlag Edition Ost das Buch »Feindbild China. Was wir alles nicht über die Volksrepublik wissen« von Uwe Behrens. Der Logistikexperte hat selbst jahrelang in China gearbeitet. Wir veröffentlichen daraus vorab leicht gekürzt ein Kapitel über seine Eindrücke und Einschätzungen zum Verhältnis von Plan- und Marktwirtschaft in der Volksrepublik und der Eigentumsfrage. Wir danken dem Verlag für die freundliche Genehmigung zum Abdruck. (jW)

Als ausländischer Manager beobachtete ich mit Neugier die Entwicklung der Organisations- und Eigentumsformen der chinesischen Wirtschaft. Meine tägliche Arbeit brachte mich mit unterschiedlichen Unternehmen in Berührung: staatliche und private Firmen sowie Unternehmen aus Europa, den USA, aus Hongkong und Taiwan. Während die Manager der staatlichen chinesischen Unternehmen anfänglich meist nur gemeinsam auftraten, vorsichtig und mit Deckung durch ihre Vorgesetzten handelten, entwickelten sich mit den Jahren in privat geführten Gesellschaften und Joint Ventures richtige Unternehmertypen: selbstbewusst, entschlussfreudig, souverän. Aber auch die Manager etwa der staatlichen Eisenbahnverwaltungen, in den Häfen und großer Exportunternehmen agierten zunehmend flexibler und dynamischer.

Ich kam aus der DDR-Wirtschaft und verglich nun meine theoretischen und praktischen Kenntnisse mit der sich in China entwickelnden Wirtschaft. Schon in den späten fünfziger Jahren war in der DDR das Verhältnis von Plan und Markt diskutiert worden. Nicht wenige Ökonomen waren der Meinung, dass die Staatliche Plankommission nicht zentral für die gesamte Volkswirtschaft alle Parameter vorgeben sollte, wie das in der Sowjetunion geschah. Man sollte es mit der Vorgabe von Hauptkennziffern bewenden und den Betrieben Spielraum für eigenständiges Wirtschaften lassen. Diese Überlegungen flossen in das Reformkonzept ein, das 1963 auf dem VI. SED-Parteitag unter dem Titel »Neues Ökonomisches System der Planung und Leitung« angenommen wurde. Es fußte auf der Überzeugung, dass der Sozialismus kein Intermezzo zwischen Kapitalismus und Kommunismus, sondern eine eigenständige und relativ lange bestehende Gesellschaftsformation sein würde. In dieser Zeit sollte sich nicht nur die sozialistische Ökonomie, sondern auch die sozialistische Demokratie entfalten, also die überkommenen Merkmale der kapitalistischen Ausbeutergesellschaft Schritt um Schritt überwinden. Das aber fand nicht die Zustimmung der Führungsmacht des Bündnisses, die ein Abweichen von ihrer Linie nicht akzeptierte. Auch deshalb wurde 1964 Nikita Chruschtschow – der seinem Kollegen Walter Ulbricht in Berlin für diese Reform freie Hand gegeben hatte – durch Leonid Breshnew als Parteichef abgelöst. Die Reform wurde in der DDR sukzessive zurückgenommen, die Ökonomen als Revisionisten kaltgestellt, und 1971 musste auch ihr Initiator Ulbricht gehen. Es begann im europäischen Realsozialismus die Phase der Stagnation. Klassikerzitate flatterten weiterhin als Banner voran (etwa: »Die Arbeitsproduktivität ist in letzter Instanz das Allerwichtigste, das Ausschlaggebende für den Sieg der neuen Gesellschaftsordnung« – W. I. Lenin), doch sie blieben Phrasen und wurden kein politisch-ökonomisches Programm.

Dengs Reformen


Anders die Chinesen. Sie schrieben sich die Steigerung der Arbeitsproduktivität seit dem 3. Plenum im Dezember 1978 nicht nur auf die roten Fahnen, sondern machten sie zum Programm. Mit den von Deng Xiaoping angeschobenen Reformen und der Öffnung der chinesischen Gesellschaft begann ein rasanter wirtschaftlicher Aufschwung, der binnen weniger Jahrzehnte China nächst den USA zur stärksten Wirtschaftsmacht der Welt machte. Der Ansatz war pragmatisch, nicht ideologisch. »Egal, wie die Katze aussieht, schwarz oder weiß, Hauptsache, sie fängt Mäuse«, erklärte Deng und verordnete dem Volk, tastend nach Steinen suchend den Fluss zu durchqueren. Das bedeutete: raus aus den alten Gleisen, neue Wege gehen, von anderen lernen, ausprobieren und verwerfen, wenn es nicht funktioniert, und wiederum Neues versuchen.

Die Reformen wurden zuerst in den Dörfern getestet. Die Landwirtschaft war nach den Jahren des »Großen Sprungs« (1957–1962), der »Kulturrevolution« (1966–1976) und den vielen Naturkatastrophen besonders schwer gezeichnet. Trotz immenser Anstrengungen bei der kollektiven Bewirtschaftung wurden die staatlichen Vorgaben nicht erreicht, und die Einkommen der Landbevölkerung blieben oft unter dem Existenzminimum. Die Bauern waren bisweilen so verzweifelt, dass sie es wagten, gegen Gesetze und Vorgaben zu verstoßen und harte Strafen in Kauf zu nehmen. Im Dorf Xiaogang nahe Nanjing in der Provinz Anhui teilten die Bauern das kollektive Land unter den Familien auf und bestellten es individuell.

Diese chinesischen Bauernfamilien waren nunmehr ganz anders motiviert und vermochten es, die Erträge um das Achtzehnfache zu steigern. Sie erfüllten die staatlichen Abgaben, konnten sich selbst ausreichend ernähren und obendrein auch auf dem freien Markt »freie Spitzen« verkaufen, wovon nun auch andere profitierten. Das Beispiel machte Schule und erreichte schließlich auch Beijing. Deng begrüßte dieses Modell und empfahl es überall zur Anwendung. Unter drei Bedingungen. Erstens: Grund und Boden bleiben Eigentum der Kommune. Zweitens: Nutzungsrechte erhalten ausschließlich Familien. Drittens: Die Gewinne werden erst nach Bedienung der staatlichen Abgaben privatisiert. Es gibt aber keine Obergrenze.

Achtzig Prozent der Chinesen lebten Ende der 1970er Jahre auf dem Lande und von der Landwirtschaft, die auf diese Weise nun gleichsam privatisiert wurde. Dadurch kam es zu einer enormen Steigerung der Lebensmittelproduktion. Diese wiederum war verbunden mit der Entstehung lokaler und regionaler Märkte, was zur Steigerung der Produktivität führte, die Arbeitskräfte freisetzte und sie andere Tätigkeiten ausüben ließ. Die Arbeitsteilung nahm zu. Erste kommunale Produktionseinheiten entstanden in den Dörfern und Kleinstädten. Sie gehörten den Gemeinden, stellten Produkte des dörflichen Bedarfs her und vermarkteten die landwirtschaftlichen Erzeugnisse, was zunehmend auch für die angrenzenden Städte von Nutzen war. Die damit erzielten Erlöse verblieben in den Kommunen und sorgten für deren Wohlfahrt.

Diese marktorientierten öffentlichen Unternehmen unter der Aufsicht lokaler Regierungen, als Township and Village Enterprises (TVE) bezeichnet, wurden im März 1984 offiziell eingeführt. Sie wurden in den achtziger Jahren zum dynamischsten Teil der chinesischen Wirtschaft. 1985 gab es in ganz China bereits 12,5 Millionen TVE. Die Zahl der dort Beschäftigten stieg von 28 Millionen im Jahr 1978 auf einen Höchststand von 135 Millionen im Jahr 1996. Der Wert der Produktion wuchs von 49 Milliarden Yuan im Jahr 1978 auf 1,8 Billionen im Jahr 1992.

Nicht nur die Lücken im staatlichen Angebot, die auf diese Weise gefüllt wurden, trugen zum wirtschaftlichen Erfolg der TVE bei, sondern auch die Kredite des staatlichen Bankensystems. Später nahm die Konkurrenz untereinander zu, der Wettbewerb setzte ein, schließlich floss auch ausländisches Kapital in diesen Bereich der Wirtschaft, so dass sich ab Mitte der neunziger Jahre tiefgreifende Veränderungen vollzogen. Das alles lief jedoch vernünftig ab, nicht schockartig. Viele der freigesetzten Arbeitskräfte wanderten in die entstehenden Sonderwirtschaftszonen in den Küstenregionen. Es begann die Phase der Arbeitsmigration.

Das Management der TVE befand sich ursprünglich kollektiv in der Hand der Dorfbewohner, zusehends gewannen die gewählten oder eingesetzten Manager dort die Oberhand. Die weitere Privatisierung setzte sich im Zusammenhang mit der Dezentralisierung der staatlichen Administration durch. Diese Entwicklung führte zu ungerechtfertigten Privilegien, verbunden mit wachsender Korruption. Die Führung unter Jiang Zemin – Deng war 1997 verstorben – versuchte, die ungesunde Entwicklung dadurch zu stoppen, dass rund dreißig Prozent der TVE gezielt in den Bankrott geführt, also liquidiert wurden. Andere Unternehmen wurden in staatliches Eigentum überführt und mussten sich nun gegenüber der privaten Wirtschaft behaupten.

Die Entwicklung hatte trotz der negativen Begleiterscheinungen bewiesen, dass kollektive Unternehmen, also gesellschaftliches Eigentum an den Produktionsmitteln, zur Entwicklung des Binnenmarktes und damit zum entstehenden Wohlstand maßgeblich beitrugen. Nach meinem Verständnis hatte sich hier etwas vollkommen Neues herausgebildet.

In all den Jahren konnte ich in den westlichen Medien lesen, dass sich dieses Modell nicht durchsetzen werde. Es passte nicht in das Raster der traditionellen bürgerlichen Ökonomie. Der damals prophezeite Zusammenbruch erfolgte jedoch nicht. 2017 wurden vom chinesischen Nationalen Statistischen Büro 27 Millionen private Firmen angegeben. Die privaten Unternehmen erbrachten 60 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP), 65 Prozent der angemeldeten Patente, 75 Prozent der technischen Innovationen und 80 Prozent der neuen Produktentwicklungen. Dieser Bereich stellte 80 Prozent der städtischen Arbeitsplätze und 90 Prozent der neu geschaffenen Jobs. Der Anteil des ausländischen Kapitals an diesen Privatunternehmen nahm tendenziell ab.

Fünf Eigentumsformen


Gegenwärtig finden wir in China fünf Formen von Eigentum an Produktionsmitteln. Es gibt staatliches und kollektives Eigentum – dieses findet sich vor allem in der Landwirtschaft und in den Kommunen. Ferner existiert privates chinesisches Eigentum und privates ausländisches Eigentum. Und schließlich die Form der Joint Ventures, in denen chinesisches und Kapital aus dem Ausland gebunden sind. Was ich persönlich für erheblich halte, ist die Tatsache, dass in jeder Phase der Reform bis zum heutigen Tage spezielle pragmatische Methoden der Leitung auf lokaler, regionaler und staatlicher Ebene gefunden worden sind.

In den ersten Jahren, etwa bis 1990, boten die großen staatlichen Unternehmen – etwa in der Schwerindustrie – die »Eiserne Reisschüssel« zur Grundversorgung der Bevölkerung. Da diese Unternehmen nicht profitabel waren, wurden sie reformiert oder in öffentliche, an der Börse geführte Gesellschaften umgewandelt – teils geschrumpft oder mit anderen Firmen fusioniert in der Absicht, Gewinn zu erwirtschaften. Bemerkenswert dabei war, dass kein staatseigener Betrieb (State Owned Enterprise, SOE) in ein privates Unternehmen umgewandelt wurde. Heute gibt es nur noch rund hundert große SOE, die der Staatlichen Kommission für Vermögensaufsicht und -verwaltung des Staatsrates unterstehen (State-owned Assets Supervision and Administration Commission of the State Council, SASAC, vergleichbar einem Ministerium). Von den durch die SASAC verwalteten Unternehmen sind 83 auf der Liste der 500 weltgrößten Unternehmen genannt. Sie sind fast ausschließlich in Sektoren der Grundversorgung der Gesellschaft tätig: Infrastruktur, Telekommunikation, Energieversorgung, Finanz- und Versicherungswesen, Gesundheitswesen und Pharmazie.

Die Reform der Staatsunternehmen war ein wesentlicher Schritt nicht nur zur Transformation der chinesischen Volkswirtschaft – sie sorgte auch für das entscheidende Wachstum. Sie führte zu einem Schub bei der Steigerung der Produktivität – nicht zuletzt durch eine Verbesserung des Managements. Die Leitungen der Unternehmen konnten weitgehend selbständig operieren, es gab kaum Eingriffe von außen. Der Staat hielt sich von operativen Entscheidungen fern, seine einzige Funktion bestand in der Verwaltung des investierten Staatskapitals in den strategisch wichtigen Sektoren.

Infolge der nach 2013 begonnenen Reformen wurden private Kapitalbeteiligungen an staatlichen Unternehmen, Börsengänge, Veräußerungen von ineffektiven Einheiten sowie Transfusionen und die Umsetzung strenger Auflagen beim Umweltschutz gesteuert. In Verbindung mit den Maßnahmen gegen die Korruption wurden auch einheitliche Richtlinien für die Besetzung von Führungsposten festgelegt. Vor allem achtete man auf die Auswahl unabhängiger und moralisch unangreifbarer Direktoren. Diese Richtlinien sollten und sollen eine Verselbständigung und Herausbildung von »Seilschaften« im Management verhindern, kurz: Es wird damit der Bildung einer »staatskapitalistischen Oberschicht« entgegengewirkt.

Chinesische Ökonomen vertreten die Auffassung, dass die Aufgabe der staatlichen Unternehmen nicht in erster Linie darin bestehe, maximale Profite zu erwirtschaften. Sie besteht vielmehr darin, die ökonomische wie politische Stabilität des Staates zu sichern, indem sie die Grundversorgung der Gesellschaft garantieren. Deshalb betrachten sie diese Unternehmen als Rückgrat der sozialistischen Wirtschaft. Der Unterschied dieses Herangehens im Vergleich zur neoliberalen oder privatkapitalistischen Politik etwa in Deutschland wird offensichtlich, wenn man beispielsweise die Versorgung des Landes mit modernen Telekommunikationsnetzen (G4 oder G5) betrachtet. In China bestehen selbst in den entlegensten Regionen Kommunikationsmöglichkeiten per Telefon und Internet. Ob man sich in der Mitte der Wüste Taklamakan oder in der Wüste Gobi befindet oder hoch im Gebirge in der Provinz Sichuan – egal, man hat Internetzugang und kann ihn zur täglichen Kommunikation nutzen. Die Relaisstationen werden nicht nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten, sondern zur flächendeckenden Versorgung und Sicherheit der Bevölkerung errichtet. Das erlaubt es selbst Kleinunternehmern in abgelegenen Dörfern, zu produzieren und mit ihren Erzeugnissen zu handeln. In Deutschland haben noch immer fünf Prozent aller Unternehmen keinen Internetzugang.

Das gleiche Motiv bestimmt den Straßenbau in China. Vom Autobahnnetz ausgehend wird das Straßennetz zur Erschließung des ländlichen Raumes erweitert. Selbst in den kleinsten Siedlungen im Gebirge gibt es elektrischen Strom. Zur Sicherung dieser Infrastruktur sind unprofitable Investitionen erforderlich, die unter Umständen die handelnden Unternehmen in die Verlustzone führen. In solchen Fällen tilgt der Staat die Schulden und deckt die Verluste etwa durch Subventionen.

Das Wirtschaftsjournal Fortune veröffentlicht in jedem Jahr eine Liste der 500 umsatzstärksten Unternehmen der Welt. 2020 waren dort erstmals mehr chinesische (124) als US-amerikanische (121) Gesellschaften aufgeführt. In all den chinesischen Unternehmen von einer bestimmten Größe an aufwärts sind Parteigremien integriert, die neben der Durchsetzung der staatlichen Vorgaben auch als Arbeitervertretung fungieren und auf die Einhaltung des Arbeitsrechts achten. Staats- und Parteichef Xi Jinping besuchte im Oktober 2020 Shenzhen und wiederholte dort die Forderung, dass die KPCh die Führung auf allen Ebenen in der privaten Wirtschaft beibehalten solle, um die Politik und die Direktiven der Partei umzusetzen.

Welches System?


Dennoch ist die Frage zu diskutieren, welches Wirtschaftssystem in der Volksrepublik dominiert, wie lässt es sich bezeichnen? Ist es noch Sozialismus oder schon Kapitalismus? Oder ist der »Sozialismus chinesischer Prägung« ein Hybrid? Wie ich den Reflexionen westlicher Medien entnehmen konnte, sprechen viele Ökonomen und Politiker vom Wiederentstehen des Kapitalismus in China, wobei wohl mehr der Wunsch der Vater ihres Urteils ist. Sie hegen ganz offenkundig die Hoffnung, dass sich nach dem Prinzip »Wandel durch Handel« letztlich das kapitalistische Wirtschaftsmodell auch in China durchsetzen werde.

Die Bedeutung der Privatunternehmen (POE) und ihrer Eigentümer wird nach meiner Überzeugung überbewertet. Die staatliche Kontrolle des Marktes orientiert sich an der Frage, wem der Markt dienen soll: dem Profit oder der Erhöhung des Wohlstandes? Wer kontrolliert den Markt: das Kapital/der Profit oder die Politik? China hat sich dafür entschieden, dass die Politik den Markt im Interesse der Erhöhung des Wohlstandes kontrolliert. Diese Politik führte zwangsläufig zu Verwerfungen, damit auch zu sozialen Spannungen, die nach den praktischen Prinzipien von Versuch und Irrtum gelöst und korrigiert wurden. Erweist sich etwas als falsch oder unwirksam, wird ein neuer Versuch gestartet. Von Staatskapitalismus oder Staatsmonopolismus sprechen diejenigen Ökonomen und Politiker, die ebenfalls vom alleinigen Gewinner Kapitalismus in der Geschichte ausgehen und dem chinesischen allenfalls eine Sonderform zugestehen, nämlich einen Kapitalismus, der von einer Schicht (oder Klasse) staatlicher Kader kontrolliert wird, die sich verselbständigt habe.

Die chinesische Wirtschaft ist meines Erachtens nicht staatskapitalistisch, da die staatlichen Wirtschaftskader nicht nach kapitalistischem Motiv, nämlich dem der Profitmaximierung, handeln, sondern – entsprechend den staatlichen Vorgaben – im Interesse aller handeln müssen. Das gilt um so mehr seit der intensiven Kampagne gegen die Korruption, die insbesondere auf Kader der SOE zielte. Man kann also nicht von einer sich verselbständigenden Schicht oder Klasse der Wirtschaftskader sprechen. Andere Ökonomen gebrauchen den Begriff »Staatssozialismus«. Dabei wird ebenfalls die Rolle der POE überbewertet, aber angenommen, dass die Planwirtschaft dominiere – nicht der Markt. Andere wiederum sprechen von einer sozialistischen, gar kommunistischen zentral geleiteten Planwirtschaft.

Aufgrund meiner Erfahrungen auf dem chinesischen Markt, nach meinen unzähligen Geschäftsgesprächen und -kontakten mit Wirtschaftsleuten aus Unternehmen in allen in China existierenden Eigentumsformen kann ich sagen: Die chinesische Wirtschaft ist weder eine kapitalistische noch eine sozialistische, wie wir sie praktiziert haben. Sie ist eine sozialistische mit chinesischem Charakter, ein Hybrid. Dass sie »nichtkapitalistisch« ist, steht in der Verfassung. Sie schließt Privateigentum an Grund und Boden aus. In Artikel 6 heißt es: »Die Grundlage des sozialistischen Wirtschaftssystems der Volksrepublik China ist das sozialistische Gemeineigentum an den Produktionsmitteln, das heißt das Volkseigentum und das Kollektiveigentum der werktätigen Massen. Mit dem sozialistischen Gemeineigentum wird das System der Ausbeutung von Menschen durch Menschen abgeschafft, und es wird das Prinzip ›Jeder nach seiner Fähigkeit, jedem nach seiner Arbeitsleistung‹ praktiziert. Im Anfangsstadium des Sozialismus hält das Land an einem grundlegenden Wirtschaftssystem fest, in dem das Gemeineigentum dominiert, sich aber verschiedene Eigentumsformen nebeneinander entwickeln, und es hält an einem Verteilungssystem fest, in dem die Verteilung nach Arbeitsleistung dominiert, aber verschiedene Verteilungsmethoden nebeneinander existieren.« Und in Artikel 7 der chinesischen Verfassung steht: »Die staatseigene Wirtschaft ist die sozialistische Wirtschaft unter Volkseigentum; sie ist die dominierende Kraft in der Volkswirtschaft. Der Staat gewährleistet die Konsolidierung und Entwicklung der staatlichen Wirtschaft.« 2004 wurden bei der Verfassungsreform in Artikel 13 der Schutz des privaten Eigentums und der Vermögensrechte aufgenommen.

In der chinesischen Wirtschaft herrscht das Wertgesetz mit all seinen Erscheinungsformen von Angebot und Nachfrage sowie Kosten- und Preisbildung, welche aber durch staatliche Eingriffe eingehegt werden. Hier kommen die langfristigen Strategien, die Fünfjahrespläne, von den Ministerien für die Industriezweige umgesetzt, zum Tragen. Diese werden mit entsprechenden Verordnungen und Regeln, mit Steuern und anderen monetären Stimuli durchgesetzt. Die einzelnen Unternehmen, ob POE oder SOE, bewegen sich frei auf dem Markt – der Staat hält sich dort heraus. Insofern kann man vom Markt nicht mehr als vom alleinigen Regulator sprechen, sondern mehr von einer normativen Feststellung als Grundlage zur Einflussnahme.

Ausgleich der Konflikte


Der Ausgleich der Konflikte, die der Staat zwischen staatlicher Wirtschaftssteuerung bei gleichzeitiger Förderung der privatkapitalistischen Akkumulation vornimmt, erfolgt im Interesse der Erhöhung des Wohlstandes der gesamten Gesellschaft. Die marktwirtschaftliche Entwicklung ist darauf ausgerichtet, die Nachfrage bedienende Erzeugung eines Angebotes zur Befriedigung der Lebensbedürfnisse der breiten Mehrheit der Bevölkerung zu gewährleisten. Der erzeugte Mehrwert wird – ebenfalls im Interesse der Befriedigung der Bedürfnisse der breiten Mehrheit der Bevölkerung – gesellschaftlich umverteilt. Das erfolgt durch die Steuergesetzgebung, durch die Stützung der SOE im Bereich der Daseinsvorsorge als auch durch das staatliche Sozial-, Gesundheits- und Rentensystem.

Auf dem XV. Parteitag der KPCh 1997 wurde ausdrücklich die Verteilung des gesellschaftlichen Mehrprodukts nach Arbeitsleistung und Kapitalverwertung bestätigt. Zehn Jahre später, auf dem XVII. Parteitag, wurde das heute geltende System initiiert: die Primärverteilung auf dem Markt und die Sekundärverteilung in Form der Sicherung der Daseinsvorsorge als öffentliche Dienstleistungen, Sozialversicherungen und als Steuertransfers. Das Mehrprodukt, der Gewinn der staatlichen Unternehmen, wird direkt, und der Gewinn der Privatwirtschaft mehr und mehr über das staatliche Besteuerungssystem zur Erhöhung des Wohlstandes eingesetzt. Offensichtlicher Beweis dafür ist die Überwindung der Armut. Konkret konnte ich solche Veränderungen an den Preisen im öffentlichen Nahverkehr bemerken. Trotz erheblicher Kostensteigerungen wurden die Tarife nicht oder nur minimal erhöht. Die Telekommunikationsgebühren und damit verbundene Leistungen werden ebenfalls subventioniert. Die Kranken- und die Rentenversicherung wurde für alle registrierten Einwohner verpflichtend eingeführt.


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