SOLDATEN
FÜR DEN FRIEDEN (Teil zwei)
Leseprobe aus „AUSBRUCH AUS DER STILLE. Persönliche Lebensbilder“ anlässlich des 63.
Jahrestages der Gründung der Nationalen Volksarmee am 1. März 1956
und des 70. Jahrestages der Gründung der DDR am 07. Oktober 1949
Der
Autor wurde 1936 in Berlin-Tegel geboren, wuchs in der DDR auf,
arbeitete als Militärjournalist im Dienstgrad Oberstleutnant in der
NVA und betätigt sich heute als Blogger, Buchrezensent und Autor. Er
ist seit 1961 sehr glücklich verheiratet.
Weiße Armbinden
Donnerwetter,
so ein Glück, sagen Mama und Papa, als sie ihr Mietwohnhaus in
Berlin–Schöneberg unzerstört wiedersehen. Hier hat die Familie
vor der Evakuierung gewohnt. Aber deren Wohnung in der dritten Etage
links ist inzwischen besetzt, die Ziebers dürfen in die zweite Etage
rechts. Aber noch heulen herzzerreißend und furchterregend die
Sirenen. Nacht für Nacht, manchmal auch tagsüber. Sie müssen im
Keller bleiben. Provisorisch sind Bettgestelle aufgebaut, manchmal
liegen nur Matratzen da. Brot auf Zuteilung, gleich für mehrere
Tage. Wenn irgendwo Bomben heulend und krachend in Häuser schlagen
und die Erde bebt, dröhnt und stöhnt, dann bleibt das Herz stehen
vor Angst. Jede Sekunde kann es auch das eigene Miethaus erwischen,
jede Minute ... Papa muss nun doch noch an die Front, zum Volkssturm,
wie er sagt. Nach drei Tagen ist er wieder da. Dort, wo er sich
melden sollte, seien schon die Russen. Wie froh die Kinder sind ...
Henry hört, wie er Mama von Menschen berichtet, die an Laternen
aufgehängt wurden, an ihnen ein Schild mit der Aufschrift: Ich bin
ein Verräter. Es ist alles so schrecklich und gruselig. Eines Nachts
nimmt Papa seinen Größten mit aufs Dach des Hauses. Der Ängstliche
sieht die langen bläulich-weißen Strahlen der Scheinwerfer, die den
Himmel nach Flugzeugen abtasten. Dann schrillen wieder die Sirenen.
Henry schaut tapfer und zitternd. Papa lässt ihn wieder frei und
Mama schimpft unten im Keller.
Nach
vielen, vielen Tagen stehen an der Kellertür Soldaten, später
erfährt Henry, es waren Mongolen. Sie wollen irgendetwas. Man holt
Mama, sie sei doch Russin. Die Soldaten wollen nur etwas Tee, doch
zuvor muss sie einen Schluck nehmen. Das ist selbstverständlich,
sagt Mama, sie müssen vorsichtig sein, sind natürlich mißtrauisch.
Es muß der neunte Mai gewesen sein, Henry streift sich nach dem
Aufstehen soeben lange Strümpfe über, da sagt seine Mutter ganz
leise, als würde sie es noch nicht glauben, den folgenschweren Satz:
„Ab heute ist Frieden.“ Sie drückt ihren Ältesten und hat
Tränen in den Augen ...
Elektrischen
Strom gibt es vorläufig nicht. Papa stellt ein Fahrrad in den Flur
und auf den Kopf, drückt den Dynamo an die Reifen, legt Leitungen in
die Küche und in die Wohnstube, und Henry darf die Pedalen
schwingen. Die Lämpchen glimmen auf. Die Kinder sind stolz auf Papas
Erfindungsgeist. Und froh und neugierig machen Henry, Sophia und Axel
die Erzählungen von Mama über ihr Russland: über die Datsche ihrer
Tante, über die Blumen, über Tanten, über deren Kuchen, über das
viele Spielzeug von Mama, das man auf einem Foto sehen kann. Ihre
Heimat darf den Kindern nun näher kommen, sie wird so vertraut
werden, dass die Kinder sich wünschen, bald nach Moskau zu ziehen,
so träumen sie von einer glücklichen Zukunft, die ihnen die
warmherzigen Worte ihrer Mutter eingibt. Das gräbt sich in Henrys
Bewusstsein so fest ein, dass er in der Schule die Sowjetunion als
„schon immer gut“ verteidigen wird gegen die Behauptung, sie
hätte erst einmal eine Revolution machen müssen, bevor sie ganz
prima wurde.
Bei
Ziebells herrscht kurz darauf trotz der Freude über den Frieden
schmerzliche Trauer. Berno, der zweijährige Bruder, hat
Lungenentzündung, und, er schafft es nicht. Unser Bruder! Mama ist
kraftlos auf den Fußboden gesunken im Hausflur und schluchzt und
schluchzt herzzerreißend, die Kinder zittern und heulen. Damit nicht
genug: Arnold, der jüngste, hat Keuchhusten. Er wird an den Beinen
nach oben gehalten, wird mit Fett (Margarine oder?) eingerieben. Wie
durch ein Wunder – er wird gerettet. Langsam erobern die Kinder der
Ziebells wieder die Straße. Aber vor die Haustüre treten darf nur,
wer eine weiße Armbinde trägt. Henry hat keine, will aber wissen,
wie weit er sich hinauswagen darf. Also schneidet er sich zwei
Streifen weißes Papier zurecht, befestigt sie an beiden Oberarmen.
Tür auf und mal sehen, was da passiert. Er dreht seine Arme aber
nach hinten. Auf der anderen Straßenseite hockt in einer Hausruine
ein Soldat. Henry sieht den Lauf einer Waffe, der sich nach oben
bewegt, direkt auf Henry. Der kriegt Schiss. Da streckt er seine zwei
Arme mit den Binden vor. Der Lauf senkt sich wieder. Der Junge holt
tief Luft, er ist fast stolz auf seine Mutprobe und daß er die
geforderten Binden vorzeigen konnte. Mit paar Freunden zieht er zur
nächsten Straßenecke. Dort war mal eine Panzersperre. Die sollte
den „Feind“ aufhalten. Doch die Kinder sehen nur einen
zerschossenen und niedergewalzten Trümmerhaufen. Knorke, wie die
Russen das gemacht haben, bestätigen sie sich gegenseitig. In den
Ruinen stinkt es. Brandgeruch. An einer Pumpe holen sich die Leute
Wasser. Ein russisches Pferdefuhrwerk hält, Soldaten verteilen
Schwarzbrot. „Chleb“ heißt das Brot, sagt die Mutter. Sie ist
so stolz auf ihre Landsleute, auf ihr großes Land. Und wieder muß
sie davon berichten, von blühenden Bäumen im Garten ihrer Tante bei
Moskau, von einem Bild voller Schönheit, wo das Edle und Gute zu
Hause sind. Die Kinder glauben fest an ihre Erzählungen, besonders
der Henry, der ewige Träumer. Und so setzt sich fest in seinem
Inneren ein Bedürfnis nach Harmonie, nach Menschlichkeit,
Schutzschild und Richtschnur für Visionen zugleich …
Zum
Inhalt
Ausgangssituation
ist Schweden und das Haus, in dem die Popows wohnen. Der Leser
erfährt zunächst, wer die Eltern waren (seine Mutter stammt aus
Moskau), berichtet kurz vom Evakuierungsort 1943/44 in Pommern, von
der Rückkehr in das noch unter Bombenhagel liegende Berlin
(Schöneberg), von den Eindrücken nach Kriegsende und vom Einleben
in der neuen Gesellschaft, dabei auch von einer Begegnung der Jungen
Pioniere mit Wilhelm Pieck.
Die Lehrzeit
wird skizziert mit der Arbeit im Zwickauer Steinkohlenrevier, mit
Tätigkeiten in der Geologischen Kommission der DDR und mit dem
Besuch der Offiziersschule der KVP/NVA in Erfurt und in Plauen, wo er
seine spätere Frau kennenlernte.
Wie lebt ein
junger Offizier in der Einöde im Nordosten der DDR, welche Gedanken
und Gefühle bewegen ihn? Darum geht es in den nächsten
Aufzeichnungen seiner Impressionen. Seine Träume führen ihn
mitunter weg vom Kasernenalltag und so nimmt er die Gelegenheit wahr,
für fünf Monate im Walz- und Stahlwerk Eisenhüttenstadt als
einfacher Arbeiter tätig zu sein.
Durch
Versetzungen gelangt er nach Potsdam. Dabei kommen Querelen des
Alltags als Ausbilder und später als Politoffizier nicht zu kurz.
Ein Glücksfall für ihn, als er nach Neubrandenburg in einen höheren
Stab als Redakteur berufen wird. Er beginnt ein Fernstudium als
Diplomjournalist an der Karl-Marx-Universität in Leipzig. Inzwischen
ist er längst glücklich verheiratet. Die Höhen und Tiefen eines
Militärjournalisten – die zwingen ihn, vieles neu zu überdenken.
Vor allem als einstiger Ausbilder gelingt es ihm, die Probleme der
Soldaten immer besser zu verstehen und sie bildhaft zu schildern.
Die spätere
Arbeit als Abteilungsleiter in der Wochenzeitung „Volksarmee“
macht ihm nicht nur Spaß, er nimmt auch Stellung gegen
Ungereimtheiten, was ihm nach der Entlassung aus dem aktiven
Armeedienst und der Tätigkeit als Journalist im Fernsehen der DDR
nicht nur böse Blicke einbringt. So fährt er im September 1989
seiner Tochter nach Ungarn hinterher, um herauszukriegen, weshalb sie
mit ihrem Partner abgehauen ist; er gibt ihr dabei das Versprechen,
sie in keiner Weise als Tochter zu verurteilen. Nach seiner Rückkehr
wird er mit einer Parteistrafe gerügt, die Wochen später angesichts
der vermeintlichen Verstöße und Fehler durch die Politik nicht mehr
relevant scheinen und wieder gestrichen wird. Auf Unverständnis
stößt er auch bei seinen Mitarbeitern, als er nach der Teilnahme an
der Dokumentarfilmwoche1988/89 in Leipzig angeblich nicht die
erwarteten Schlußfolgerungen zieht.
Nach der
Wende: Versuche, arbeitsmäßig Fuß zu fassen, u.a in Gran Canaria
und in einer Steuerfirma. Die Suche nach Alternativen, günstiger zu
wohnen, sowie die Sehnsucht nach Ruhe führt das Ehepaar nach
Schweden.
Episoden aus dem
Dorfleben und von vielen Begegnungen, so z.B. bei der
Geburtstagsfeier einer siebzigjährigen Schwedin, machen den Alltag
und die feierlichen Momente in der „Stille“ nacherlebbar. Keine
der in der DDR erlebten Widersprüche und politischen
Unterlassungssünden wirft den überzeugten Humanisten aus der Bahn,
wogegen die Kapitaldiktatur mit ihren hörigen Medien, politische
Manipulationen und Lügen im angeblich so demokratischen Deutschland
ihn aufbringen – er bleibt ein Suchender!
Harry Popow: AUSBRUCH AUS DER STILLE. Persönliche Lebensbilder in
Umbruchzeiten. © Copyright by Harry Popow, Verlag: epubli, Druck: epubli
– ein Service der neopubli GmbH, Berlin, Erscheinungsdatum 18.02.2019,
ISBN: 9783748512981, Seiten: 500, Preis: 26,99 Euro
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