„Geist über Materie.
Die erstaunliche Wissenschaft, wie das Gehirn die materielle Realität
erschafft“ - Dawson Church
AUSBRUCH
AUS
DER TRANCE
Eine
satirische Buchbetrachtung von Harry Popow
„Denk ich an Deutschland
in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht“. Heinrich Heine
wirkt fort. Aber auch in den Tagträumen eines Menschen wie dem Max,
eines Ewiggestrigen, wie man ihn und andere gleicher Gesinnung nach
Abbruch eines friedlichen Lebens im Osten Deutschlands hämisch
grinsend zu nennen pflegt. Schuld daran ist ein Buch mit dem Titel
„Geist über Materie“ von einem Dawson Church. Max, den Titel
kritisch lesend, nahm die Lektüre nur mit spitzen Fingern in die
Hand. Aber nicht ohne eine gewisse Neugier. Des abends dann verfiel
er dem Lesen. Immer mit der Frage im Kopf, wie wohl der Geist über
alles und jedes bestimmen sollte. Oder hat sich hier ein moderner
Schamane in die Spur der Verklärung der menschlichen Hirne begeben?
Dann passierte es: Nach
mühevollem und nahezu nächtelangem Lesen nahm seine Müdigkeit zu.
Er versank in eine unendliche Stille. In sich gekehrt, begann er zu
meditieren. Nur so für sich. Das macht ja jeder. Ob beim Malen oder
beim Lesen oder beim Schreiben. Aber mit Tiefsinn. Nicht so wie bei
Anne Will in der oberflächlichen Plauderrunde. Diesmal aber geriet
er unbewusst in Trance. Und dann schwebten Bilder auf ihn zu, die ihn
„um den Schlaf“ brachten und ihn bis in die Träume verfolgten.
Er sah sich mit dem Autor
in ein Duell verwickelt. Nicht mit Schusswaffen, Gott bewahre,
sondern nur mit Worten. Ein Duell mitten in einem stillen Park. Max,
der Materialist, hatte sein Gegenpart, offensichtlich ein Idealist,
herausgefordert. Schließlich geht es um Bodenständigkeit des
ersteren und um die aufrührerische Verbreitung des Glaubens, der
Geist beherrsche das menschliche Hirn und sei imstande, die Materie
zu verändern. Einem Geist, der alles lenkt und schafft. Die
Grundfrage der Philosophie, dass das Sein das Bewusstsein bestimmt,
sei überholt in der heutigen Zeit der unübersichtlichen politischen
und sozialen Unstimmigkeiten in dieser Welt. Anders gesagt: Es ging
um den Abbruch von Überzeugungen und stattdessen um die Flucht aus
der Wirklichkeit, was herrschenden Eliten natürlich sehr zu Pass
kommt.
Der „wissenschaftliche“
Dämon
Max und Moritz sitzen
gemeinsam auf einer Parkbank. Max will dem anderen nichts antun,
sondern nur zur Rede stellen, will herausfinden, wie dieser die Welt
sieht und verändern will. Moritz ahnt es. Er geht sogleich in
Angriffsposition. Er bringt den Max mit „wissenschaftlich“
bewiesenen Aussagen mühelos ins Schleudern und damit, wie er glaubt,
ins Reich des ewigen Glücks und der Freude.
Auf unendlich langen
Seiten quält Moritz, also der Autor, mit Unterstützung unzähliger
Wissenschaftler und Freunde – vor allem aus dem medizinischen und
psychologischem Bereich – unkundige Leser mit Fachausdrücken, die
niemand – woher auch – verstehen kann.
Und schon duckt sich Max
ab, denn auch ihm prallen diese an den Kopf: Von Epigenik, Kymatik,
„Strings“ (Energie) ist da die Rede. Auch von Epiphänomen,
Synapsen oder auch Enzymekatalysieren und transzendenten Erfahrungen
wird philosophiert. Die Verbindung des menschlichen Hirns mit der
Welt sollen Gehirnwellen bewerkstelligen die da heißen: Delta,
Theta, Alpha und Gamme. Der Autor empfiehlt eine kostenlose
EcoMeditation, dies sei ein Rezept für ideale Gehirnwellen.
Max hebt die Hände. Er
ist einer Ohnmacht nahe. „Genug“, ruft er seinem neben ihm
sitzenden Duellanten
zu. „Mag ja alles
perfekt sein, was sie mir anbieten und zumuten, aber wer soll das
außer den Ärzten und Medizinern denn verstehen? Sie spielen ihre
Tricks aus, diese Fachausdrücke sollen doch nur ihre sicherlich noch
verborgenen politischen Absichten verbergen, nicht wahr?“
Unbeirrt fährt Moritz
fort. Diesmal kann er mit Fallbeispielen aufwarten. Etwas beruhigt
schaut Max seinen Nebenmann leicht erbost an. Innerlich ist er
gespannt, aber auch darauf gefasst, neue Ungeheuerlichkeiten an den
Kopf gedonnert zu bekommen.
Beispielloses
Mit
einem hämischen Grinsen offeriert Moritz nunmehr dem angeblich
Ewiggestrigen eine ganze Palette von tatsächlichen Begebenheiten und
Erlebnissen einzelner Personen, die wie durch Zauberhand eine
wundervolle Heilung ihres Leidens erfahren hätten.
Seite 86/87:
Eine Frau litt an Gebärmutterkrebs. Sie sollte operiert werden, was
sie aber ablehnte. Sie ernährte sich gesund, meditierte täglich,
las inspirierende Bücher, ging viel spazieren, trennte sich von
nicht so nahen Menschen. Neun Monate später: Keine Spur mehr von
Krebs. „In diesem Umfeld voller positiver Heilenergie und vom
Bewusstsein angeleitet und gelenkt, wandelte sich die Materie von
Adelines Körper. Ihre Zellen reagierten, und ihr Körper begann das
funktionsgestörte Krebsgewebe zu beseitigen. Anhand von Energie
heilte sie ihren materiellen, stofflichen Körper; sie kehrte nie
mehr zu ihren alten Gewohnheiten zurück.“ Seite
139: Ein
bösartiger Gehirntumor bei einem Mann. Eine lebensbedrohliche
Operation steht bevor. Der Mann meditiert. Er sieht außerirdische
Wesen. „Eines davon fasste mit der Hand in Josès Schädel und
suchte eine Weile darin herum.“ Einen Tag später – nach einer
neuen Aufnahme - war der Tumor „spurlos“ verschwunden. Seite
182: Jemand
erlitt eine tödliche Muskeldegeneration, eine seltene Störung
namens „Mitochondriale Einschlusskörpermyositis“. Da
praktizierte Dawson mit diesem Jemand in „einem Live-Call ein paar
Minuten lang Tapping“. Dieser Jemand nahm an einem
Zertifizierungskurs bei Dawson teil. Mit Erfolg. Das Bild des
gesunden Körpers wurde in das „vereinheitlichte Bewusstseinsfelf“
projiziert. Dann tanzte dieser Jemand wieder. Seite
276:
Studien besagen: Die Anzahl an Aids-Viren im Blut steigt bei jenen
Probanden dreimal so schnell, die „an einen strafenden Gott“
glauben als bei den Patienten, die „an einen gütigen Gott“
glauben.
„Hör
auf!“, schreit Max seinem Gesprächspartner empört zu. „Kann ja
alles der Wahrheit entsprechen, schließlich gibt es tausende
ähnlicher Erlebnisse von Menschen. Aber diese sollten nicht
missbraucht werden für die Manipulierung der Menschen, sie mögen
nur glauben und meditieren, dann würde alles besser werden. Auch
kann man noch so viele Beispiele aus allen Lebensbereichen anführen,
sie beweisen gar nichts, wenn sie nicht in einen größeren
Zusammenhang gerückt, wissenschaftlich untersetzt werden“. Moritz
winkt ab und legt erneut seine mentale Abwehr- und Angriffswaffe an.
Diesmal mit Sätzen, die wie Kanonenschläge jeden vernünftigen
Menschen entweder das Blut gerinnen lassen oder zum Lachkrampf
reizen.
Max
nickt zunächst. Meditation, spirituelle Suche, das Besinnen auf das
eigene Ich ist in der Menschheitsgeschichte tief verankert, darf aber
nicht zur Askese, zum Rückzug aus jeglicher Verantwortung führen.
Meditation, so alt sie ist, heute betreiben sie so viele Menschen in
der zerrütteten Welt. Mögen sie zu sich finden. Mögen sie glauben.
Aber es kommt doch auch darauf an, den eigenen Horizont zu erweitern.
Kohärent sein, wie es oft im Buch heißt. Zusammenhänge erkennen.
Nicht die Flucht aus der Wirklichkeit soll das Ziel des Meditierens
sein, sondern die Zuwendung zu anderen Menschen, zu den Problemen ,
die sie bewegen. Nicht das ICH, sondern das WIR steht im Mittelpunkt.
Max ist tolerant und ist achtsam gegenüber seinen Mitmenschen. In
diesem Fall stimmt er dem Autor, seinem Duellanten
innerlich
zu. Er fordert ihn auf, weiter mit ihm im Wortgefecht zu bleiben. Was
hat er weiter zu sagen? Kommt er noch auf den gewissen Punkt und auf
den Beweis, dass der Geist die Materie bewegt?
Glaubenssätze
Doch der Autor Moritz
streut immerfort seine Erkenntnisse als Wahrheiten zwischen die
Zeilen, was den Duellanten Max schmunzeln und seine Haare sträuben
lässt. Seite 20: „Wir
richten unseren individuellen Geist auf das Bewusstsein des
universellen nichtlokalen Geistes aus, und die Schönheit der
materiellen Wirklichkeit, die wir kreieren, übertrifft alles, was
unser begrenzter lokaler Geist sich jemals träumen lassen könnte.“
Seiten 31/33: Der
Geist erzeugt buchstäblich das Gehirn. Meditation verändert die
Gehirnstruktur. Seite 38:
Aus Geist wird Materie. Seiten 52/53:
Das Bewusstsein sei fähig, „Materie von Grund auf zu verändern –
durch Intention und Energiefelder“. Der Geist einer einzigen Person
könne manchmal „eine ganze Gesellschaft auf der Ebene der Materie
verändern“. Seite 80:
Felder können Materie erzeugen „und anhand von Kraftlinien Materie
in Atome, Moleküle und Zellen anordnen“. Seite
108: Materie sei ein Phänomen der Energie,
das hätten empirische Daten ergeben. Seite
270: Die Rolle des Bewusstseins „bei der
Erschaffung dieser Welt“. Seite 298:
Das Universum „ist Bewusstsein, das beständig aus Geist Materie
erschafft (Hoss, 2016)“. Man solle sich „auf das nichtlokale
Bewusstsein des Universums einstimmen...“ So bringe man den lokalen
Geist in Kohärenz mit dem nichtlokalen Geist. So denke man nicht
mehr in Schubladen, man erkenne Möglichkeiten, „die Welt zu
verändern“. Seite 302:
Das Kultivieren eines kohärenten lokalen Geistes beginnt mit dem
Ausrichten unseres Bewusstseins auf die Felder der Liebe und
Kreaktivität des nichtlokalen Geistes.“ Deshalb sei es so
effektiv, „morgens, solange sich das Gehirn in einem Alpha-Zustand
befindet und Beta noch nicht wirkt, als Erstes zu meditieren“.
Seite 369: „Indem
wir als spirituelle Wesen mit materiellen Körpern leben und unser
Bewusstsein tagtäglich entsprechend ausrichten, kreieren wir mit
unserem Geist eine ganz andere Materie.“ Seiten
291/ 292: Menschen und Länder, die in
Kohärenz sind, gewinnen eine „umfassendere Sichtweise des
Planeten“, dies würde „bei der Abschaffung von sozialer und
wirtschaftlicher Unterdrückung, Kriegen, kultureller Intoleranz,
Kriminalität und der Missachtung unserer Umwelt eine entscheidende
Rolle spielen (McCraty & Deyhle, 2016)“.
An dieser Stelle des
Worttrommelns durch Moritz, seinem wortreichen Duellanten,
sieht Max seine Zeit gekommen, Oberwasser zu ergattern. Er kontert
mit einer der wichtigsten Fragen für die Menschheit: „Was ist, wie
sie sagen, mit Unterdrückung und Krieg? Haben sie auch dafür ihren
Geist mobilisiert, der alles kann, angeblich?“
Die „Wahrheit“ über
Krieg und Frieden
Moritz, angeblich im
Vollbesitz seiner geistigen Wahrnehmung, verweist auf seine Aussage
auf Seite 402, dass zwei Weltkriege, blutige Konflikte, Unwissenheit,
Armut, Hunger Ungerechtigkeit und Grausamkeit unsere Spezies seit
Jahrtausenden gezüchtet haben. Die Menschen mussten leiden, da sie
nicht wussten „dass unsere Gedanken unsere Realität erschaffen“.
Doch nun wisse man es besser. Unermesslich groß sei das Potenzial
unseres Geistes, die Realität zu kreieren. Positive Energie –
gemeinsam mit Millionen anderer Menschen – schaffe eine neue
Realität für unseren Planeten. Es entstehe ein „unwiderstehliches
Feld der Liebe. Diese Feld der Liebe lehnt niemanden ab. Wir
verurteilen, verdammen und klagen nicht. Wir lieben einfach.“ (S.
404) Ab sofort würden die Menschen
instinktiv aus Güte und Mitgefühl heraus handeln.
Max erkennt blitzartig:
Sein Widersacher als Diener der Geldvampire kann und darf die
dringende Lebensfrage nicht beantworten. Er denkt, immer noch in
Trance: Unglaublich, was er da von seinem Widersacher hört. Man
müsse also nur lieben, und alles werde gut. Und so träumt auch Max:
Diese Erleuchtung habe auch die politische Führungsriege erfasst:
Die Welt – bisher in argen Nöten wegen eines neuen Kalten Krieges,
wegen der zunehmenden Widersprüche zwischen den Mächtigen
Kapitaleliten und den Ärmsten dieser Welt – es hat sich alles
schlagartig geändert. Nunmehr raucht es aus allen
Industrieschornsteinen, denn Schwerter werden zu Pflugscharen
umgeschmolzen. Der transatlantische Elitefaschismus gibt seine Pläne
der gigantischen Landnahme wie die NATO-Osterweiterung wegen
fehlender Feinde auf und zieht sich vor allem aus Europa zurück. Die
Kapitalmächtigen überschreiben ihre Reichtümer dem Volk. Die
Mieten sinken rapide. Enteignungen wie Deutsches Wohnen gehören zur
Normalität. Die Politiker verlassen ihre bürgerlichen
Scheinparlamente und begeben sich geschlossen zum Meditieren. Sie
folgen der Einsicht, dass nur die Liebe zwischen allen Menschen und
zur Natur unsere Welt noch retten kann. Nicht ohne Grund predigt die
deutsche Kanzlerin, man möge zusammenhalten, ob reich oder arm. So
wird Frieden sein auf Erden. „So wahr mir Gott helfe.“
Max, noch im Halbschlaf
auf der Parkbank sitzend, will noch etwas sagen, aber sein Nebenmann
reagiert nicht. Sein Platz ist leer. Max sieht ihn, wie dieser sich
in gebückter Haltung im Morgengrauen und im dichten Nebel
davonschleicht, vorsichtig sich umschauend. Hat er, der Max, ihn
sozusagen im Wortgefecht geschlagen? Doch Sekunden später trifft der
schleichend Davoneilende auf einen Mann mit Brille und dunklem Anzug.
Im Hintergrund ein Mercedes. Der Unbekannte überreicht Moritz irgend
ein Stück Papier. Max ergreift eine erschreckende aber fast
erwartete Erleuchtung...
Wie sich in noch
aufrichtigen linken Presse später nachlesen ließ, war dies ein
Scheck in Millionenhöhe. Gespendet von der größten
Kapitalsammelstelle der Welt, dem Vermögensverwalter BlackRock. Eine
Billionen-Macht. US-Dollar. Max als Materialist hätte dies
eigentlich vorausahnen müssen: Volksverdummung wird hoch honoriert.
Max, der Materialist und Humanist lächelt verbittert: Sein
Wortgefecht mit dem politisch verkappten „Weltverbesserer“
verändert nicht die Welt, aber es hilft, Positionen zu klären.
Nach diesem Albtraum: Max
fällt dieser Vers wieder ein: „Denk ich an Deutschland in der
Nacht...“ Er steht auf. Mit einer Handbewegung wischt er den
nächtlichen Spuk hinweg. Was ist zu tun? Er setzt sich an den
Computer und schreibt ein Gegenbuch. „Ausbruch aus der Trance“.
Etwas tun. Jeder, wie er kann...
Dawson Church: Geist über Materie. Die erstaunliche Wissenschaft, wie
das Gehirn die materielle Realität erschafft, Gebundene Ausgabe: 448
Seiten, Verlag: Momanda; Auflage: 1 (1. Oktober 2018), Sprache: Deutsch,
ISBN-10: 9783956280252, ISBN-13: 978-3956280252, ASIN: 3956280253,
Preis: 19,99 Euro
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