SOLDATEN
FÜR DEN FRIEDEN
Zum
63. Jahrestag der Nationalen Volksarmee am 1. März 2019
In
diesem Blog veröffentlicht der Autor Harry Popow Leseproben seiner
persönlichen Lebensbilder, die er unter dem Titel „In die Stille
gerettet“ veröffentlicht hat.
Inhaltsangabe
Ausgangssituation
ist Schweden und das Haus, in dem die Popows wohnen. Der Leser
erfährt zunächst, wer die Eltern waren (seine Mutter stammt aus
Moskau), berichtet kurz vom Evakuierungsort 1943/44 in Pommern, von
der Rückkehr in das noch unter Bombenhagel liegende Berlin
(Schöneberg), von den Eindrücken nach Kriegsende und vom Einleben
in der neuen Gesellschaft, dabei auch von einer Begegnung der Jungen
Pioniere mit Wilhelm Pieck.
Die
Lehrzeit wird skizziert mit der Arbeit im Zwickauer
Steinkohlenrevier, mit Tätigkeiten in der Geologischen Kommission
der DDR und mit dem Beginn und dem erfolgreichen Abschluß der
Offiziersschule der KVP/NVA in Erfurt und in Plauen, wo er seine
spätere Frau kennenlernte.
Wie
lebt ein junger Offizier in der Einöde im Nordosten der DDR, welche
Gedanken und Gefühle bewegen ihn? Darum geht es in den nächsten
Aufzeichnungen seiner Impressionen. Seine Träume führen ihn
mitunter weg vom Kasernenalltag und so nimmt er die Gelegenheit wahr,
für fünf Monate im Walz- und Stahlwerk Eisenhüttenstadt als
einfacher Arbeiter tätig zu sein.
Durch
Versetzungen gelangt er nach Potsdam. Dabei kommen Querelen des
Alltags als Ausbilder und später als Politoffizier nicht zu kurz.
Ein Glücksfall für ihn, als er nach Neubrandenburg in einen höheren
Stab als Redakteur berufen wird. Er beginnt ein Fernstudium als
Diplomjournalist an der Karl-Marx-Universität in Leipzig. Inzwischen
ist er längst glücklich verheiratet. Die Höhen und Tiefen eines
Militärjournalisten – die zwingen ihn, vieles neu zu überdenken.
Vor allem als einstiger Ausbilder gelingt es ihm, die Probleme der
Soldaten immer besser zu verstehen und sie bildhaft zu schildern.
Die
spätere Arbeit als Abteilungsleiter in der Wochenzeitung
„Volksarmee“ macht ihm nicht nur Spaß, er nimmt auch Stellung
gegen Ungereimtheiten, was ihm nach der Entlassung aus dem aktiven
Armeedienst und der Tätigkeit als Journalist im Fernsehen der DDR
nicht nur böse Blicke einbringt. So fährt er im September 1989
seiner Tochter nach Ungarn hinterher, um herauszukriegen, weshalb sie
mit ihrem Partner abgehauen ist; er gibt ihr dabei das Versprechen,
sie in keiner Weise als Tochter zu verstoßen. Nach seiner Rückkehr
wird er mit einer Parteistrafe gerügt, die Wochen später angesichts
der vermeintlichen Verstöße und Fehler durch die Politik nicht mehr
relevant scheinen und wieder gestrichen wird. Auf Unverständnis
stößt er auch bei seinen Mitarbeitern, als er nach der Teilnahme an
der Dokumentarfilmwoche1988/89 in Leipzig angeblich falsche
Schlußfolgerungen zieht.
Nach
der Wende: Versuche, arbeitsmäßig Fuß zu fassen, u.a in Gran
Canaria und in einer Steuerfirma. Die Suche nach Alternativen,
günstiger zu wohnen, sowie die Sehnsucht nach Ruhe führt das
Ehepaar nach Schweden.
Episoden
aus dem Dorfleben und von vielen Begegnungen, so z.B. bei der
Geburtstagsfeier einer siebzigjährigen Schwedin, machen den Alltag
und die feierlichen Momente in der „Stille“ nacherlebbar. Keine
der in der DDR erlebten Widersprüche wirft den überzeugten
Humanisten aus der Bahn, wogegen neue politische Ungereimtheiten und
Dummheiten ihn mitunter aufbringen – trotz seiner sehr glücklichen
Ehe. Das „Nur Private“ ist nichts für ihn – er bleibt ein
Suchender!
Ohrfeige für Henry
Kindheits-
und Jugenderinnerungen der Mutter Tamara, und nicht nur ihre ...
Henry erinnert sich (von Schweden will er viele Seiten später
berichten): Ja, da war jenes Dorf Stemmnitz in Pommern, von dem seine
Mutter schrieb. Es war ein kleines Dorf an der Wipper, nördlich von
Schlawe, heute Slavno, das Henry und seine Geschwister Sophia,
Alexander und Berno in den Jahren 1942/43 kennenlernen sollten. Sie
wohnten in Berlin-Schöneberg in der Wartburgstraße. Berlin lag wohl
schon zunehmend unter dem Bombenhagel der Allierten. Jedenfalls
wurden Frauen mit Kindern evakuiert. Die Eltern wählten Stemmnitz,
da dort Verwandte des Vaters lebten. Eines Nachts mußten die Kinder
sehr früh aus den Betten. Etwa um zwei Uhr. Knapp drei Stunden
später sollte der Zug nach Stettin fahren. Ein Taxi brachte die
Familie, auch Oma Emma, zum Stettiner Bahnhof: Regennässe.
Kopfsteinpflaster. Ein verdunkeltes Bahnhofsgebäude. Zugqualm.
Pfeiftöne. Müdigkeit. Man fror. Endlich Abfahrt. Umsteigen in
Stettin. Wie lange waren sie unterwegs? Henry weiß es nicht mehr.
Nur soviel, daß sie auf einem sehr abgelegenen kleinen Bahnhof
ausstiegen. Soweit er sich erinnern kann, stand mitten im Dorf eine
weiße Kirche mit einem hohen und schlanken Turm, die Straße führte
rechts und links vorbei. Bauernhäuser mit riesigen Gehöften, mit
Stallungen und großen Misthaufen. In der Nähe eine alte Windmühle.
Die Familie kam auf einem Bauernhof in den oberen zwei Zimmern unter.
Kopfsteinpflaster auf dem großen Hof, Kuhgebrüll,
Schweinegekreische und Hühnergegacker. Auf der anderen Straßenseite
haben Verwandte ihren Hof, ebenfalls Ziebells. Deren Tochter heißt
Ruht und der Sohn Herrmann, der etwa siebzehn Jahre alt ist. Der
nimmt den oft verträumten aber neugierigen Jungen mit zum Angeln an
die Wipper. Einmal soll der Siebenjährige die Fische zum Hof
bringen. Der spürt die Wichtigkeit dieses Auftrages und hofft, bald
einen Abnehmer zu finden, um sich der Verantwortung zu entledigen.
Aber im Hause des Onkels rührt sich nichts. Was tun? Henry kommt ein
rettender Gedanke. Er legt die Fische auf ein umgedrehtes Holzfaß.
Er sieht nur seine Aufgabe, übersieht aber die in der Nähe
schnatternden und aufgeregten Gänse. Sein Fehler? Nein, seine erste
Erfahrung. Nämlich umsichtig sein. Für alle Fälle! Denn kaum kehrt
der Stadtjunge ihnen den Rücken, fallen sie auch schon über die
reiche Beute her. Sein großer Freund Herrmann hat später
geschimpft, und der Kleine bekommt zur Strafe abends keinen Fisch ab.
Überhaupt, Henry und seine Geschwister – sie fühlen sich als
Stadtkinder sehr wohl auf dem Dorf, denn da riecht es –laut Henry -
so gut nach Dung und Heu. Sehr wohl fühlt sich auch seine Schwester
Sophia, denn sie wandert oft und gerne und man muß sie manchmal
suchen. Wo treibt sie sich herum? Das hört Henry seine Mutter
fragen. Man findet das eigenwillige Mädchen auf dem Friedhof, da hat
sie sich die Blümchen auf den Grabstellen angesehen. Was sich
besonders eingeprägt hat – das herrliche Vesper am Feldrand
während der Ernte. Da gibt es immer Kaffee und Kuchen, meist
Streußelkuchen. Im September muß Henry zur Schule, wie unangenehm.
Eine Schiefertafel wurde besorgt und mehrere Griffel zum Schreiben.
Der Gänsekiel, mit dem Henry so gerne geschrieben hätte, war nur
für die größeren Kinder vorgesehen. Der Lehrer ist klein und
dicklich, ein Herr Pommerening. Gelbe Uniform und Hakenkreuz am
Ärmel, ein Ortsgruppenführer, wie aus den Reden der Eltern zu hören
ist, und es klingt nicht gut. Eines Tages im Unterricht fragt er den
Henry-Knirps, wer Hitler sei. Der erschrickt. Er weiß es so genau
nicht. Das war kein Thema zu Hause. Und rund heraus gesteht er seine
Unwissenheit. Da hat er plötzlich eine Ohrfeige im Gesicht, dann
noch eine zweite auf die andere Wange. „Raus!“, brüllt der
Dicke. Der gedemütigte Junge muß den Unterricht verlassen. Mama und
eine Bekannte – Papa arbeitet in einem anderen Ort und ist selten
zu Hause - schauen sich bedeutungsvoll an, sagen, daß es nicht so
schlimm sei, den Namen dieses Hitler nicht zu wissen, und der
Schuljunge, der tief beleidigte, denn Schläge sind den
Ziebellkindern eine unbekannte Größe, atmet erleichtert auf.
Irgendwann taucht der kleine Hakenkreuzmensch – es ist bereits
abends - bei den Ziebells zu Hause auf. „Frau Ziebell, ich habe
keine Nachricht von meinem Sohn an der Ostfront, haben sie keine
Verbindung mit ihren Landsleuten ...?“ Mama ist schlau und auf der
Hut. Sie zuckt mit den Schultern, sagt nicht’s. Wie auch, das wäre
lebensgefährlich für sie gewesen, weiß Henry später.
Inzwischen
ist es Winter geworden. Tiefer Schnee, große Kälte. Henry hat einen
Traum. Ein eigener Schlitten für uns Kinder, das wäre schön. Papa
redet mit dem Stellmacher des Ortes. Der verspricht, einen
Holzschlitten zu bauen, so wie er Zeit hat. Also schleicht er immer
öfter an der Schmiede vorüber, aber der Mann schüttelt immer
wieder den Kopf, zuviel andere Sachen habe er zu stellmachern. Doch
zu Weihnachten steht der Schlitten unter dem Weihnachtsbaum. Beim
Spielen fällt Henrys vier Jahre jüngerer Bruder Alexander auf den
Hinterkopf. Er wird mit dem Pferdefuhrwerk nach Schlawe (heute
Slawno) ins Kreiskrankenhaus gefahren. Mama legt heimwärts die
Hälfte der Strecke (etwa zehn Kilometer) mit einem Fuhrwerk zurück,
den Rest zu Fuß. Drei Tage Todeskampf um das Leben des Bruders. Drei
Tage Tränen der Mutter. Dann kommt die Nachricht per Telefon:
Alexander ist gerettet. Mama nimmt Henry mit ins Krankenhaus.
Alexanders erste Worte: „Apfel haben ...“ Äpfel! Woher nehmen?
Henry weiß es nicht mehr, ob Mama Äpfel besorgen konnte.
Unvergeßlich aber für Henry: Die kriegsgefangenen Franzosen – sie
hausen im Stall des Vermieters, denn sie helfen der Familie Ziebell,
wie schon so oft, mit allerlei guten Sachen. Eines Tages fährt ein
alter Mann auf der Dorfstraße mit dem Fahrrad. Er sieht Mama,
klingelt und ruft ganz aufgeregt: „Frau Ziebell, sofort zum
Ortsgruppenführer!“ Der herrscht sie mit hochrotem Kopf und
haßerfüllt an: „Innerhalb einer Woche hat ihre Familie das Dorf
zu verlassen!“
Eine
weitere Leseprobe demnächst: Weiße Armbinden
Harry
Popow: „In die Stille gerettet. Persönliche Lebensbilder.“
Engelsdorfer Verlag, Leipzig, 2010, 308 Seiten, 16 Euro, ISBN
978-3-86268-060-3
Kommentar: ALEX, Mitautor von "Eiszeitblüten", schickte mir soeben diese Mail:
Hallo lieber Harry , ich habe soeben Deine Leseprobe gelesen. Obwohl ich dies alles
schon las , lese ich das nochmal und entdecke Dich und die Familie
Ziebell wieder neu. Hoffentlich findest Du dafür viel Leser. Es sind doch die
Erlebnisse und Geschichten UNSERER Generationen. Es wäre gut , würden
die Menschen der Generation unserer Enkel das lesen und versuchen
nachzuempfinden, was uns damals und folgend bewegte. Aber ...na ja .
Aber auf Deine weiteren Worte bin ich schon gespannt. Wie gesagt: ich entdecke Dich neu.
Bis bald
Alex
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