Samstag, 1. September 2018

Braune Saat



Aus: Ausgabe vom 29.08.2018, Seite 8    / Ansichten

Nachhut



Chemnitz und die deutsche Staatsdoktrin


Von Arnold Schölzel

Auch Konterrevolutionen haben ihre eigene Dialektik. Die Parole »Wir sind ein Volk« erhielten die Leipziger Montagsdemonstranten im Herbst 1989 von der hessischen CDU »geschenkt«. Die Losung wurde ein Vorspiel für das Wüten z. B. Thilo Sarrazins, damals im Bundesfinanzministerium zuständig für das Erfinden der »Währungsunion«, den tödlichen Giftcocktail für die DDR-Wirtschaft. Sie schuf Platz für das Mord- und Bestattungsunternehmen Treuhand, das nicht nur Fabriken ausräumte, sondern im Osten mit Hilfe von Massenarbeitslosigkeit, Vertreibung von Millionen Menschen und Errichtung einer heute noch existierenden Niedriglohnzone das zerschlug, was heute »gesellschaftlicher Zusammenhalt« genannt wird. Den sucht die SPD gerade händeringend.

Das Einheitsgeschrei von 1989 bahnte den Weg für politische Importe wie den früheren CDU-Generalsekretär Kurt Biedenkopf, der als sächsischer Ministerpräsident bis 2002 so gern westdeutschen Freunden zu Grundstücken und Bauaufträgen verhalf. 2015 veröffentlichte er auf Kosten des Bundeslandes Tagebücher aus den 1990ern. Darin schildert er z. B. einen »Traum«, in dem dunkelhäutige Menschen sein Haus am Chiemsee angreifen. Das habe mit der »Gefahr eines Einwanderungsdrucks aus dem Süden auf Europa« zu tun gehabt, notierte er. Biedenkopf attestierte bei Gelegenheit von pogromartigen Hetzjagden den Sachsen, sie seien »immun« gegen rechten Extremismus. So wurde der Freistaat ein Hauptland der »Bewegung«, ein Modell für Entstehen und Verankerung rechter Ideologie. Es gilt dabei die Abfolge: inspirieren, radikalisieren, organisieren. Kein »Volk« ohne schützende Hand, vom Ministerpräsidenten bis zum »Verfassungsschutz«.

Sachsen ist nicht mehr das Modell einer halben Konterrevolution und einer vollendeten Restauration, es steht für die Bundesrepublik. Neonazis von Nordrhein-Westfalen bis Ostsachsen vereinten sich am Montag in Chemnitz und simulierten »das« Volk. Der Unterschied zu 1989: Ihnen folgen nicht Abwickler und Plünderer, sie sind nur noch Nachhut im Kampf um Hegemonie. Ihnen stets voraus sind die DDR-Bekämpfer aller politischen Schattierungen, von Thüringens Landesregierung unter Linke- Führung über die rechten Extremisten in der Berliner »Stasi«-Gedenkstätte des Hubertus Knabe bis hin zum entsprechenden Referat bei der Kulturstaatsministerin im Bundeskanzleramt. Die beteiligte sich gerade an einer filmischen Großdenunziation wie »Gundermann«. Was wirtschaftlich und sozial im Osten verbrochen und vergeigt wurde, soll wenigstens kulturell gewonnen werden. Wer in Chemnitz mit Hitlergruß auf Hetzjagd ging, trottet der Staatsdoktrin hinterher und bekommt daher nachträglich, nicht etwa beim Armrecken, eins auf die Mütze. Die Doktrin lautet: Es gab und gibt keinen Faschismus, also keinen Antifaschismus, einen antifaschistischen Staat, der nie einen Krieg führte, kann es nie gegeben haben. Das möchten die gern schaffen.





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