Was
Deutsche von Russen lernen können
Vielleicht sollte die
Überschrift besser lauten: Was Deutschland von Rußland lernen kann.
Ich meine aber beides: die Menschen und die Politik. Ich wundere
mich, daß diese Frage in den großen Leitmedien überhaupt nicht
gestellt wird. Auch in der deutschen Außenpolitik taucht sie nicht
auf. Ich bin aber überzeugt, daß Rußland mehr ist als der
Sündenbock für alles und jedes. Im russischen Alltag habe ich nach
Erfahrungen und Erkenntnissen gesucht, die bemerkenswert oder gar
nachahmenswert sein könnten.
Meine Erkundungstour
führte mich nach Moskau, nach Wolgograd (dem ehemaligen Stalingrad)
und nach Astrachan. Ein Nebeneffekt dieser Reise war für mich die
Erkenntnis, welchen Stellenwert die Fußballweltmeisterschaft hat.
Ich habe in Rußland niemanden getroffen, dem dieses Ereignis
gleichgültig ist. Nicht alle Menschen dort werden Fußballfans sein,
aber sie sind beseelt davon, daß Spielen verbindet. Rußland ist
gastfreundlich, seine Türen sind weit geöffnet, selbst die
russischen Fans sprechen nicht davon, wer gegen wen spielt, sondern
wer mit wem. In Wolgograd ist die Geschichte des zweiten Weltkriegs
lebendig. Und das nicht nur, weil die eindrucksvolle Statue der
Mutter Heimat überall sichtbar ist. Kein Flecken Erde ist hier nicht
mit Blut getränkt. Kaum eine Familie, die nicht mehrere Tote zu
beklagen hatte. Ihre Fotos werden am 9. Mai, dem Tag des Sieges,
mitgeführt, nichts ist vergessen und niemand ist vergessen. Daraus
erwächst ein unbedingter Wille zu Frieden und Verständigung,
ausdrücklich und gerade auch mit Deutschland. So war auch das Spiel
der U-18-Nationalmannschaften am 8. Mai, dem Tag der Befreiung
Europas vom Faschismus, mehr als ein normales Fußballspiel.
• Es war ein deutliches
Zeichen für ein Miteinander, das möglich ist – und Freude
bereitet. Das kann Deutschland von Rußland lernen. Wolgograd ist in
Rußland ein Zentrum der Volksdiplomatie. Im Oktober wird dort wieder
der Austausch von Partnerstädten und gesellschaftlichen
Organisationen unter dem Motto „Dialog an der Wolga“ stattfinden.
Bei oberflächlicher Betrachtung scheint es so, als ob in Europa das
Zusammenleben von „Einheimischen“ und „Neubürgern“ ebenso
spannungsgeladen ist wie die Koexistenz unterschiedlicher Religionen
oder kultureller Prägungen. Deshalb wollte ich herausfinden, wie der
Vielvölkerstaat Rußland mit diesem Problem umgeht. Astrachan ist
dafür ein Beispiel. Hier leben zusammen Russen (die
Mehrheitsbevölkerung), Kasachen, Tataren, Kalmücken,
Aserbaidschaner, Armenier, Tschetschenen, Ukrainer, Juden. Ein
Viertel der Bevölkerung sind Muslime. Astrachan ist eine
gewaltfreie, kulturell offene Stadt. Dieser Ausgleich im Inneren
erleichtert den Ausgleich nach außen. Der Rayon Astrachan ist die
einzige russische Gebietskörperschaft mit einem eigenen
Außenminister. Er ist vor allem für die Zusammenarbeit der
Anrainerstaaten des Kaspischen Meeres verantwortlich. Das sind so
unterschiedlich verfaßte Staaten und Gesellschaften wie Rußland,
Aserbaidschan, Iran, Kasachstan, Turkmenistan. Sie verstehen das
Kaspische Meer als gemeinsames Binnengewässer, für das sie
gemeinsam Verantwortung tragen – für seinen Erhalt, seine
Verkehrswege, seine Nutzung. Dabei gibt es ungeklärte Fragen, aber
keine kriegerischen Auseinandersetzungen, sondern den Willen, zu
Lösungen im Konsens zu kommen. Ich frage mich, ob nicht auch die
Anrainerstaaten des Mittelmeeres gut beraten wären, das Mittelmeer
als ihr Gemeinsames, sie Verbindendes zu betrachten. Das gilt auch
für die Ostsee. Jedes auf seine eigene Art und Weise. Erinnert sei
an die Ostsee-Friedenskonferenzen, mit denen für Entmilitarisierung
und Zusammenarbeit geworben wurde.
• Aus Astrachan in
Rußland nehme ich mit: Auch sehr unterschiedlich verfaßte Staaten
und Gesellschaften können friedlich koexistieren, sie können aber
noch mehr: friedlich zusammenarbeiten. Rußland gibt schrittweise
immer weniger für Rüstung aus. In den letzten zwei Jahren wurde
sein Militärhaushalt schon um mehr als 10 Prozent reduziert. Rußland
wird sich nicht erneut zum „Totrüsten“ treiben lassen. Das hat
Wladimir Putin in seiner ersten Rede nach den Wahlen erneut
unterstrichen. Daran ändert auch nichts, daß er zugleich über neue
Waffensysteme spricht. Für Rußland heißt zur Zeit weniger Geld für
Rüstung nicht einseitige Abrüstung, sondern der Rüstungshaushalt
folgt einer strikt auf Verteidigung ausgerichteten, einer defensiven
Militärstrategie. Deutschland hingegen hat sich an das Ziel der
NATO, zwei Prozent des Bruttoinlandprodukts für Rüstung auszugeben,
gebunden, das heißt in naher Zukunft: 70 Milliarden für Rüstung.
Zum Vergleich: Die russischen Militärausgaben betragen jetzt 64
Milliarden Dollar, und sie sollen weiter sinken. Rußland als
Großmacht gibt dann weniger für Militär aus als Deutschland, als
die USA ohnehin, aber auch als Staaten wie Indien oder Saudi-Arabien.
• Aus Moskau haben wir
die Erkenntnis mitgebracht: Weniger für Rüstung, mehr für Soziales
ist möglich. Warum erscheint eigentlich die deutsche staatliche
Außenpolitik nicht lernwillig und lernfähig? Der neue Außenminister
Heiko Maas spielt sich vielmehr als Zucht- und Lehrmeister auf. Am
deutschen Wesen ist die Welt noch nie genesen. Wir haben also
dringenden Änderungsbedarf. Wolfgang Gehrcke (Außenpolitiker
der Linkspartei)
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