Nicht
das DDR-Erbe, sondern Nazis und Neonazis sind eine Gefahr für
Deutschland
(Rede von Egon Krenz
auf der Erinnerungsveranstaltung des DDR-Kabinetts Bochum zum 70.
Jahrestag der Gründung der DDR am 12. Oktober 2019 in Berlin )
Liebe Freunde,
lieber
Vertreter der Botschaft der Russischen Föderation, über Ihre
Teilnahme an dieser Veranstaltung freue ich mich besonders. Vierzig
Jahre DDR wären ohne die Sowjetunion undenkbar gewesen. Übermitteln
Sie bitte Präsident Putin, dass die heute hier Versammelten und mit
ihnen Millionen Ostdeutsche nie vergessen, dass 27 Millionen
Sowjetbürger ihr Leben auch für unsere Freiheit und die Freiheit
Europas vom Faschismus gegeben haben.
Liebe Anwesende,
es gibt
ein wunderbares Kinderlied, das wohl jeden DDR-Bürger begleitete.
Von frühester Kindheit bis zum Lebensende. Erinnert sei an jene
Augenblicke, als der gut in der DDR integrierte Kanadier Perry
Friedmann mit seinem Banjo auf der Bühne stand und leise anstimmte:
„Kleine weiße Friedenstaube, fliege übers Land“, und endete mit
der Aufforderung: Kleine weiße Friedenstaube, komm recht bald
zurück“.
Sie kam nicht mehr zurück,
die Friedenstaube. Das Lied ward nur noch selten gesungen seit es die
DDR nicht mehr gibt. Und sie mochte wohl auch nicht zurück kommen in
ein deutsches Land, das wieder Kriege führt, erst in Jugoslawien,
dann in Afghanistan und in weiteren Kampfeinsätzen mit mehr als 100
gefallenen deutschen Soldaten.
In 40 DDR-Jahren hat nicht
ein Soldat der Nationalen Volksarmee fremden Boden zu Kampfeinsätzen
betreten. Undenkbar auch, dass ein Oberst der Nationalen Volksarmee
wie jener der Bundeswehr in Afghanistan einen Befehl hätte geben
können, in dessen Folge allein in einer Nacht mehr als 150
Zivilisten getötet wurden und der dennoch zum General der Bundeswehr
befördert wurde.
„Nie wieder Krieg, nie
wieder Faschismus!“ Dieser Schwur von Buchenwald war das Fundament,
auf dem die Deutsche Demokratische Republik am 7. Oktober 1949
gegründet wurde. Niemand kann die Wahrheit aus der Welt schaffen:
Die DDR ist in der langen deutschen Geschichte der einzige Staat, der
nie einen Krieg geführt hat. Allein das rechtfertigt, sich ihrer mit
größtem Respekt zu erinnern.
Dazu haben wir uns hier
und heute verabredet. Auch wenn Soldschreiber das verhindern wollten.
Wir - das sind sehr unterschiedliche Menschen, die sich ihr gelebtes
Leben nicht von jenen erklären lassen möchten, die schon immer 3
Schwierigkeiten mit der Wahrheit hatten oder die hier nie zu Hause
waren – wir erinnern uns nicht als Nostalgiker, auch nicht als
„Osttalgiker“, einem Modewort, das nur benutzt wird, um unsere
Erinnerung und Besinnung an Werte der DDR zu denunzieren.
Wir sind auch keine
Ignoranten, die nicht sehen wollen, dass auch seit 1990 viel
geleistet wurde. Wir glorifizieren die DDR nicht. Nein, wir sind
wache Zeitgenossen, die Erfahrungen in zwei gesellschaftlichen
Systemen haben und dadurch gut vergleichen können, was die DDR
wirklich war und was ihr blinde Wut an Schlechtem andichtet. Unter
dem Strich war die DDR nach der Wiederbelebung kapitalistischer
Verhältnisse in Westdeutschland und dem Aufstehen alter Nazis die
einzig vernünftige Alternative zu einem Deutschland, das für zwei
Weltkriege und die grausame faschistische Diktatur verantwortlich
war.
Zu ihrem Gründungsmotiv
gehörte auch die deutsche Einheit. Es hätte die DDR nie gegeben,
wenn nicht zuvor der Separatstaat Bundesrepublik geschaffen worden
wäre. „Dass ein gutes Deutschland blühe, wie ein andres gutes
Land“, hatte sich Bert Brecht gewünscht. Und Bechers Text
„Deutschland, einig Vaterland“ war der beste Gegenentwurf zu
„Deutschland, Deutschland über alles.“
Dass es damals nicht zu
einem einheitlichen Deutschland kam, liegt nicht nur, aber wesentlich
an der alten Bundesrepublik. Als ihr 4 Grundgesetz vorbereitet wurde,
verkündete einer seiner Väter, „alles deutsche Gebiet außerhalb
der Bundesrepublik ist als Irredenta“1 , also als Gebiet unter
Fremdherrschaft anzusehen, „deren Heimholung mit allen Mitteln zu
betreiben wäre." Und: Wer sich dem nicht unterwerfe, hieß es,
sei „als Hochverräter zu behandeln und zu verfolgen"2 .
Das Szenario also für den
Umgang des westdeutschen Staates mit den Ostdeutschen stammt schon
aus einer Zeit, als die DDR noch gar nicht existierte, als sie all
die Untaten, die man ihr heute zuschreibt, noch gar nicht vollbracht
haben konnte. Die Geburtsurkunde des Hasses auf die DDR war und
bleibt der Antikommunismus, den Thomas Mann schon im vergangenen
Jahrhundert eine Grundtorheit genannt hatte. Es war Konrad Adenauer,
der erklärte: „Was östlich von Werra und Elbe liegt, sind
Deutschlands unerlöste Provinzen. Daher heißt die Aufgabe nicht
Wiedervereinigung, sondern Befreiung.
Das Wort Wiedervereinigung
soll endlich verschwinden. Es hat schon zu viel Unheil gebracht.
Befreiung ist die Parole.“ Was hängte man der DDR nicht alles an?
„Russenknechte“ waren wir, „Vollstrecker Stalins Willen in
Deutschland“, auch „Zonenheinis“ nannte man uns. Für Adenauer
begann an Elbe und
Das Wort Irredenta
steht auch für ein nicht befreites, unter Fremdherrschaft stehendes
Gebiet. Siehe Manfred G. Schmidt „Wörterbuch zur Politik“,
Alfred Kröner Verlag, 1995. 2 Siehe: Verfassungskonvent vom
Herrenchiemsee vom 10. bis 23. August 1948. Protokolle der Sitzungen
der Unterausschüsse, Unterausschuss I: Grundsatzfragen, Bundesarchiv
(Koblenz). 3 Konrad Adenauer, "Rheinischen Merkur" vom 20.
Juli 1952.
Werra Sibirien. Soviel
Unsinn ließ sich dann nicht mehr aufrecht erhalten, als die UNO
beide deutsche Staaten als gleichberechtigt anerkannte und 134 Länder
mit der DDR diplomatische Beziehungen aufnahmen. Da kam es dann schon
einmal vor, dass beispielsweise der Vize-Chef der CDU-Fraktion im
Deutschen Bundestag, Volker Rühe, schwärmte: Ein Gespräch mit
Honecker sei „angenehmer und konstruktiver als ein Gespräch mit
der britischen Regierungschefin“.
Oder hochrangige
bundesdeutsche Politiker aller Couleur ein Foto mit dem SED
Generalsekretär als Hilfe für ihren Wahlkampf wünschten.
Schließlich war es Helmut Kohl, der Honecker einen „zuverlässigen
Partner“ nannte und sein Nachfolger Gerhard Schröder sich vom
DDR-Staatsratsvorsitzenden regelrecht beeindruckt zeigte.
In dieser Zeit schloss man
dann auch völkerrechtlich bindende Verträge und empfing 1987 gar
das DDR Staatsoberhaupt zu einem offiziellen Besuch mit allen
diplomatischen Ehren. Doch dann1990: Man kehrte zurück zum irren
Geschichtsbild der fünfziger Jahre, das nun immer noch gilt und die
politische Atmosphäre vergiftet.
Der Ostbeauftragte der
Bundesregierung wiederholte in seinem Regierungsbericht eigentlich
nur, was seit 29 Jahren Standard ist: 6 An allem, was in der
Bundesrepublik nicht funktioniert, ist die „marode“ DDR Schuld,
die angeblich nur Verbrechen und Schulden in die Einheit mitgebracht
hätte. Dieser Mann war 1989 gerade einmal 13 Jahre alt. Dennoch
erinnert er sich noch ganz genau daran, dass die Ostdeutschen das
Pech gehabt hätten, „40 Jahre auf der falschen Seite der
Geschichte gestanden“ zu haben. Dieses Nachplappern geistloser
Stereotype aus den Jahren des kalten Krieges stimmt nun aber
keinesfalls mit den praktischen Erfahrungen sehr, sehr vieler Bürger
aus der DDR überein.
Wenn inzwischen nur 38
Prozent der Ostdeutschen die Vereinigung für gelungen halten und 57
Prozent sich gar als „Bürger zweiter Klasse“ fühlen, müssten
sich doch die Regierenden endlich mal fragen, wo dafür die Ursachen
liegen. Als Gregor Gysi noch DDR-Bürger war, hat er in jener
schicksalhaften Nacht als in der damaligen Volkskammer der Anschluss
der DDR an die Bundesrepublik deklariert wurde, den Abgeordneten
zugerufen: « Ich bedauere, dass die Beschlussfassung im
Hauruckverfahren … geschehen ist und keine würdige Form ohne
Wahlkampftaktik gefunden hat; denn die DDR … war für jeden von uns
– mit sehr unterschiedlichen Erfahrungen – das bisherige Leben.
So wie wir alle geworden sind, sind wie hier geworden, und ich
bedauere, dass der Einigungsprozess zum Anschluss degradiert ist.»
Dieser grundlegende Mangel
macht sich bis heute bemerkbar. Respekt will Angela Merkel laut ihrer
Rede zum Einheitsjubiläum jenen entgegenbringen, die «Opfer des SED
– Regimes» waren und die gegen das Regime gekämpft hätten.
Soweit so gut, wenn es sich um tatsächliche und nicht vermeintliche
Opfer handelt. Das bedeutet aber in der Praxis eine weitere
Ausgrenzung von Millionen Bürgern, denen die DDR Herzenssache war
und die sich für ihren Staat ein Leben lang engagierten. Frau Merkel
ist offensichtlich entgangen: DDR-Bürger hatten nicht nur die
Trümmer des Zweiten Weltkrieges beseitigt, Städte und Dörfer
wieder bewohnbar gemacht, wertvolle kulturhistorische Bauten wieder
errichtet, sondern auch zahlreiche neue Betriebe, Straßen,
Stadtteile und Städte mit modernen Wohnungen, Schulen, Kinderkrippen
und Kindergärten, Ambulatorien, Krankenhäusern Sport- und
Kulturstätten geschaffen.
Es gab 1945 nichts, aber
auch gar nichts, was die DDR hätte runter wirtschaften können Es
ist doch ein großer Irrtum, anzunehmen, die DDR sei vierzig Jahre
gegen das Volk regiert worden. Es gab Jahre großer Zustimmung - wie
beispielsweise beim Volksentscheid 1968 über die DDR Verfassung, die
nach gründlicher Volksaussprache von 94,5 % der Bevölkerung
bestätigt wurde. Eine durch Volksentscheid angenommene Verfassung
wurde 1990 gesetzwidrig ohne Volksentscheid aufgehoben.
Die Wahrheit ist doch: Es
haben sich nicht zwei Staaten vereinigt, sondern der eine hat den
anderen übernommen und bestimmt die Regeln. DDR-Bürger wurden nie
befragt, ob sie das auch wollten. So etwas hat Langzeitfolgen. Was
ich da im Zusammenhang mit dem 9. Oktober 1989 in den letzten Tagen
in den Medien gelesen, gehört oder gesehen habe, zeigt: Je weiter
wir uns zeitlich vom Ende der DDR entfernen, um so märchenhafter,
wirklichkeitsfremder und boshafter werden die offiziellen Ausfälle
gegen sie. Geht es nach den Meinungsführern des Politikgeschäfts,
dann sind die früheren DDR-Bürger nur noch ein Millionenhäuflein
gegängelter Kreaturen, eingesperrt hinter einer Mauer mit einer
schrottreifen Wirtschaft, umgeben von Mief und Muff und „Spitzeln“
der Staatssicherheit.
Heiner Müller, bestimmt
kein unkritischer DDR-Bürger, hat dies sehr frühzeitig mit seinem
Urteil entlarvt: „Der historische Blick auf die DDR“, schreibt
er, „ ist von einer moralischen Sichtblende verstellt, die
gebraucht wird, um Lücken der eigenen moralischen Totalität zu
schließen.“
Die Kraft, das Geld und
die Ressourcen, die man einsetzt, um die DDR zu denunzieren – eine
ganze „Aufarbeitungsindustrie“ ist damit beschäftigt – wären
sinnvoller angelegt für eine inhaltliche Auseinandersetzung mit
Rassismus, Antisemitismus und Fremdenhass. Nazis, Neonazis und die
Brunnenvergifter in der AfD Vorwort von Heiner Müller, „Das
Liebesleben der Hyänen“. 9 sind eine Gefahr für Deutschland –
nicht das Erbe der DDR.
Antisemitismus ist keine
Meinung, sondern ein Verbrechen. In der DDR -Verfassung heißt es
dazu im Artikel 6: „Militaristische und revanchistische Propaganda
in jeder Form, Kriegshetze und Bekundung von Glaubens-, Rassen- und
Völkerhass werden als Verbrechen geahndet“. Es gibt sehr viele
Gründe für Enttäuschungen bei nicht wenigen Ostdeutschen. Einer
davon ist: So - wie die DDR heute darstellt wird - so war sie einfach
nicht. Für eine große Mehrheit der DDR-Bürger war ihr Staat kein
„Unrechtsstaat“.
Die aufgewärmte Debatte
darüber ist weiter nichts als eine Ablenkung von den Gebrechen der
heutigen Gesellschaft. Wer über DDR-Unrecht spricht, braucht sich
nicht zu rechtfertigen, warum die Regierenden heute mit den vielen
ernsthaften Problem nicht fertig werden, der kann ablenken von
Niedriglöhnen, drohender Alters- und Kindesarmut, auch davon, wie
rücksichtslos mit DDR-Biografien umgegangen wird. Beim Werden und
Wachsen der DDR gab es Siege und Niederlagen, Freude und Enttäuschung
- leider auch Opfer. So sehr ich diese bedauere, bleibt doch wahr:
Die Geschichte der DDR ist
keine Kette von Fehlern oder gar Verbrechen. Sie ist vielmehr die
Geschichte eines
Ausbruchs aus dem
ewigen deutschen Kreislauf von Krieg und Krisen, eines (Verfassung
der Deutschen Demokratischen Republik vom 6. April 1968.)
Aufbruchs für eine
tatsächliche Alternative zum Kapitalismus, einer
Absage an Faschismus
und Rassenhass, Antisemitismus und Russenphobie. Und weil sehr viele
DDR-Bürger dem verbunden waren, ist die Degradierung der DDR zu
einem „Unrechtsstaat“ in vielerlei Hinsicht auch eine Beleidigung
derer, die sich zur DDR bekannten.
Die DDR wollte nie sein
wie die alte Bundesrepublik. Es ist daher auch dumm, sie nach den
Maßstäben der Bundesrepublik zu bewerten. Vor zehn Jahren hielt
Bundespräsident Köhler auf einer Veranstaltung zum 9. Oktober 1989
die Rede, in der er unter anderem ausführte: «… Vor der Stadt
standen Panzer, die Bezirkspolizei hatte Anweisung, auf Befehl ohne
Rücksicht zu schießen.
Die Herzchirurgen der
Karl-Marx-Universität wurden in der Behandlung von Schusswunden
unterwiesen, und in der Leipziger Stadthalle wurden Blutplasma und
Leichensäcke bereitgelegt». Wie gruselig, wie furchteinflößend
und welch ein Zeichen von Unmenschlichkeit der DDR! Die Sache hat nur
den Haken: So etwas hat es nie gegeben. Fritz Streletz, der
langjährige Sekretär des Nationalen Verteidigungsrates der DDR, und
ich haben den Bundespräsidenten in Vorbereitung seiner Rede zum 30.
Jahrestag der Leipziger Ereignisse in einem Brief gebeten, diese
Unwahrheit richtig zu stellen. Aus eigenem Wissen und auf der
Grundlage von geltenden Beschlüssen und Befehlen teilten wir mit:
«In oder vor der Stadt gab es keine Panzer, auch existierte zu
keiner Zeit ein Befehl zum Schießen. Weder wurden Herzchirurgen zur
Behandlung von Schusswaffen eingewiesen noch Leichensäcke
bereitgelegt.»
Leider nutzte der
Bundespräsident die Gelegenheit nicht, die immer noch verbreitete
Lüge aus der Welt zu schaffen. An einer Stelle seiner Rede sagte er,
die Geschichte wäre anders verlaufen, hätte nicht Gorbatschow die
SED - Führung zur Zurückhaltung gemahnt. Es wäre gut gewesen, der
Herr Bundespräsident hätte die Quelle für diese Behauptung
benannt. Aus eigenem Wissen kann ich nämlich sagen: Eine solche
Mahnung hat es nie gegeben. Sie war auch nicht notwendig. Selbst
Gorbatschow schreibt in seinen «Erinnerungen», dass die DDR-Führung
«über hinreichend Vernunft und Mut verfügte, um keinen Versuch zu
unternehmen, die Unzufriedenheit der Bevölkerung in Blut zu
ersticken.»
Eine Mahnung Gorbatschows
gab es am 10. November 1989. Sie war nicht an die DDR, sondern an
Bundeskanzler Kohl gerichtet, alle nationalistischen Töne zu
unterlassen, «Erklärungen aus der BRD, die vor diesem politischen
und psychologischen Hintergrund abgegeben werden, die unter Losungen
der Unversöhnlichkeit gegenüber der realen Existenz zweiter
deutscher Staaten Emotionen und Leidenschaften anheizen sollen,
können kein anderes Ziel verfolgen, 6 Michael Gorbatschow,
„Erinnerungen“, Seite 711. 12 als die Lage in der DDR zu
destabilisieren und die sich dort entwickelnden Prozesse der
Demokratisierung und Erneuerung aller Bereiche des gesellschaftlichen
Lebens zu untergraben“.
Es ist irre, die DDR nur
von ihrem Ende her zu beurteilen. Es ist zudem eine
Geschichtsfälschung, so zu tun, als wären die Leute im Herbst 89
schon für die Einheit Deutschlands auf die Straße gegangen. Im
Aufruf der Leipziger Sechs unter Leitung von Generalmusikdirektor
Masur, der interessanter Weise kaum noch erwähnt wird, lautet der
Kernsatz: „Wir alle brauchen freien Meinungsaustausch über die
Weiterführung des Sozialismus in unserem Land“.
Einer, der kürzlich für
seinen Beitrag zur deutschen Einheit vom Bundespräsidenten
ausgezeichnet wurde, Pfarrer Eppelmann, schrieb mir noch am 24.
Oktober 1989 in einem persönlichen Brief, den auch Pfarrer
Schorlemmer unterzeichnet hatte – Zitat - : „Uns geht es um die
Entwicklung von Demokratie und Sozialismus in unserem Land.“.
Ja, es gab natürlich auch
die anderen, die sich nicht wohlfühlten in der DDR, die leider weg
gingen oder sich selbst aus der Gesellschaft
Mündliche Botschaft
M.S. Gorbatschows an Bundeskanzler Kohl vom 10. November, die der
sowjetische Botschafter in der Bundesrepublik unmittelbar vor der
Kundgebung vor dem Schöneberger Rathaus in Berlin (West) am 10.
November 1989 an Helmut Kohl übermittelte. 8 Aufruf der Leipziger
Sechs vom 9. Oktober 1989. 9 Brief von Friedrich Schorlemmer und
Rainer Eppelmann an Egon Krenz vom 24. Oktober 1989 im Archiv des
Autors.
ausschlossen. Oder jene,
die angeblich schon immer wussten, dass es nichts werden könne mit
dem Sozialismus auf deutschem Boden. Oder auch jene, die damals
besonders laut „Hurra“ riefen und nun mit Übereifer die
vermeintlichen Vorzüge der neue Macht beschreiben. Ihnen und vor
allen den Medien, auch dem Bundespräsidenten, müsste bei etwas mehr
Realismus doch klar sein: Sie können nicht für alle Ostdeutschen
sprechen.
Wer sich für die DDR
engagierte, tat dies doch in der Überzeugung, dem Guten in
Deutschland zu dienen, hat seinem Staat viel von seiner Lebenskraft
gegeben und hat ein Recht, dafür auch in der Bundesrepublik
respektiert zu werden. Wir haben 1989 eine Niederlage erlitten, eine
bittere, die schmerzt – das ist wohl wahr. Aber wir sind nicht aus
der Geschichte ausgestiegen. So wie sie heute ist, diese Welt, wird
sie nicht bleiben. Der Kapitalismus wird nicht das letzte Wort der
Geschichte sein. Und dann werden wir sehen, wer am Ende auf der
richtigen Seite steht. Wir werden es wahrscheinlich nicht mehr
erleben, aber spätesten seit Thomas Münzer gilt: Die Enkel
fechten‘s besser aus.
Diesen historischen
Optimismus möchte ich mir gerne erhalten. Auch deshalb, weil es da
noch weit im Osten ein Land gibt, das gerade den 70. Jahrestag seiner
Volksrepublik gefeiert hat. Unabhängig davon ist es aktueller denn
je, endlich die Lebensleistungen der DDR-Bürger anzuerkennen,
gleichen Lohn für 14 gleiche Arbeit zu zahlen, gleiche Renten für
gleiche Lebensleistungen zu geben, die Strafrenten abzuschaffen und
für alle Kinder und Jugendlichen Chancengleichheit zu schaffen. Der
Artikel Eins des Grundgesetzes – die Würde des Menschen ist
unantastbar – muss für alle Deutschen gelten, auch für
diejenigen, die für die DDR arbeiteten, einschließlich der
Mitarbeiter der Sicherheitsorgane. Ohne dies wird es noch Jahrzehnte
dauern, bis die deutsche Einheit vollendet wird.
Wir sind nicht die ewig
Gestrigen, für die man uns hält. Wir sind
eher die ewig Morgigen. Wir möchten, dass unsere Kinder, Enkel und
Urenkel auf einem gesunden Planeten eine friedliche Zukunft haben.
Deshalb gehen wir mit dem DDR - Erbe durchaus selbstkritisch um, aber
vor allem selbstbewusst und nicht mit gebeugtem Rücken. Gerade
deswegen fragen wir uns auch, was die DDR geschichtlich auf deutschem
Boden einmalig macht.
Als in den
Nachkriegsjahren im Westen wieder alte Nazis Lehrer, Juristen oder
Beamte sein durften, fand im Osten eine antifaschistisch
- demokratische Umwälzung statt, die 1949
die DDR zum antifaschistischen deutschen Staat werden ließ. In
Vorbereitung darauf wurden 7136 Großgrundbesitzer und 4142 Nazi- und
Kriegsverbrecher entschädigungslos enteignet. 520 000 ehemalige
Nazis wurden aus öffentlichen Ämtern entfernt.
Am 30. Juni 1946 stimmten
mehr als 72,00 % der Bürger Sachsens in einem Volksentscheid für
die Enteignung der Nazi- und Kriegsverbrecher ab.
In Ostdeutschland kam
Junkerland tatsächlich in Bauernhand;
Kein Nazi durfte
Lehrer sein.
In Schnellverfahren
wurden 43 000 Frauen und Männer zu Neulehrern ausgebildet, die zwar
manchmal – wie es damals hieß - nicht genau wussten, ob man Blume
mit oder ohne „h“ schreibt - dafür aber Mut hatten, dem Ruf
eines FDJ - Liedes zu folgen: „Um uns selber müssen wir uns selber
kümmern, und heraus gegen uns, wer sich traut“.
Nazis durften kein
Recht sprechen, Volksrichter wurden gewählt,
Fakultäten
entstanden, die dafür sorgten, dass Arbeiter und Bauern auf die
Hochschulen kamen. Schon 1952 waren über die Hälfte der Studenten
Kinder von Arbeitern und Bauern. So etwas hatte es in Deutschland
zuvor nie gegeben und es gibt es auch nach dem Ende der DDR nicht
mehr.
Das Kriminelle an diesem
Fakt ist:
40 Jahre nach Gründung
der Arbeiter- und Bauernfakultäten wurden viele ihrer Absolventen,
die inzwischen in der DDR hervorragende
(Die Zahlen stammen aus
den Büchern „ „Illustrierte Geschichte der DDR“, herausgegeben
Dietz Verlag Berlin 1984 und „DDR“, herausgegeben 1989 im VEB F.
A. Brockhaus Verlag Leipzig.)
Wissenschaftler,
Ingenieure, Mediziner, Juristen, Lehrer und anderes geworden waren,
nicht selten gegen zweit- und drittklassige aus dem Westen
ausgetauscht. Wer kritisiert, dass heutzutage so wenig Ostdeutsche in
Ostdeutschland etwas zu sagen haben, der darf nicht vergessen, was
1990 mit der ostdeutschen Elite gemacht wurde.
Allerdings ein Begriff,
den wir in der DDR kaum gebrauchten, weil wir die Gesellschaft nicht
in Elite und gemeines Volk einteilten.
Es ist zu billig zu sagen,
die Ostdeutschen hätten den Elitenaustausch gewollt. Ja, manche, die
meinten, sie seien zu kurz gekommen, schon. Ich erinnere mich aber an
ein Urteil eines nicht unbekannten westdeutschen Wissenschaftlers.
Die DDR habe »fast ein halbes Jahrhundert die Menschen verzwergt,
ihre Erziehung, ihre Ausbildung verhunzt«, schrieb ein Arnulf Baring
1991.
Und weiter:
»Ob sich heute dort einer
Jurist nennt oder Ökonom, Pädagoge, Soziologe, selbst Arzt oder
Ingenieur, das ist völlig egal: Sein Wissen ist auf weite Strecken
unbrauchbar […] Wir können den politisch und charakterlich
Belasteten ihre Sünden vergeben, alles verzeihen und vergessen. Es
wird nichts nutzen; denn viele Menschen sind wegen ihrer fehlenden
Fachkenntnisse nicht weiterverwendbar. Sie haben einfach nichts
gelernt, was sie in eine freie Marktwirtschaft einbringen können,«
Meines Wissens hat niemand
aus der Bundesregierung solcher Dummheit widersprochen. Wie auch dem
Slogan nicht „Leben wie bei Kohl und arbeiten wie bei Honecker“,
was die Ostdeutschen quasi zu Schmarotzern erklärte oder dem Urteil,
Ursache für rechtes Gedankengut im Osten sei das „Zwangstopfen“
in den Kinderkrippen der DDR. Nicht vergessen auch die Kampagne gegen
die Roten Socken, in dessen Folge nicht wenige DDR – Bürger durch
Selbstmord aus dem Leben schieden. Obwohl dies nicht wenige waren,
gibt es darüber in der Bundesrepublik nicht einmal eine Statistik.
Man kann sich bei diesen
Verleumdungen nicht darauf zurückziehen, dass es sich um freie
private Meinungsäußerungen handle. Was hatte doch Justizminister
Kinkel am 23. September 1991 auf dem 15. Deutschen Richtertag in Köln
gesagt?
Ich zitiere: »Sie, meine
Damen und Herren, haben als Richter und Staatsanwälte … eine ganz
besondere Aufgabe ...: mit dem fertigzuwerden, was uns das
vierzigjährige Unrechtsregime in der früheren DDR hinterlassen hat.
... Es muss gelingen, das SED-System zu delegitimieren, das bis zum
bitteren Ende seine Rechtfertigung aus antifaschistischer Gesinnung,
angeblich höheren Werten und behaupteter absoluter Humanität
hergeleitet hat …»
(Justizminister Kinkel
vor Staatsanwälten und Richtern auf dem 15. Deutschen Richtertag in
Köln am 23. September 1991.)
Was bedeutete das? Die
Deindustrialisierung der DDR ging einher mit tiefen Kränkungen von
DDR-Bürgern. Solche Kränkungen lassen sich schwer aus dem
Gedächtnis streichen, auch an der Wahlurne nicht.
Herr Gauck, der oft von
sich nur in der dritten Person spricht, rühmte die Auswechselung der
Eliten gar mit den Worten: »Wir konnten nicht zulassen, dass die
sozialistischen Globkes in ihren Ämtern und Positionen in Staat und
Gesellschaft blieben«.
Dies war eine empörende
Gleichsetzung von Tausenden entlassenen Lehrern und Wissenschaftlern,
Juristen und Angestellten der DDR mit dem Mitautor des Kommentars zu
den Nürnberger Rassegesetzen. Schlimm genug, dass dieser Mann in der
Bundesrepublik zum wichtigsten Politiker hinter Konrad Adenauer
aufstieg. Wie weit aber muss jemand von geschichtlicher Wahrheit und
Anständigkeit entfernt sein, der Globke heranzieht, um zu begründen,
warum 1990 die Eliten der DDR ausgetauscht wurden?
Nach vorliegenden
Untersuchungen wechselten die Nazis 1933 elf Prozent der Eliten des
Deutschen Reiches aus. In Westdeutschland wurden 1945 lediglich
dreizehn Prozent der Nazikader entfernt. Nach dem Anschluss der DDR
an die Bundesrepublik schickte die neue Herrschaft 85 Prozent der
DDR-Eliten ins berufliche und damit nicht selten auch ins soziale
Aus.
Als Herr Gauck zum
Bundespräsidenten gewählt wurde, bekannte er schon im zweiten Satz
seiner Rede: „Wir …, die nach 56-jähriger Herrschaft von
Diktatoren endlich Bürger sein durften. ... “
Gauck wirft 12 Jahre
Hitler – Barbarei, 4 Jahre sowjetisch besetzte Zone und 40
DDR-Jahre in einen Topf. Faktisch werden die Ostdeutschen zu Menschen
erniedrigt, die 1945 nur von braun zu rot gewechselt sind und
kritiklos Diktatoren folgten. Dabei wird jede antifaschistische
Gesinnung außer Acht gelassen.
Jedes Gleichheitszeichen
zwischen dem Nazireich und der DDR verbietet sich schon angesichts
von Auschwitz von selbst, angesichts des Blutzolls, den unter allen
Parteien Kommunisten und Sozialdemokraten am höchsten entrichtet
haben, angesichts von mehr als 50 Millionen Toten des Zweiten
Weltkrieges.
Man bezeichnet hierzulande
den deutschen Faschismus ja bis heute irreführend und verharmlosend
als Nationalsozialismus. Dabei sollte inzwischen jeder einigermaßen
gebildete Mensch wissen, dass der weder national noch sozialistisch
war, sondern einmalig verbrecherisch und kapitalistisch.
Die schrittweise und
durchaus widersprüchliche Überwindung der Naziideologie war eine
der größten Leistungen der DDR, die wir uns von niemandem
kleinreden lassen sollten.
Die DDR war die deutsche
Heimstatt des Antifaschismus. Ein Globke, ein Filbinger, ein
Oberländer oder auch ein Kissinger hätten in der DDR nie eine
Chance auf ein Amt gehabt.
Ich habe mir oft die Frage
gestellt:
Warum eigentlich gingen
Geistesschaffende und Künstler wie Bert Brecht, Anna Seghers, Arnold
Zweig, Johannes R. Becher, Stefan Hermlin, Friedrich Wolf, Max
Lingner, Lea Grundig, Theo Balden, Wieland Herzfelde, Helene Weigel,
Hanns Eisler, Bodo Uhse, Erich Weinert, Ernst Busch, Ludwig Renn,
Wolfgang Langhoff, Eduard von Winterstein, Hedda Zinner, Gustav von
Wangenheim und viele andere nicht nach Westdeutschland, sondern kamen
in die Ostzone bzw. später in die DDR?
Haben sie sich nicht
gerade deshalb für die DDR entschieden, weil sie hier die
Möglichkeit sahen, Krieg und Faschismus endgültig aus dem Leben der
Menschen zu verbannen?
Brecht hat sich dazu
unmissverständlich ausgedrückt: „Ich habe keine Meinung, weil ich
hier bin“, sagte er, „sondern ich bin hier, weil ich eine Meinung
habe.“
Einzigartig
an der DDR war auch:
Ein Drittel Deutschlands
war über 40 Jahre dem Zugriff des deutschen Kapitals entzogen. Das
ist aus der Sicht unserer politischen Gegner die eigentliche Sünde
der DDR, die niemals vergeben wird.
Nie mehr Bereicherung des
einen durch die Arbeit des anderen - das war Verfassungsgrundsatz in
der DDR. Niemandem war erlaubt, sich an der Arbeit des anderen zu
bereichern. Der Mensch war nicht mehr des Menschen Wolf. Er war kein
Marktfaktor, den man wie eine Schachfigur hin und her schieben
konnte. Nicht der Ellenbogen regierte, nicht der Egoismus, nicht das
Geld, sondern schrittweise, wenn auch durchaus widerspruchsvoll, das
menschliche Miteinander.
Vor einigen Tagen saß ich
in einem Caffè, ein Mann vom Nebentisch reichte mir eine Serviette,
die an meinem Tisch fehlte. Ich sagte: „O, das ist aber
aufmerksam“. „Ja“, antwortete mein Gegenüber, „die
Aufmerksamkeit füreinander, das Miteinander, das wir zu DDR –
Zeiten kannten, ist verloren gegangen. Das Menschliche ist weg, seit
es die DDR nicht mehr gibt“.
Das hat mich stark
aufgewühlt - wie auch ein Brief, den mir ein 56 - jähriger Mann
schrieb, der 1990 eine Firma gegründet hatte und mir nun auf zwei
Briefseiten beschrieb, wie gut es ihm geht in der neuen
Bundesrepublik. „Es scheint alles Besten“, endete er sein
Schreiben, „und doch bleibt tief im Herzen immer noch der Wunsch
nach einer gerechten, friedlichen und vernünftigen Welt.“
Seit 1990 heißt es:
„Aufbau Ost“. Sicher, es gab manches, was in der DDR im Argen
lag. Wir investierten zu wenig im produktiven Bereich, manche
Stadtzentren waren aus Mangel an Baumaterial und haltbarer Farbe
ziemlich unansehnlich. Unsere Wünsche waren immer größer als
unsere materiellen Möglichkeiten.
Die Ideale und die
Realitäten klafften nicht selten auseinander. Die Bundesrepublik
setzte ihre Ostbrüder und Ostschwestern Jahr für Jahr neu auf die
Embargoliste, die uns vom wissenschaftlich - technischen Fortschritt
in der kapitalistischen Welt ausschließen sollte. Unsere
Startbedingungen waren alles andere als gut. Ganz Deutschland hatte
den Krieg verloren. Die Ostdeutschen und später die DDR mussten
allein dafür zahlen. Die DDR-Reparationsleistungen waren 25-mal
höher als die der alten Bundesrepublik. Umgerechnet zahlte jeder
DDR-Bürger 16 124 DM für Reparationen, jeder Bundesbürger dagegen
gerade mal 126 DM. Die BRD bekam den Marschallplan - die DDR zahlte
für den Krieg. Das war eine ungleiche Arbeitsteilung. Manchmal denke
ich heute: Dass wir es trotzdem 40 Jahre durchgehalten haben, das ist
das eigentliche Wunder.
Doch:
Die DDR war 1949 zwar
auferstanden aus Ruinen, aber sie war 1990 keine Ruine, kein
Pleitestaat mit maroder Wirtschaft. Bis zuletzt wurde jede Rechnung
auf Heller und Pfennig bezahlt, auch, wenn die sich unwissend
Stellenden und die Verleumder der DDR das immer wieder bestreiten.
Wie eine geheiligte
Schrift behandeln sie permanent das vergilbte sogenannte
„Schürer-Papier“, obwohl sie genau wissen, dass Gerhard Schürer
und seine Mitautoren noch im November 1989 öffentlich die falschen
Zahlen und ihre Irrtümer korrigiert hatten.
Es ist schwer zu
verstehen, dass sie ihrem eigenen Geldinstitut, der Deutschen
Bundesbank, misstrauen. Es gibt einen Bericht von ihr unter dem Titel
– Zitat - „Die Zahlungsbilanz der ehemaligen DDR 23 1975 bis
1989.“ Darin heißt es, dass Ende 1989, „die Nettoverschuldung
der DDR betrug 19,9 Milliarden Valutamark« also umgerechnet in Euro
nicht einmal zehn Milliarden. Von 10 Milliarden Euro geht kein Staat
bankrott.
Indem man behauptet, die
DDR sei bankrott gewesen, kann man verdecken, dass sich der wirkliche
Kollaps der DDR-Industrie erst nach dem Anschluss der DDR an die BRD
ereignete: Nach dem 1. Weltkrieg wurde gegenüber dem Vorkriegsstand
von 1913 noch 57% produziert. Nach dem 2. Weltkrieg 1946 im
Verhältnis zum Vorkriegsstand von 1938 immerhin noch 42%, 1992 auf
dem Höhepunkt der Privatisierung des Volkseigentums gegenüber dem
vorletzten Jahr der DDR nur noch 31 Prozent.
Das wirkliche Problem war
1990 nicht eine vermeintlich marode Wirtschaft der DDR. Wir hatten
sicher auch Marodes, aber wir hatten auch viel Modernes. Wir hatten
auch Kombinate, die Weltniveau produzierten. Wer Letztes bestreitet,
behauptet damit ja auch, dass uns bundesdeutsche Konzerne nur Schrott
geliefert hätten, denn 40 % unserer Industrieanlagenimporte kamen
aus der alten Bundesrepublik.
Der Kern des Problems 1990
war ein ganz anderer:
Alles in der Wirtschaft
gab es nun zweimal in Deutschland. Einmal musste sterben. Nicht nur,
was eventuell marode war, sondern auch das Moderne. Das Sterben hat
die Treuhand organisiert, aber nicht auf eigenen Antrieb. Es war
politisch gewollt. Das Volkseigentum der DDR wurde verscherbelt. 85%
davon erhielten Eigentümer aus dem Westen, 10% ging ins Ausland und
knappe 5 % blieben im Osten.
Die Bundesrepublik
übernahm von der DDR etwa 8.000 Betriebe, 20 Milliarden Quadratmeter
Agrarflache, 25 Milliarden Quadratmeter Immobilien, Forsten, Seen,
40.000 Geschäfte und Gaststatten, 615 Polikliniken, 340
Betriebsambulatorien, 5.500 Gemeindeschwesternstationen, Hotels,
Ferienheime, das beträchtliche Auslandsvermögen der DDR, Patente,
Kulturguter, geistiges Eigentum und manches mehr.12 Zum Beispiel den
Berliner Fernsehturm, der nur deshalb nicht abgerissen wurde, weil
das bautechnisch nicht ging, aber inzwischen das Wahrzeichen Berlins
ist Und wo feiert die bundesdeutsche Elite heute ihre vermeintlichen
Siege? Im Schauspielhaus Berlin, in der Semperoper Dresden und im
Gewandhaus Leipzig – alles vom «maroden DDR – Staat» bezahlt.
Die DDR hinterließ der
Bundesrepublik keine Erblast in Höhe von 400 Milliarden DM – wie
behauptet wird, sondern ein Volksvermögen von 1,74 Billionen Mark an
Grundmitteln und 1,25 Billionen Mark im produktiven Bereich - ohne
den Wert des Bodens und den Besitz von Immobilien im Ausland
gerechnet. Angesichts dieser Fakten mutet es wie ein schlechter Witz
an, die Treuhand und ihre
(Die Zahlen nennt
Herbert Graf in „Ossietzky“ 16/2018. Zahlen zur Ökonomischen
Situation der DDR stammen aus den Erinnerungen von Gerhard Schürer
aus seinem Buch „Gejagt und verloren.“)
Anleiter in der
Bundesregierung von der Schuld für die Deindustrialisierung der DDR
freizusprechen.
In den Berichten zum
diesjährigen Tag der deutschen Einheit wird davon gesprochen, dass
es gut sei – Zitat - „..., dass wir uns mit unserer jüngsten
deutschen Geschichte auseinandersetzen“.
Das ist jedoch nicht wahr.
Allgegenwärtig ist nur die DDR-Geschichte. Es wird aber höchste
Zeit, sich im Kontext damit auch kritisch mit der Entstehung und
Existenz der alten Bundesrepublik und ihrer Schuld an der deutschen
Spaltung auseinanderzusetzen.
Die Jahre zwischen 1949
und 1990 waren doch nicht nur das „Wirtschaftswunder“ und das
„Wunder von Bern“, nicht nur die DM und das eigene Auto, nicht
nur die Italienreise und all die anderen Erfolgsgeschichten, die uns
dieser Tage wieder aufgetischt werden.
Verdeckt wird, dass
beispielsweise die separate Währungsreform 1948 das eigentliche
Datum der deutschen Spaltung ist, wodurch die spätere DDR aus dem
internationalen Wirtschaftsverkehr praktisch ausgeschlossen wurde.
Es gab doch in der alten
Bundesrepublik nicht nur gewaltige Streiks, über die man heute kaum
noch spricht, sondern auch tiefe gesellschaftliche Konflikte. Die
KPD, die FDJ und andere 26 fortschrittliche Organisationen wurden
verboten, ihre Mitglieder gejagt, verurteilt und inhaftiert.
Am 11. Mai 1952 wurde das
FDJ – Mitglied Philipp Müller auf einer Friedenskundgebung in
Essen und am 2. Juni 1967 der Student Benno Ohnesorg in Westberlin
von der Polizei erschossen. Wie ein roter Faden zieht sich doch die
Verfolgung Andersdenkender durch die ersten Jahre der Bundesrepublik.
Notstandsgesetze wurden beschlossen und ein „Radikalenerlass“.
Wenn es also darum geht,
auf welcher Seite der Geschichte jemand gestanden hat, habe ich als
DDR-Bürger durchaus viele Fragen an die alte Bundesrepublik:
Unterstützte sie
nicht die schmutzigen Kriege, die Frankreich gegen Algerien und die
USA in Indochina führten, die Vietnam in die „Steinzeit zurück
bomben“ wollten?
Machte sie nicht immer
gute Geschäfte mit dem Apartheid – Regime in Südafrika, das
Nelson Mandela verbannt hatte?
Standen sie nicht
immer an der Seite jener, die das Abenteuer in der Schweinebucht
gegen das freiheitsliebende kubanische Volk oder auf Grenada
unterstützten?
Stand sie nicht immer
an vorderster Stelle bei Waffenexporten in Krisenregionen?
Hatte sie nicht
exzellente Beziehungen zu den faschistischen Regimes in Spanien und
Portugal?
Gab es nicht ein
heimliches Einverständnis mit den Putschisten in Griechenland 1967
und in Chile 1973?
Die DDR und die BRD
standen über 40 Jahre in einem Bürgerkrieg, in einem kalten zwar,
immer am Rande einer atomaren Katastrophe. Als ich im Frühjahr 1990
noch unter dem frischen Eindruck der Herbstereignisse89 stand, habe
ich mir viele Fragen gestellt:
Werden nun etwa neue
Mauern errichtet?
Mauern gegenüber
linken Andersdenkenden?
Mauern gegenüber
jenen Werten, die aus der DDR in den Prozess der deutschen
Vereinigung eingebracht werden könnten?
Mauern zwischen den
Deutschen und ihren Nachbarvölkern, dessen Sicherheitsbedürfnisse
zu respektieren sind?
Mauern zwischen
Deutschland und dem sozialistischen Kuba, das von den sozialistischen
Ländern Europas allein gelassen wurde und sich seither mutig wehrt?
Mauern zwischen der
NATO und der damals noch existierenden Sowjetunion?
Wenn ich mir diese Fragen
nun fast dreißig Jahren später wieder beantworte, komme ich zu
keiner anderen Erkenntnis als jener, dass die neuen Mauern dazu
geführt haben, das die Welt von heute so durcheinander geraten ist
wie sie jetzt ist. Die Welt von heute ist ohne Sowjetunion und ohne
die DDR weder gerechter noch friedlicher geworden.
Heute geht es um alles –
um Sein oder Nichtsein, Krieg oder Frieden. Dass man in dieser Zeit
immer noch das Feindbild DDR braucht, zeigt, dass die herrschenden
Politiker keine wirkliche Vorstellung von der deutschen Einheit
haben.
Man kann die deutsche
Einheit vielleicht herbeimoralisieren,
indem man die Realitäten nicht zur Kenntnis nimmt. Man kann sie –
wie sich zeigt – schlecht herbeifinanzieren,
weil es außer Geld auch noch andere Werte gibt.
Herbeikriminalisieren,
indem man die DDR als Irrweg denunziert, kann man die Einheit auf
keinen Fall. Mehr Respekt für alle früheren DDR-Bürger wird nicht
gelingen, solange man den Staat, auf dessen Boden diese Leistungen
möglich wurden, verteufelt.
Die Mauer in Berlin ist
weg. Sie wurde nach Osten verschoben, besteht nicht mehr zwischen
NATO und Warschauer Vertrag, sondern zwischen der NATO und Russland.
Sie ist folglich dort, wo
sie im Prinzip an jenem 22. Juni 1941 verlief, als die Sowjetunion
überfallen wurde. Am Vorabend des diesjährigen Tages der Einheit
kam eine neue, eine sehr beunruhigende Meldung: „Die Nato plant für
2020 ein Manöver mit über 20.000 Soldaten. … geprobt werden soll
dabei eine schnelle Verlegung von Truppen nach Polen und ins
Baltikum. Das heißt wieder, ran an Russlands Grenzen. Dass
Deutschland dabei eine zentrale Rolle einnehmen soll, ist für mich
eine geschichtsvergessene Schande.
Das ist nun wahrlich nicht
die Wende, die 1989 auf den Straßen der DDR gefordert wurde. Dreißig
Jahre nach der Öffnung der Grenzübergänge in Berlin sollte es
heißen: Ohne Russland kann es keine europäische Friedensordnung
geben. Aus der deutschen Politik muss die Russophobie verbannt
werden. Deutsche Politiker müssen gegenüber Russland einen anderen
Ton anschlagen, der Freundschaft und Zusammenarbeit, nicht aber
„Sanktionen“ und „Bestrafungen“ fördert.
Wie Euch wahrscheinlich
aufgefallen ist, spreche ich nicht vom Scheitern
des Sozialismus, sondern von einer bitteren Niederlage.
30 Ist das nur eine formale Frage? Für mich nicht. Scheitern
hat etwas Endgültiges an sich, Niederlage
ist eher etwas Zeitweiliges. Wenn der Sozialismus gescheitet wäre,
könnte das ja auch bedeuten, dass er auch in Zukunft keine Chance
mehr hätte und der Kapitalismus doch das Ende der Geschichte wäre.
China beweist schon heute das Gegenteil.
Der erste Anlauf für eine
ausbeutungsfreie Gesellschaft, die Pariser Kommune, überdauerte 72
Tage, der zweite Anlauf, die Oktoberrevolution, hielt 72 Jahre und
die DDR 40 Jahre. Der dritte Anlauf wird auch in Europa kommen. Wann
und wie – das weiß heute niemand. Die Erfahrungen der DDR – die
positiven wie negativen – werden dabei auf jeden Fall von Bedeutung
sein.
Und deshalb sage ich:
Wehren wir uns auch weiterhin dagegen, unser sinnvoll gelebtes Leben
in den Schmutz ziehen zu lassen, tun wir auch weiterhin das uns
Mögliche, damit nie wieder – wie es in der DDR – Nationalhymne
heißt - eine Mutter ihren Sohn beweint
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