SOLDATEN
FÜR DEN FRIEDEN (Teil acht)
Leseprobe
aus „AUSBRUCH AUS DER STILLE. Persönliche Lebensbilder“ im 70.
Jahr der Gründung der DDR am 07. Oktober 1949
Der
Autor Harry Popow wurde 1936 in Berlin-Tegel geboren, wuchs in der
DDR auf, arbeitete als Militärjournalist im Dienstgrad
Oberstleutnant in der NVA und betätigt sich heute als Blogger,
Buchrezensent und Autor. Er ist seit 1961 sehr glücklich
verheiratet.
Tee mit Rum
Eine
Übung – die erste. Die achtzehn- bis neunzehnjährigen
Offiziersschüler sitzen dichtgedrängt und vor Kälte zitternd auf
offenen Lastkraftwagen, die man wie gesagt H3A nennt. Schnee und
kalter Fahrtwind. Eine lange Marschkolonne. Sie bewegt sich mit
mäßigem Tempo auf den schneeglatten Straßen und tief verschneiten
Waldwegen. Kilometer um Kilometer. Es geht in Richtung ...? Die
Schüler wissen es nicht. Und wenn? Was würde das ausmachen? Gar
nichts. Später, es ist schon Nacht, wird ein Konzentrierungsraum
bezogen. Das ist ein Waldstück, in dem man sich vor dem Angriff
sammelt. Wald und Berge ringsumher. Und eine unheimliche Stille. Die
Fahrzeuge sollen getarnt abgestellt werden, Parolen machen die Runde,
Befehle müssen weitergegeben werden, aber im Flüsterton. Alles ist
noch ungewohnt für die jungen Leute. Aber endlich sich bewegen
können, den Schnee von der froststarren Uniform schütteln,
Schützenmulden ausheben im steinhart gefrorenen Erdboden, sich für
den Angriff vorbereiten. Im Morgengrauen ist es soweit. Junge Männer
in Uniform stolpern über das Übungsgelände, stürzen in große
Löcher, versinken im Schnee, geraten außer Atem, fangen an zu
keuchen, und mancher mag denken, mein Gott, wann hat das alles ein
Ende? Später gibt es Tee mit ein wenig Rum, wenigstens etwas. In
Ohrdruf, im Thüringischen gelegen, befindet sich dieser
Truppenübungsplatz, erfahren nunmehr die Schüler.
Höhepunkte,
große und kleine, nisten sich schnell mal ins Gedächtnis ein. So
auch dieser: Taktikausbildung auf dem Drosselberg. Oberleutnant P.,
„Bazooka“, wie man ihn nach einer Bezeichnung für eine
amerikanische Panzerabwehrwaffe scherzhaft nennt, hat mit den
Schülern kein Erbarmen. Zunächst stehen sie drei Stunden im Regen
und müssen sich Theoretisches zum Thema Verteidigung einprägen. Die
Klamotten triefen vor Nässe. Plötzlich kommt Kälte auf, alles
Klitschnasse verwandelt sich in glitzerndes Eis. Die Uniformen werden
steif, die Tropfen auf den MPi‘s sind gefroren. „Bazooka“ steht
vor der Front, unermüdlich erklärt er, der Taktiklehrer aus
Leidenschaft. Die Konzentration geht den jungen Leuten allmählich
flöten. Der Fluch auf den Lippen – er stirbt, bevor er ausgestoßen
wird. Es bringt nichts. Und dann läßt der Oberleutnant seine
Schützlinge üben. Die Kleidung klebt und klirrt am Körper – er
fragt nicht einmal danach. Warum auch? Ekelhaft! Und dabei auch noch
denken müssen, Entschlüsse fassen. Herrgott, hat der Mann kein
Erbarmen? Nicht ein bißchen Mitgefühl? Keiner von den zukünftigen
Offizieren wird diese Ausbildung wohl jemals vergessen. Viele Tage
später wird der zukünftige Offizier im Zug sitzen nach Leipzig, um
in den Kurzurlaub zu fahren. Schaut gedankenverloren aus dem Fenster,
betrachtet die vorüberziehenden Felder und Berge, ertappt sich bei
taktischen Überlegungen, daß er an den Vorderhängen von geeigneten
Hügeln „Verteidigungsstellungen“ ausheben lassen würde. Er
erschrickt. Hat‘s ihn schon so erwischt? Kann er sich nicht
losreißen von der Knüppelei in der Ausbildung? Er nimmt ein Buch
zur Hand, will sich ablenken, zum Teufel noch mal!
Wache
schieben, das Objekt sichern, das gehört dazu. Jeder Zug muß alle
paar Wochen mal ran. Die einen stehen Posten, die anderen haben
Wirtschaftsdienst, helfen in der Küche Kartoffeln schälen,
abwaschen usw. Henrys Postenbereich ist diesmal das Munitionslager.
Die Sonne wärmt. Es ist am frühen Nachmittag. Man ist alleine. Man
träumt so vor sich hin. Irgendwo im Grünen zwitschert es. Im
Wachlokal ist es durch die Raucher ohnehin muffig, also genießt er
jetzt die frische Frühlingsluft. Überhaupt: Wer soll hier etwas
stehlen wollen. Pfeif drauf, da steht eine Kiste, auf der läßt es
sich bestimmt gut sitzen. Wehe aber, das sieht jemand, der
schmalgesichtige, sommersprossige und rothaarige Zugführer mit den
großen Zähnen etwa - dann wäre der Teufel los. Ein
unsympathischer Kerl, seine zur Schau getragene Gefühlskälte. Henry
sitzt also in der Sonne, verbotenerweise. Alles ist ruhig. Plötzlich
spürt er, irgendwer ist hinter ihm, beobachtet ihn mit einem
stechenden Blick. Henry ahnt etwas ... Langsam dreht er sich um, er
will dem anderen zeigen, daß er keine Angst hat. Und tatsächlich:
Da steht er, breitbeinig, in etwa zwanzig Meter Entfernung, natürlich
wieder grinsend, dann aber fauchend: „Ich lasse sie ablösen!“
Dabei wird er krebsrot im Gesicht, was ihn noch häßlicher macht.
Kurz darauf im Kompaniebereich. Der Vorgesetzte läßt den Schüler
ins Zugführerzimmer kommen. Und kurzer Prozeß, er verbrummt ihm
einen Tadel. Unter vier Augen sozusagen, unter Ausschluß der
Kompanie-Öffentlichkeit. Immerhin - wenigstens ein menschlicher Zug.
Am gleichen Tag Ablenkung durch einen Brief von Henrys Mama. Sie
bittet ihn um seine Lebensmittelkarten, „da
HO Butter ist nicht zu haben“.
(Man konnte – falls vorrätig – teure Butter in den neu
gegründeten Handelsorganisationen kaufen.)
Es
scheint, Henry faßt Fuß im Kasernenmileu. Da sind der Ausgang, die
Kumpels und die Briefe, wenigstens von Zeit zu Zeit. So ist’s
auszuhalten. Und eine Perspektive hat man ja schließlich auch. Da
trifft neuerlich Post ein. Diesmal vom sowjetischen Konsulat in
Leipzig. Damit hat Henry nun gar nicht gerechnet. „Was wollen die
denn von dir“, fragt er sich. Er wird zu einer Aussprache
eingeladen. Eine Ahnung steigt auf: Seine Mutter hatte vor Jahren
den Antrag gestellt, mit den Kindern zurückzukehren in ihre Heimat.
Damals, so erinnert Henry sich, waren sie als Kinder begeistert.
Allein das Spielzeug von Mama endlich in Besitz zu nehmen, das
Tretauto, die Puppen und Stofftiere, das war schon verlockend. Aber
die Zeit ist jetzt eine andere. Man ist älter geworden, kritischer,
und jeder der Kinder geht seinen Weg. Nur die Mutter, sie wird wohl
immer von einer Heimkehr träumen. Im Gebäude des Konsulats, Henrys
Mutter ist mit dabei, kommen zwei sehr kultiviert aussehende Herren
in grauen Anzügen auf Henry zu, bitten ihn ins Arbeitszimmer, ihn
allein, seine Mutter im großen Vorsaal wartet. Man rät ihm ab. In
der SU sei es sehr schwierig zu leben, anders als in der DDR. Und er
würde sich wohl kaum einleben ...
Der
Fall ist klar, Henry bleibt. Eine Entscheidung, die nicht erst jetzt
gefallen ist. Mama hat wohl damit auch gerechnet, sie ist nicht böse.
(Erst
sehr viel später wird Henry mit recht vermuten, daß die Stalinzeit
im Jahre 1955 noch nicht verwunden war, vielleicht hätte man seine
Mutter, die ja ins faschistische Deutschland gegangen ist, gar nicht
so gerne empfangen, mindestens ...)
Die Schwester der Theorie ist die Praxis, eine Binsenweisheit. Also werden die Schüler ein Praktikum absolvieren - Gruppenausbildung in Eggesin. Eggesin? Den Namen dieses Ortes hatten die jungen Männer von einigen Offizieren bereits gehört. In der nordöstlichsten Ecke der Republik, hier oben in abgelegenen Gegenden, stehen graue Kasernen die Menge. Erbaut bis 1952 für den „Dienst für Deutschland“, der aber schnell wieder aufgelöst wurde. Aber die Legenden! Henry und die anderen Offiziersschüler hörten Unglaubliches. Junge Frauen, die am Bau beteiligt waren, hielten auf der Straße die LKW an, erst mußten die Fahrer Liebesdienste erfüllen, dann durften sie weiterfahren. Und von „Kämpfen“ der Spezialtruppen gegeneinander war die Rede, von „Ohrenabschneidern“ usw.
Und nun sind die zukünftigen Offiziere selbst vor Ort. Aber von all den Geschichten ist nichts mehr zu spüren. Henry wird als Gruppenführer in einem Zug arbeiten. Noch hat er sich nicht daran gewöhnt, Befehle zu erteilen. Einmal, es ist während einer Übung in der Nähe von Ahlbeck (an der polnischen Grenze) beziehen die Praktikanten eine Sturmausgangsstellung. Vom Zugführer erhalten sie den Gefechtsbefehl. Anschließend, so wird gelehrt, soll man sich „die Aufgabe klarmachen“, einen von etwa zehn Punkten, die man abarbeiten muß. Aber in minutenschnelle, und nicht so wie Henry. Der nämlich verschwindet, versteckt sich regelrecht in einem Unterstand, um in Ruhe „nachdenken“ zu können über seine „große Verantwortung“ in den nächsten Stunden beim Angriff, bei dem er acht echte Soldaten zu führen hat. Doch da wird er im Nachdenken gestört. Irgendein Offizier steckt den Kopf herein, sieht ihn im Halbdunkel und fragt: „Was machen sie denn hier ...?“ Der Praktikant, leicht erschrocken, daß man ihn in so absonderlicher Stellung erwischt hat, kontert dennoch ziemlich schnell und offen: „Ich mache mir die Aufgabe klar.“ Der Kontrolloffizier erwidert nichts und verschwindet, sprachlos und feixend, wie Henry vermutet. Gewiß aber hat er ungläubig den Kopf geschüttelt.
Abends gehen die jungen Männer tanzen ins Volkshaus von Eggesin, das ganz in der Nähe vom Bahnhof liegt. Ein großer Saal. An der Seite eine Theke. Eine kleine Kapelle. Es dröhnt im Saal, es wird gesoffen und krakeelt. Henry tanzt ein wenig unbeholfen mit einem dünnen und zierlichen Dorfmädchen, bringt es spät abends nach Hause, wagt aber nicht, es zu küssen. Er hat das Mädchen denn auch nie wiedergesehen. Einmal nimmt ihn sein Zugführer, ein gemütlicher, immer lächelnder blonder Nordländer, mit in die Stadt Ückermünde zum Tanz. Wie es der Teufel will, dessen und Henrys Mädchen wohnen im selben Haus mit Hof und Stallungen. Also haben sie den gleichen Weg, die Viere. Nur, als das ganze im Dunkeln konkret werden sollte, müssen sie sich entscheiden, welches Paar in den Stall darf. Was heißt entscheiden? Gesiegt hat natürlich die „höhere“ Gewalt. Henry muß sich mit einem Stehplatz am Holzstapel unter dem Sternenhimmel zufrieden geben. Zur Belohnung darf er auf dem Gepäckträger des Vorgesetzten-Fahrrades Platz nehmen. Bis nach Eggesin/Karpin sind es über zehn Kilometer. „Strample schön, strample“, freut sich Henry, der genug hat von solcher Sause ...
Zum
Inhalt
Ausgangssituation
ist Schweden und das Haus, in dem die Ziebells wohnen. Der Leser
erfährt zunächst, wer die Eltern waren (seine Mutter stammt aus
Moskau), berichtet kurz vom Evakuierungsort 1943/44 in Pommern, von
der Rückkehr in das noch unter Bombenhagel liegende Berlin
(Schöneberg), von den Eindrücken nach Kriegsende und vom Einleben
in der neuen Gesellschaft, dabei auch von einer Begegnung der Jungen
Pioniere mit Wilhelm Pieck.
Die Lehrzeit
wird skizziert mit der Arbeit im Zwickauer Steinkohlenrevier, mit
Tätigkeiten in der Geologischen Kommission der DDR und mit dem
Besuch der Offiziersschule der KVP/NVA in Erfurt und in Plauen, wo er
seine spätere Frau kennenlernte.
Wie lebt ein
junger Offizier in der Einöde im Nordosten der DDR, welche Gedanken
und Gefühle bewegen ihn? Darum geht es in den nächsten
Aufzeichnungen seiner Impressionen. Seine Träume führen ihn
mitunter weg vom Kasernenalltag und so nimmt er die Gelegenheit wahr,
für fünf Monate im Walz- und Stahlwerk Eisenhüttenstadt als
einfacher Arbeiter tätig zu sein.
Durch
Versetzungen gelangt er nach Potsdam. Dabei kommen Querelen des
Alltags als Ausbilder und später als Politoffizier nicht zu kurz.
Ein Glücksfall für ihn, als er nach Neubrandenburg in einen höheren
Stab als Redakteur berufen wird. Er beginnt ein Fernstudium als
Diplomjournalist an der Karl-Marx-Universität in Leipzig. Inzwischen
ist er längst glücklich verheiratet. Die Höhen und Tiefen eines
Militärjournalisten – die zwingen ihn, vieles neu zu überdenken.
Vor allem als einstiger Ausbilder gelingt es ihm, die Probleme der
Soldaten immer besser zu verstehen und sie bildhaft zu schildern.
Die spätere
Arbeit als Abteilungsleiter in der Wochenzeitung „Volksarmee“
macht ihm nicht nur Spaß, er nimmt auch Stellung gegen
Ungereimtheiten, was ihm nach der Entlassung aus dem aktiven
Armeedienst und der Tätigkeit als Journalist im Fernsehen der DDR
nicht nur böse Blicke einbringt. So fährt er im September 1989
seiner Tochter nach Ungarn hinterher, um herauszukriegen, weshalb sie
mit ihrem Partner abgehauen ist; er gibt ihr dabei das Versprechen,
sie in keiner Weise als Tochter zu verurteilen. Nach seiner Rückkehr
wird er mit einer Parteistrafe gerügt, die Wochen später angesichts
der vermeintlichen Verstöße und Fehler durch die Politik nicht mehr
relevant scheinen und wieder gestrichen wird. Auf Unverständnis
stößt er auch bei seinen Mitarbeitern, als er nach der Teilnahme an
der Dokumentarfilmwoche1988/89 in Leipzig angeblich nicht die
erwarteten Schlussfolgerungen zieht.
Nach der
Wende: Versuche, arbeitsmäßig Fuß zu fassen, u.a in Gran Canaria
und in einer Steuerfirma. Die Suche nach Alternativen, günstiger zu
wohnen, sowie die Sehnsucht nach Ruhe führt das Ehepaar nach
Schweden.
Episoden aus dem Dorfleben und von vielen Begegnungen,
so z.B. bei der Geburtstagsfeier einer siebzigjährigen Schwedin,
machen den Alltag und die feierlichen Momente in der „Stille“
nacherlebbar. Keine der in der DDR erlebten Widersprüche und
politischen Unterlassungssünden wirft den überzeugten Humanisten
aus der Bahn, wogegen die Kapitaldiktatur mit ihren hörigen Medien,
politische Manipulationen und Lügen im angeblich so demokratischen
Deutschland ihn aufbringen – er bleibt ein Suchender!
Harry Popow: AUSBRUCH AUS DER STILLE.
Persönliche Lebensbilder in Umbruchzeiten. © Copyright by Harry
Popow, Verlag: epubli, Druck: epubli – ein Service der neopubli
GmbH, Berlin, Erscheinungsdatum 18.02.2019, ISBN: 9783748512981,
Seiten: 500, Preis: 26,99 Euro
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen