SOLDATEN
FÜR DEN FRIEDEN (Teil neun)
Leseprobe
aus „AUSBRUCH AUS DER STILLE. Persönliche Lebensbilder“ im 70.
Jahr der Gründung der DDR am 07. Oktober 1949
Der
Autor Harry Popow wurde 1936 in Berlin-Tegel geboren, wuchs in der
DDR auf, arbeitete als Militärjournalist im Dienstgrad
Oberstleutnant in der NVA und betätigt sich heute als Blogger,
Buchrezensent und Autor. Er ist seit 1961 sehr glücklich
verheiratet.
Parade in Berlin
Abfahrt vom Oberen Bahnhof in Plauen. Schlager aus Kofferradios fast in jedem Güterwagen. Einige greifen zur Gitarre. Die Jungs sind lustig. Es geht nach Berlin. Der 1. Mai steht vor der Tür. Auf dem Marx-Engels-Platz sollen die Jungs paradieren. Sie freuen sich. Immerhin eine Abwechslung. Vielleicht wird man paar Mädchen sehen, wer weiß. Fit sind sie jedenfalls für den Vorbeimarsch. Wie haben sie sich geschunden. Abend für Abend – tagsüber ging schließlich der Schuldienst weiter – auf dem Exerzierplatz: Gewehrgriffe gekloppt, den Exerzierschritt geübt, erst einzeln, dann in Rotten, dann in ganzen Marschblöcken. Acht geschlagene Wochen lang. Gegen Mittag treffen die Schüler in Berlin-Stahnsdorf ein. Hier, in einer alten Kaserne werden sie schlafen und essen. Am Abend vier Stunden Fahrt mit Kraftfahrzeugen der NVA um das südliche Berlin herum zum Marx-Engels-Platz. Kräftiges Essen aus der Feldküche auf dem Hof des Finanzministeriums. Mitternacht wird es empfindlich kühl, doch die nächtliche Probe hält einen warm. Deutlich sieht man die erleuchtete Uhr vom Rathaus. Die Uhr geht auf Mitternacht zu. Man wird müde.
Früh 7 Uhr waren die Paradeleute wieder in
Stahnsdorf, dem Ort, der für ihn und Cleo einst das erste gemeinsame
Zuhause sein wird. Aber davon kann Henry nichts ahnen, er hat wie
immer ein Auge für das herrliche Frühlingsgrün, für die
wunderschön weiß blühenden Obstbäume. Er schreibt: „Als wir
gestern die Stalinallee entlang fuhren - überall Lichterglanz,
Reklame, sich küssende Pärchen, viele Spaziergänger. Alles ist
sehr amüsamt. Ich spüre, daß das Leben noch mehr zu bieten hat als
das Armeeleben. Manchmal muß man dies schnuppern können, um Kraft
zu erhalten, um nicht zu verzagen. Ohnehin: In mir erwacht der
Städter. Seit 1954 war ich nicht mehr in Berlin. Herrlich ist es
hier. Gute Nacht Cleo.“
Ein Sonnabend. Die Offiziersschüler
dürfen in Stahnsdorf nicht ausgehen. Wohin auch? Nach dem zehn
Kilometer entfernten Potsdam? Außerdem, in greifbarer Nähe befindet
sich die Endstation der S-Bahn. Die Bahn führt nach wenigen Metern
direkt nach Westberlin hinein. Henry überlegt, abends vielleicht in
den Regimentsklub zu gehen, mal sehen, welchen Film die heute
spielen. Es ist 17.25 Uhr. Er liegt rücklings auf der Decke und
schaut in den mit Schäfchenwolken bedeckten Himmel. Ein herrliches
Wetter. Schlager erklingen. Gestern mußten alle auf der Straße vor
dem Objekt noch einmal paradieren, damit auch nichts schief geht vor
der „Weltöffentlichkeit“.
Sonntag. Strahlender Sonnenschein. Man sonnt sich. Jazz
am laufenden Band von der Kapelle der Seestreitkräfte. Elegant und
geschmackvoll gekleidete junge Mädchen, die auch der junge Mann -
auf der Wiese innerhalb des Kasernenzaunes liegend - beobachten kann.
Sie kommen vom nahegelegenen S-Bahnhof Stahnsdorf, also aus
Westberlin. Am Abend kulturelle Betreuung: Der Film „Das
Geständnis“. Übermorgen ist es endlich soweit: Die Parade!
Verpflegung wird auch besser. Dienstag war Meeting mit Hans
Marchwitza, dem Schriftsteller. Doch Henry hat sich nichts gemerkt,
was er sagte. Vielleicht war er mit den Gedanken bei Cleo?
1.
Mai 1957. Schon früh um 5 Uhr sind die Paradetruppen in der Nähe
des Marx-Engels-Platzes eingetroffen. 8.30 Uhr. Sie nehmen gegenüber
der Tribüne Aufstellung. „Rührt euch!“ Dann warten, warten.
Stille liegt über dem Platz. Wie viele Minuten noch? Keiner wagt,
nach seiner Armbanduhr zu schauen. Die Sonne prallt auf die schweren
und heißen Stahlhelme. Henry denkt, hoffentlich geht alles gut, ihm
klopft das Herz bis sonst wohin. Wenn nur niemand ins Stolpern kommt,
nicht auszudenken. Er wischt Befürchtungen einfach weg, dann wird
ihm wohler. Er erinnert sich: Vor Jahren war er an der Spitze der
Wilhelm-Pieck-Schule als Trommler, der den Tritt angibt, an der
Tribüne vorbeimarschiert, und jetzt in Uniform. Er hält Linie,
Henry ist zufrieden. Sein Blick geht zur Tribüne, da sieht er, ein
Genosse aus seinem Block, er steht ausgerechnet in der ersten Reihe,
fällt plötzlich um, eine Ohnmacht. Schnell und lautlos wird er nach
hinten gebracht, ein Ersatzmann ist schon zur Stelle. Es ist an alles
gedacht.
Endlich. Die Uhr vom Roten Rathaus schlägt neunmal. Meldung
des Kommandanten der Parade an den Minister. Da fallen Flugblätter
vom Himmel. Klar, Westberlin liegt fast in Rufweite hinter dem
Brandenburger Tor. Man will von drüben provozieren? Lachhaft. Dann
das Kommando: „Rechts um! Das Gewehr über. Im Gleichschritt
marsch!“ Großer Schwenk, wenig später geht der Gleichschritt in
den Exerzierschritt über. Viele Meter vor der Tribüne senkt sich
die Linke mit dem Gewehrkolben und die Rechte ergreift den Karabiner,
der nun in die linke Hand geschmettert wird, der Kopf wendet sich
ruckartig nach rechts, der Blick geht hinauf zur Regierung. Acht
geschlagene Wochen Training in Plauen auf dem Exerzierplatz haben
sich ausgezahlt. Was in Fleisch und Blut übergegangen ist, bleibt
vorführbar – auch nach Jahren noch, zum Gaudy für die Enkel...
Wenig später marschieren die Schüler bereits auf der Stalinallee,
der späteren Karl-Marx-Allee. Begeisterte Leute, Beifall.
Als
die Offiziersschüler am 2. Mai früh um 7.30 Uhr wieder in Plauen
eintreffen, müde und zerschlagen, erfahren sie, sie sollen auch in
ihrer Garnisonstadt paradieren, und zwar am 8. Mai, dem Tag der
Befreiung. Freude darüber empfindet vielleicht nur Henry, hofft er
doch, Cleo sieht ihn. Ob sie darauf reflektieren würde, dieser
Gedanke kommt ihm erst gar nicht.
Zum
Inhalt
Ausgangssituation
ist Schweden und in Erinnerung das Haus in Berlin Schöneberg, in dem
die Ziebells 1945 noch wohnen. Der Leser erfährt zunächst, wer die
Eltern waren (seine Mutter stammt aus Moskau), berichtet kurz vom
Evakuierungsort 1943/44 in Pommern, von der Rückkehr in das noch
unter Bombenhagel liegende Berlin (Schöneberg), von den Eindrücken
nach Kriegsende und vom Einleben in der neuen Gesellschaft, dabei
auch von einer Begegnung der Jungen Pioniere mit Wilhelm Pieck.
Die Lehrzeit
wird skizziert mit der Arbeit im Zwickauer Steinkohlenrevier, mit
Tätigkeiten in der Geologischen Kommission der DDR und mit dem
Besuch der Offiziersschule der KVP/NVA in Erfurt und in Plauen, wo er
seine spätere Frau kennenlernte.
Wie lebt ein
junger Offizier in der Einöde im Nordosten der DDR, welche Gedanken
und Gefühle bewegen ihn? Darum geht es in den nächsten
Aufzeichnungen seiner Impressionen. Seine Träume führen ihn
mitunter weg vom Kasernenalltag und so nimmt er die Gelegenheit wahr,
für fünf Monate im Walz- und Stahlwerk Eisenhüttenstadt als
einfacher Arbeiter tätig zu sein.
Durch
Versetzungen gelangt er nach Potsdam. Dabei kommen Querelen des
Alltags als Ausbilder und später als Politoffizier nicht zu kurz.
Ein Glücksfall für ihn, als er nach Neubrandenburg in einen höheren
Stab als Redakteur berufen wird. Er beginnt ein Fernstudium als
Diplomjournalist an der Karl-Marx-Universität in Leipzig. Inzwischen
ist er längst glücklich verheiratet. Die Höhen und Tiefen eines
Militärjournalisten – die zwingen ihn, vieles neu zu überdenken.
Vor allem als einstiger Ausbilder gelingt es ihm, die Probleme der
Soldaten immer besser zu verstehen und sie bildhaft zu schildern.
Die spätere
Arbeit als Abteilungsleiter in der Wochenzeitung „Volksarmee“
macht ihm nicht nur Spaß, er nimmt auch Stellung gegen
Ungereimtheiten, was ihm nach der Entlassung aus dem aktiven
Armeedienst und der Tätigkeit als Journalist im Fernsehen der DDR
nicht nur böse Blicke einbringt. So fährt er im September 1989
seiner Tochter nach Ungarn hinterher, um herauszukriegen, weshalb sie
mit ihrem Partner abgehauen ist; er gibt ihr dabei das Versprechen,
sie in keiner Weise als Tochter zu verurteilen. Nach seiner Rückkehr
wird er mit einer Parteistrafe gerügt, die Wochen später angesichts
der vermeintlichen Verstöße und Fehler durch die Politik nicht mehr
relevant scheinen und wieder gestrichen wird. Auf Unverständnis
stößt er auch bei seinen Mitarbeitern, als er nach der Teilnahme an
der Dokumentarfilmwoche1988/89 in Leipzig angeblich nicht die
erwarteten Schlussfolgerungen zieht.
Nach der
Wende: Versuche, arbeitsmäßig Fuß zu fassen, u.a in Gran Canaria
und in einer Steuerfirma. Die Suche nach Alternativen, günstiger zu
wohnen, sowie die Sehnsucht nach Ruhe führt das Ehepaar nach
Schweden.
Episoden aus dem Dorfleben und von vielen Begegnungen,
so z.B. bei der Geburtstagsfeier einer siebzigjährigen Schwedin,
machen den Alltag und die feierlichen Momente in der „Stille“
nacherlebbar. Keine der in der DDR erlebten Widersprüche und
politischen Unterlassungssünden wirft den überzeugten Humanisten
aus der Bahn, wogegen die Kapitaldiktatur mit ihren hörigen Medien,
politische Manipulationen und Lügen im angeblich so demokratischen
Deutschland ihn aufbringen – er bleibt ein Suchender!
Harry
Popow:
AUSBRUCH AUS DER STILLE. Persönliche Lebensbilder in Umbruchzeiten. © Copyright by Harry Popow, Verlag: epubli, Druck: epubli – ein Service
der neopubli GmbH, Berlin, Erscheinungsdatum 18.02.2019, ISBN:
9783748512981, Seiten: 500, Preis: 26,99 Euro
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen