Fiktives über den Autor
von „Eine langweilige Geschichte“, Anton Tschechow
Arme
Seelen zwischen allen Stühlen
Ein Essay von
Harry Popow
Wieder einmal sitzt ein
Herr Professor, nennen wir ihn Herr O., und nicht nur er, zwischen
allen Stühlen. Die Welt spielt verrückt. Im Weltzirkus legen die
einen neue Zündschnüre, die anderen warnen vor neuerlichen blutigen
Katastrophen. Das ungeheuerliche Resultat: Flüchtlingsströme nach
Europa. Und die Ursachen, die eigentlichen, werden weitgehend
verschwiegen, geschweige denn mit der Wurzel ausgerottet. Wer noch
die Kraft hat, darüber nachzudenken, der schaue sich erstens die
verschiedenen Interessenlagen in der Welt an sowie die offenen und
verdeckten Methoden, mit denen sie – teilweise mit brutaler Gewalt
– durchgesetzt werden von der jeweiligen Machtelite. Von beiden
Polen soll hier die Rede sein.
Der russische Schriftsteller Anton
Pawlowitsch Tschechow
Quelle: wikipedia
Es ist der 1.9.2014. Der
Professor traut seinen Ohren nicht. Ausgerechnet am Weltfriedenstag
folgende Meldung in der ARD: Der Herr Gauck, bekannt als ein Pfarrer,
der nichts gegen Waffen hat, besucht Polen. Keine Entschuldigung
wegen des Überfalls des deutschen Imperialismus auf Polen. Kein Wort
davon, dass die Aggression mit einer Provokation der Faschisten
begann, siehe Sender Gleiwitz. Statt dessen ein Bild des
Kriegsschiffes, das den ersten Schuss abgegeben hat. Ein
Zufallstreffer? Heute ebenso die "altbewährte Methode von
Provokationen". So die Ukraine-Krise, die mit der allseitigen
Unterstützung der ukrainischen Faschisten gestartet wurde. Russland
sei der neue Gegner. Die alten Verbrecher sind aus der Gruft des
Nürnberger Prozesses entkommen. Sie leben noch, sie schießen
wieder. Es ist zum Kotzen.
Entsetzen über solche
Geschichtsverfälschungen, über diese Verdummung des Volkes! Wen
trifft es nicht ganz tief im Herzen? Gibt es noch so etwas wie
Wahrheit, die bekanntlich vor Kriegen zuerst stirbt? Muss er das
überhaupt wissen, der Herr O.? Kann es ihm nicht egal sein? Fühlt
er sich als Rentner nicht zufrieden? Eine Beruhigungspille muss her,
denn Goethe schrieb bereits im „Faust, I. Teil, im Jahre 1808: „O
glücklich, wer noch hoffen kann, Aus diesem Meer des Irrtums
aufzutauchen! Was man nicht weiß, das eben brauchte man, Und was man
weiß, kann man nicht brauchen...“
Die Gedanken des Herrn O.
schweifen zurück, weit zurück. Ja, er gehörte zu jenen Ossis, die
zunächst dem Schleim nach Freiheit, die es im Westen angeblich geben
sollte, 1989 auf den Leim gingen. Ihm, wie auch anderen einstigen
DDR-Bürgern, wurden nach der „Wende“ die Augen geöffnet, so wie
z.B. der ehemaligen Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley: Sie setzte
alles daran, so sagte sie damals, eine andere Gesellschaft zu
erreichen, und sie merke (…), das sei ja alles noch viel schlimmer,
perspektivloser, Ressourcen vergeudender und unsozialer als damals.
Nicht genug damit. Herr O.
fand folgende Zeilen von Herrn Fritz Raddatz (einst DDR-Bürger, dann
Flucht in den Westen) in „Unruhestifter“, (Erinnerungen, List
Taschenbuch, Ullstein Verlage S. 436) aufschlussreich: „Die
Bundesrepublik ist zwar als Staatsform eine Republik; aber sie ist es
ihrer inneren Verfasstheit, Moral, Geistigkeit, ihrer politischen
Hygiene nach nie gewesen. Sie hat die Nazizeit so wenig ´bewältigt`
wie die Weimarer Republik die Kaiserzeit; beide Staaten übernahmen
den komplett erhaltenen Beamten-, Militär- und Wirtschaftsapparat
des alten Staates. Beide Staaten übernahmen den alten
Gefühlshaushalt und Wertekatalog. Beide Staaten waren/sind innen
morsch.“ Auf Seite 240 schrieb Raddatz: „Für die Menschen
zumindest meiner Generation war Geld nicht der Maßstab, es bestimmte
nicht den Lebenshorizont. Verwirklichung fand in der Arbeit statt.
(…) Träume galten nicht dem Haben, sie galten dem Sein.“
Der Wissenschaftler O. war
einst hoch angesehen, auch international. Auf einem sehr wichtigen
Spezialgebiet. Unentbehrlich für weitere Forschungen. Behauptete
sich durch große Fähigkeiten und enormes Wissen. Dann besetzten die
neuen Herrscher das Land: Raus aus dem Unternehmen! Wir brauchen Sie
nicht! Er, der Professor: Ich will ja nur weiter auf meinem
Fachgebiet forschen. Atempause. Kurzes Überlegen beim Evaluierer.
Das Angebot: Er möge das Materiallager übernehmen...
Diese Demütigung wird
Professor O. niemals vergessen. Gibt es eine größere Frechheit,
eine größere Dummheit? Eine größere Verachtung geistigen
Schaffens? Da war sie – die berüchtigte westliche Arroganz.
Ungeist duldet keinen Geist neben sich. Oder wollte man aus ihm einen
Hofnarren machen? So wie im Jahre 1714 Friedrich Wilhelm I. den
Präsidenten der preußischen Akademie der Wissenschaften Jacob Paul
von Gundling in sein „Tabakskollegium“ befiehlt und ihn fortan
zum Hofnarren stempelt? (Karl-Heinz Otto, „Gundling“, Edition
Märkische Reisebilder, 1. Auflage 2003, Seite 18.)
Und heute als Rentner?
Professor O. sitzt gerne am Computer und schreibt und schreibt.
Politische Texte. Auch Rezensionen. Lässt er davon etwas per online
ins Netz entwischen, dann kann er sich mitunter frisch machen.
Zustimmung auf der einen, Zeckenbisse auf der anderen Seite. Er sei
einer, der die neue Zeit verschlafen habe, ein Ewiggestriger, ein
Träumer. Ihn möge man bald entsorgen, aber das Alter tue es ja
ohnehin, biologisch sozusagen…
Die Täuschung -
„SO oder SO“
Wo ist der Sinn des Lebens
geblieben? Der Professor liest folgende treffende Worte in der
Monatszeitschrift RotFuchs vom August 2014: „Die Erosion der
unipolaren Weltordnung seit dem Ende des Kalten Krieges hat sich
durch die Ukraine-Krise beschleunigt, während Russland als
aufsteigende Großmacht neues Selbstvertrauen gewinnt. Es ist nicht
gewillt, der 20jährigen NATO-Ausdehnung auf seine Kosten weiterhin
keinen Widerstand entgegenzusetzen.“
In der gleichen Schrift
schreibt die Autorin Samira Manthey von der Methode der Eliten,
Zweifel und Hoffnungslosigkeit zu säen, indem den Lesern
eingetrichtert wird, man müsse alles „so oder so“ sehen.
Begriffe würden ihre Eindeutigkeit verlieren, Möglichkeiten wären
schöner als `Festschreibungen, „es gäbe keinerlei Gemeinsamkeiten
zwischen Individuen und vor allem nicht die daraus resultierende
Verantwortung füreinander.“
Alles so oder so sehen?
Nach keinem Standpunkt streben? Keine Meinung, keine Urteilskraft
ausbilden wollen? Welch ein Verlust an Werten geht da vonstatten,
fragt sich Herr O. Er hat von der USA-Militärdoktrin gelesen, vom
Bestreben Washingtons, in der Welt zu dominieren, Europa als
Aufmarschgebiet gen Osten unter seinen Fittichen im Griff zu
behalten. Was kann er, der Herr Professor, dagegen tun? Eigentlich
gar nichts. Oder doch? Vielleicht eine Buchlesung organisieren? Als
Hilfe zur Aufklärung? Um zu zeigen, mit welchem Menschenbild und mit
welchen Methoden das Weltkapital gegen die Völker vorgeht? Beginnen
würde er als Verehrer des russischen Schriftstellers Anton Tschechow
mit dessen Erzählung vom Jahre 1889 „Eine langweilige Geschichte“.
Ein Zitat ist ihm ans Herz gewachsen:
„Wenn im Menschen nicht
das lebt, was höher und stärker als alle äußeren Umstände ist,
dann freilich genügt für ihn ein ordentlicher Schnupfen, um das
Gleichgewicht zu verlieren und in jedem Vogel eine Eule zu sehen,
...“ (Seite 87).
Auf Seite 90 bedauert der
Dichter jene Menschen, die sich von keiner Idee, sprich
Weltanschauung, leiten lassen, als arme Seelen, als Kreaturen, die
„keine Zuflucht“ finden. Und er hänsele gerne, wo er „mit
einem Fuße schon im Grabe stehe!“ ( Seite 71, Insel-Verlag,
Leipzig 1977).
Wer sucht und findet
heute, im Jahre 2014, Zuflucht, Lebenssinn? Es scheint, Tschechows
literarische Mahnung im zaristischen Russland würde nach fast 130
Jahren fortgeschrieben werden müssen. Diesmal in Europa, mehr noch
in Deutschland. Nur unter einem anderen Titel. Der sollte lauten:
„Arme Seelen zwischen allen Stühlen.“
Wie soll man sich
positionieren? Gibt es fertige Antworten? Wie ist es mit der Neugier
bestellt, mit dem Drang nach Bildung? Was geschieht heute in und mit
der Gesellschaft? Muss er sich eine Antwort geben? Soll es ihm wie
dem alten russischen Professor ergehen, den der gute alte Anton
Tschechow im Regen stehen ließ, als dieser seiner Pflegetochter
nicht darauf antworten konnte, worin der Sinn des Lebens bestehe. Wer
und warum verführt und verdummt man die Hörer und Leser? Weiß er
es, der heutige Prof. O.?
Liebe contra
Menschenverachtung
Herr O., angetrieben von
inneren Ängsten, ob die Welt nunmehr im Jahre 2014 am Scheideweg
steht, ob wieder Kriege dominieren oder die Hoffnung auf ewigen
Frieden, zweifelt. Wer ist schuld am Dilemma zwischen neuerlichem
Waffengeklirr und der Lethargie, der Abwartehaltung vieler „armer
Seelen“? Wer will das eindeutig beantworten? Wo „es uns doch so
gut geht?“ Sind etwa die Politik und die Medien mit ihren
Denkschablonen, Verführungskünsten und Verhaltensmustern so leicht
zu durchschauen? Steht bei denen der Mensch im Mittelpunkt? Ja doch,
rufen die Zecken. Du darfst alles, du bekommst alles. Du musst nur
kaufen auf Teufel komm raus. Dann bist du okay. Ist das nicht eine
Absage an das Menschsein, fragt sich Herr O. Eine Antwort findet er
in der Zeitung „junge Welt“, geschrieben von Werner Seppmann:
„Es wird ein
Menschenbild negiert, das als Gegenprinzip zur Welt der Entfremdung
und Verdinglichung dienen könnte. Die theoretische Abwertung des
Menschen korrespondiert mit der Weigerung, sich überhaupt noch mit
den gesellschaftlichen Verhältnissen und den von ihnen produzierten
Entfremdungsformen jenseits symbolischer Beschwörungsrituale
auseinanderzusetzen.“
Liebe oder
Menschenverachtung? Was dominiert? Was soll man dazu sagen, wenn
bereits Studenten darauf getrimmt werden, die Politik und vor allem
das Soziale nicht mit ins Kalkül ihrer Bestrebungen zu ziehen? Es
sei nicht notwendig, sich mit diesem unnützen Zeug zu beschäftigen?
So gelesen in dem soeben veröffentlichten Büchlein „Warum unsere
Studenten so angepasst sind.“ Autorin: Christiane Florin.
Ist diese Anpassung nur
bei Studenten anzutreffen? Warum ganze Heerscharen von Hörern und
Lesern schlucken sollen, was die Oberen samt ihrer Medien verkünden,
fragt sich der Rentner. Er sammelt und sammelt in online-Zeitungen
und politischen Sachbüchern. Und wird fündig...
Geist verscharren
& Geist retten
Es ist der fünfzehnte
August. Den Herr Professor O. schüttelt ein Lach- und gleichzeitig
ein Weinkrampf. Da wurde in den Nachrichten gemeldet, der Kopf des
großen Denkers Lenin sei einst nach der sogenannten Wende im Walde
vergraben worden. Die einen frohlocken, die anderen verspüren
symbolisch einen großen Verlust. Die Ersteren glauben mit
Sicherheit, mit dem Verscharren des Granitschädels die Menschheit
auf ein Nimmerwiedersehen von seinem Geist befreit zu haben, die
Gegenspieler sind nicht müde geworden, ihn wieder – symbolisch –
aus der Erde zu kratzen. Angst vor dem großen Geist auf der einen
Seite – Verlust und Wiederbelebungsversuche auf der anderen. Zwei
Pole, die sich gegenseitig abstoßen. Die den tieferen Grund bilden
für das Dilemma in unserer Welt. Die einen verscharren den
menschlichen politischen Geist – die anderen kratzen ihn wieder
an´s Tageslicht. So oder so...
Zu den Ersteren gehört
auch Brandenburgs Ministerpräsident. Der lässt am 17. August 2014
im „Märkischen Sonntag“ verlauten: „Unser Nachwuchs muss ein
so bedeutsames Datum kennen und einordnen können (er meint den 13.
August 1961, Anmerkung H.P.). Auch wenn wie heute selbstbestimmt und
in Freiheit leben, so bleibt es zugleich wichtig, an das Unrecht und
an die Mauertoten zu erinnern.“
Was faselt da Herr Woidke
(und andere Politiker stoßen in das gleiche Horn), man müsse etwas
einordnen können? Wenn bei TV-Umfragen fast jeder zweite gar nicht
mehr weiß, wann die „Mauer“ erbaut wurde? Wenn deren Sinn flöten
gegangen ist, wenn die geschichtlichen Ursachen des vom Westen
provozierten Kalten Krieges totgeschwiegen und lediglich auf Tränen,
Familientrennungen und Opfer in der Berichterstattung reduziert
werden? Die Betrachtungsweise, das „So oder so“ bekommt damit
eine viel größere und wichtigere Funktion, eine politische
Dimension. Zu kurz gedacht?
Da redet der Herr
Bundespräsident - und mit ihm die ganze Schar der Politischen und
Kapitalmächtigen - bei der Beurteilung des Ersten Weltkrieges
lediglich von den Schrecken der menschlichen Katastrophe, und das
Jetzige müsse mit der Waffe in der Hand europaweit verteidigt
werden. So gauckelt einer rum, der unter Freiheit lediglich die
Finanzgewaltigen und deren Machtfestigung meint. Und die Verursacher
der Kriege? Dazu kein Wort, das wäre ja Selbstmord. Dafür schwingen
andere Töne durch den Äther: „Wir sind wieder wer!“ Auch mit
Waffenlieferungen an die irakischen Kurden? Großmachtgelüste lassen
grüßen.
Niemand der sogenannten
Eliten und ihrer Marionetten hat also das Wohl der Menschen im Auge.
Die Neuaufteilung der Welt steht allemal wieder auf der Tagesordnung.
Was bist du als Bürger im Kapitalismus? Freiwild auf dem
Wild-Tanz-Parkett des ungezügelten Marktes. Wenn du kein Konsumidiot
sein willst und kannst - dann bist du ein überflüssiger Mensch. So
einfach und brutal ist das. Das einstige WIR tendiert zum ICH!
Deshalb lobpreisen sie den Individualismus. Zertreten kollektive
Erfahrungen, jeglichen Rest von Solidarität, lassen dem
Zwischenmenschlichen mit ihrer kalten Gier nach Profit keinen Raum
mehr. Predigen die Selbsthilfe, um Geld zu sparen. Soll doch jeder
zusehen, wie er weiterkommt. Der Staat hält sich raus. Weitgehend.
Und die Deutschen erklimmen im europäischen Raum eine
Vormachtstellung. Für wen bitte? Und züchten gehorsame Mitläufer.
Auch mit dem Sturmgewehr in der Hand?
Freiheit für wen? Und
diesen Begriff benutzen die Oberen heute als Schlagwort! Nichts
steckt dahinter als das was tatsächlich gemeint ist: Die Herrschaft
des Kapitals. Dafür sollst du leben, dafür sollst du zahlen, dafür
sollst du - einst unter dem Motto für Gott und Vaterland - dein
Leben geben. Ist hier jemand betrunken? Im Kern geht es um eine sehr
grundlegende Fehleinschätzung der realen Welt. Die einfach
existiert, und zwar ohne den Willen der Menschen. Diesen Natur- und
gesellschaftlichen Gesetzen hat sich die Menschheit unterzuordnen.
Freiheit ohne deren gesetzmäßige Grundlagen zu betrachten bedeutet
schlechthin eine idealistische Sicht. Sie zu berücksichtigen, um
keine Fehldiagnosen zuzulassen, erfordert eine realistische,
dialektische Sicht. So einfach liegen die Dinge, will man sich nicht
von den Herrschenden verkohlen lassen. Da hilft keine Frömmelei,
kein Wille, es sich menschlich einrichten zu wollen - wenn du
gesetzmäßige Abhängigkeiten und Zusammenhänge arrogant
ignorierst, dann wirst du es eines Tages zu spüren bekommen. Dann
gehst du halt bei stürmischer See ins Wasser und der Sog zieht dich
hinaus auf ein Nimmerwiedersehen. Tödlich wird das Ganze, wenn man
dem ursächlich vorhandenen Zusammenhang zwischen Maximalprofit und
der Entstehung und dem Führen von Kriegen aus dem Wege geht. Tödlich
für Millionen von Menschen. Gewinnbringend für die angestrebten
Millionen der Kriegsgewinnler. So oder so.
Um Symptome oder
Ursachen?
„So oder so?“
Sozialismus oder Barbarei? Frieden oder Krieg? Muss man da noch
überlegen, abwägen? Wo leben wir? Diese schwankende, lavierende
Unverbindlichkeit als Methode. Sie folgt haargenau dem oben
geschilderten bürgerlichen Menschenbild. Du hast stets die
Wahlmöglichkeit. Oben sein, ganz oben, oder im Nirgendwo landen. „Na
und?“, meint mancher Zyniker. Substanz oder Inhalt. Reden oder Tun.
Sich mit Symptomen begnügen oder den Ursachen auf den Grund gehen?
Verpackung oder Inhalt. Make-up oder Leere. Oberfläche oder Tiefe.
Das Böse oder das Gute? (Übrigens die einfältigste Sicht, die es
gibt auf Erden.) Wachstum statt Fortschritt, Konflikt statt Krieg,
Kollateralschäden statt zivile Opfer.„Tafeln“ als
Aushängeschilder des sich sozial gebärdenden Staates. Da rühren
die Allmächtigen am Schlaf der Welt, rühren die Kriegstrommeln -
und keiner regt sich auf? Befinden wir uns noch im Wachzustand?
„Ich will, dass unsere
Frauen, Kinder, Freunde und Schüler in uns nicht den Namen und nicht
die Etikette lieben, sondern einfach den Menschen“, schreibt Anton
Tschechow in der langweiligen Geschichte auf Seite 86.
Zum Haare raufen! Das
verbietet niemand. Das „großartige“ demokratische Angebot der
Mächtigen im pluralistischen System: Da darfst´e schreiben oder
quasseln bis dein Kopf qualmt, schimpfen, randalieren, die Politik
fertigmachen, demonstrieren. Du darfst lesen oder den TV einstellen,
einen anderen Sender wählen oder alles auch sein lassen. Du darfst
überhaupt alles rausschreien in Mails, Briefen, Beschwerden und
Artikeln - das Ganze hat nur einen Haken: Es geht alles durch ein
unsichtbares Sieb. Das nennt sich nicht Zensur, nein, nein, es ist
eine Methode der Ablenkung, des Totschweigens, der Orientierung auf
Banalitäten, auf Nebensächlichkeiten. Die angepriesene Vielfalt
soll für Demokratie stehen. Das ist irritierend. Und bemäntelt
gleichzeitig die wahren Absichten der oberen Zehntausend nach Macht
und Profit auf Kosten des Sozialen. Die Negierung des
Gesamtzusammenhangs - das ist Ideologie der schlimmsten Art, das ist
gewollt. Was ist eine Hochwassergefahr, die gebändigt werden kann,
gegen eine mächtiger werdende geistige Vertuschungs- und
Verdrehungs-Flut? Unterhaltung aber auf seichteste Art liegt immer
gut im Rennen, lässt sich gut verkaufen, ist richtig cool. Herr O.
kann ein Lied davon singen...
So wird Verdruss geboren.
Gleichgültigkeit. Und Untätigkeit, etwas ändern zu wollen und zu
können. Manche greifen zum Alkohol, andere beten wieder, vielen ist
es schnuppe, sie arbeiten und machen sich keinen Kopf. Viele jüngere
Leute besinnen sich nur auf sich selber. „Viele junge Menschen
leben völlig losgelöst von echter gesellschaftlicher Aktion als
schnäppchenjagende Konsumenten und törichte Objekte politischer
Manipulation. Das geschieht zur Freude derer, die Solidarität und
echte Massenimpulse gar nicht erst aufkommen lassen wollen.“
(RotFuchs August 2014)
Das Politikverständnis
habe sich verflüssigt, bemängelt Christiane Florin in ihrem in Teil
I genanntem Buch zu den angepassten Studenten auf Seite 20, es sei
unterspült „von einer Mischung aus Desinteresse und punktuellem
Engagement. Verflüchtigt hat sich der Gedanke, dass politisches
Bewusstsein zum Erwachsenwerden dazugehört.“
Schwindet mit dem WIR die
Verantwortung des Einzelnen für das Ganze? Dazu ein Zitat aus dem
„RotFuchs“ (August 2014, S. 13): „In einer Zeit, in der sich
die Tagespolitik fast ausschließlich mit Krisen und Kriegen
beschäftigt, werden Völkerrechtsverbrechen und der Bruch
elementarer Menschenrechtsnormen zur Gewohnheit. Man nimmt sie
gewissermaßen als Begleiterscheinungen des politischen Geschehens
hin, weil ja ohnehin niemand zur Verantwortung gezogen wird. Die
Eigenschaft des menschlichen Verstandes, Autoritäten und
Entscheidungen zu hinterfragen, ist vielen leider abhanden gekommen.
Eine perfide Propaganda entzieht ihnen die Fähigkeit, über
Zusammenhänge tiefer nachzudenken, zumal sich das Leben der meisten
auf einen reinen Existenzkampf reduziert hat. Der verbleibende Rest
an frei verfügbarer Zeit wird immer mehr mit Late-Night-, Talk-,
Dschungel- und Ekel-Shows sowie Videospielen vergeudet. Da bleibt für
eigenes Denken kein Platz. Begriffe wie Recht und Gesetz werden von
den Herrschenden bagatellisiert oder instrumentalisiert, wenn sie ins
Bild passen, um noch so abstruse Ziele oder Geschehnisse zu
rechtfertigen.“
Nein, nein, Herr O. lässt
sich nicht mehr täuschen: Weder bei gutem Essen noch bei geistiger
Kost, weder beim Einkaufen noch bei verführerischen
Werbetelefonaten, weder bei falschen Versprechungen noch bei
angeblichen Mogelpackungen, weder bei inhaltlich flachgebürsteten
TV-Produktionen noch bei oberflächlichen Talk-Shows, weder bei
fehlerhaften Diagnosen von Ärzten noch bei falsch servierten Speisen
im Restaurant. Tiefgründige Diagnosen? Fehlanzeige, das gefährdet
das Überleben der angeblichen Elite.
Wer wehrt sich? Zwischen
Kriegsgeschrei auch ein Mahnruf der Linken, endlich mal wieder: So
ist in der jungen Welt vom 14.08.2014 mit der Überschrift
„Gescheiterte Staaten in Serie“ eine Gemeinsame Erklärung der
Vorsitzenden der Partei DIE LINKE, Bernd Riexinger und Katja Kipping,
sowie des Vorsitzenden der Linksfraktion im Bundestag, Gregor Gysi,
zu lesen: „Die Welt steht am Scheideweg zwischen einer neuen Ära
der Eskalation in Blockkonstellationen und einer Renaissance
internationaler Konfliktlösungsmechanismen im globalen Maßstab.“
Stehen auch die Menschen
am Scheideweg? Was tun, wenn ihnen lediglich ein Ist-Zustand
vorgezeigt wird, wenn ihnen Ursachen vorenthalten werden? Das ist
geistige Unterdrückung. Das verdirbt und vernebelt die Hirne, das
macht die Menschen letztendlich krank und gefügig. Damit ist die
Verführung perfekt, der Magen verdorben und das Hirn entleert. Das
Resultat oberflächlicher und inhaltsloser Berichterstattung: Kälte,
Enthemmung, Leichtsinn, Arroganz, Interessenlosigkeit, Unglaube an
Veränderungen, Inaktivität, Zurückziehen auf das nur Private. So
beginnt der langsame Tod, die seelenlose Etappe des Absterbens der
eigentlichen Werte - der Frage nach dem Sinn des Lebens. Des
Zustandes, dass es keine Fragen mehr gibt. Die Armut des Materiellen
hat eine Schwester: Die Armut der Zufriedenen, die sich behaglich
zurücklehnen und im „Berufsleben“ stets auf Lauer-Position sein
müssen. Gleichgültigkeit und Abscheu vor Politik, das ist Verfall.
Herr Professor O. und
Tschechow-Verehrer wird seine Buchlesung halten. Seine Krankheit der
drohenden Sorg- und Interessenlosigkeit hat er überwunden.
Selbstbestimmt. Wenn auch das Wort noch kein Tun ist. Er wird, das
ahnt er, seine Lesung über den Sinn des Lebens womöglich in einem
halbleeren Saal halten. Seine Gedanken? Werden sie ins Leere gehen?
Vor müde abnickenden Studenten? Wäre das ein Zeichen des Verfalls?
Das Unbehagen jener bourgeoisen Gelehrten und Publizisten in
Zeitungen und Sachbüchern, die Zustände zwar markieren, treffend
und kritisch oft, sozusagen in jedes Fettnäpfchen tretend, hält an:
Lösungen sind nicht in Sicht? Bleibt es dabei: So oder so? Arme
Seelen zwischen allen Stühlen? Oder übersieht er sie – die
Anzeichen vom Widerstand der Unzerbrechlichen weltweit? ...
Lieber
Anton Tschechow, es wird wieder andere Zeiten geben, versprochen!
(Erstveröffentlichung in
der Neuen Rheinischen Zeitung:
Dieses
Essay "Arme Seelen..." findet man auch im folgenden Buch:
Harry
Popow: „Platons Erben in Aufruhr. Rezensionen, Essays, Tagebuch-
und Blognotizen, Briefe“, Verlag: epubli GmbH, Berlin, 316 Seiten,
www.epubli.de , ISBN 978-3-7375-3823-7, Preis: 16,28
Euro
http://www.epubli.de/shop/buch/PLATONS-ERBEN-IN-AUFRUHR-Harry-Popow-9783737538237/44867
http://www.epubli.de/shop/buch/PLATONS-ERBEN-IN-AUFRUHR-Harry-Popow-9783737538237/44867
Harry
Popow schrieb auch folgendes Buch: „In die Stille gerettet.
Persönliche Lebensbilder.“ Engelsdorfer Verlag, Leipzig, 2010, 308
Seiten, 16 Euro, ISBN 978-3-86268-060-3)
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