1945: Weiße Armbinden
Donnerwetter, so ein Glück, sagen Mama und Papa, als sie ihr
Mietwohnhaus in Berlin–Schöneberg unzerstört wiedersehen. Hier hat die
Familie vor der Evakuierung gewohnt. Aber deren Wohnung in der dritten
Etage links ist inzwischen besetzt, die Ziebells dürfen in die zweite
Etage rechts. Aber noch heulen herzzerreißend und furchterregend die
Sirenen. Nacht für Nacht, manchmal auch tagsüber. Sie müssen im Keller
bleiben. Provisorisch sind Bettgestelle aufgebaut, manchmal liegen nur
Matratzen da. Brot auf Zuteilung, gleich für mehrere Tage. Wenn irgendwo
Bomben heulend und krachend in Häuser schlagen und die Erde bebt,
dröhnt und stöhnt, dann bleibt das Herz stehen vor Angst. Jede Sekunde
kann es auch das eigene Miethaus erwischen, jede Minute ...
Papa muss nun doch noch an die Front, zum Volkssturm, wie er sagt. Nach
drei Tagen ist er wieder da. Dort, wo er sich melden sollte, seien schon
die Russen. Wie froh die Kinder sind ... Henry hört, wie er Mama von
Menschen berichtet, die an Laternen aufgehängt wurden, an ihnen ein
Schild mit der Aufschrift: Ich bin ein Verräter. Es ist alles so
schrecklich und gruselig. Eines Nachts nimmt Papa seinen Größten mit
aufs Dach des Hauses. Der Ängstliche sieht die langen bläulich-weißen
Strahlen der Scheinwerfer, die den Himmel nach Flugzeugen abtasten. Dann
schrillen wieder die Sirenen. Henry schaut tapfer und zitternd. Papa
lässt ihn wieder frei und Mama schimpft unten im Keller.
Nach vielen, vielen Tagen stehen an der Kellertür Soldaten, später
erfährt Henry, es waren Mongolen. Sie wollen irgendetwas. Man holt Mama,
sie sei doch Russin. Die Soldaten wollen nur etwas Tee, doch zuvor muss
sie einen Schluck nehmen. Das ist selbstverständlich, sagt Mama, sie
müssen vorsichtig sein, sind natürlich misstrauisch. Es muss der neunte
Mai gewesen sein, Henry streift sich nach dem Aufstehen soeben lange
Strümpfe über, da sagt seine Mutter ganz leise, als würde sie es noch
nicht glauben, den folgenschweren Satz: „Ab heute ist Frieden.“ Sie
drückt ihren Ältesten und hat Tränen in den Augen ...
Elektrischen Strom gibt es vorläufig nicht. Papa stellt ein Fahrrad in
den Flur und auf den Kopf, drückt den Dynamo an die Reifen, legt
Leitungen in die Küche und in die Wohnstube, und Henry darf die Pedalen
schwingen. Die Lämpchen glimmen auf. Die Kinder sind stolz auf Papas
Erfindungsgeist. Und froh und neugierig machen Henry, Sophia und Axel
die Erzählungen von Mama über ihr Russland: über die Datsche ihrer
Tante, über die Blumen, über Tanten, über deren Kuchen, über das viele
Spielzeug von Mama, das man auf einem Foto sehen kann. Ihre Heimat darf
den Kindern nun näher kommen, sie wird so vertraut werden, dass die
Kinder sich wünschen, bald nach Moskau zu ziehen, so träumen sie von
einer glücklichen Zukunft, die ihnen die warmherzigen Worte ihrer
Mutter eingibt. Das gräbt sich in Henrys Bewusstsein so fest ein, dass
er in der Schule die Sowjetunion als „schon immer gut“ verteidigen wird
gegen die Behauptung, sie hätte erst einmal eine Revolution machen
müssen, bevor sie ganz prima wurde.
Bei Ziebells herrscht kurz darauf trotz der Freude über den Frieden
schmerzliche Trauer. Berno, der zweijährige Bruder, hat
Lungenentzündung, und, er schafft es nicht. Unser Bruder! Mama ist
kraftlos auf den Fußboden gesunken im Hausflur und schluchzt und
schluchzt herzzerreißend, die Kinder zittern und heulen. Damit nicht
genug: Arnold, der jüngste, hat Keuchhusten. Er wird an den Beinen nach
oben gehalten, wird mit Fett (Margarine oder?) eingerieben. Wie durch
ein Wunder – er wird gerettet. Langsam erobern die Kinder der Ziebells
wieder die Straße. Aber vor die Haustüre treten darf nur, wer eine weiße
Armbinde trägt. Henry hat keine, will aber wissen, wie weit er sich
hinauswagen darf. Also schneidet er sich zwei Streifen weißes Papier
zurecht, befestigt sie an beiden Oberarmen. Tür auf und mal sehen, was
da passiert. Er dreht seine Arme aber nach hinten. Auf der anderen
Straßenseite hockt in einer Hausruine ein Soldat. Henry sieht den Lauf
einer Waffe, der sich nach oben bewegt, direkt auf Henry. Der kriegt
Schiss. Da streckt er seine zwei Arme mit den Binden vor. Der Lauf senkt
sich wieder. Der Junge holt tief Luft, er ist fast stolz auf seine
Mutprobe und dass er die geforderten Binden vorzeigen konnte. Mit paar
Freunden zieht er zur nächsten Straßenecke. Dort war mal eine
Panzersperre. Die sollte den „Feind“ aufhalten. Doch die Kinder sehen
nur einen zerschossenen und niedergewalzten Trümmerhaufen. Knorke, wie
die Russen das gemacht haben, bestätigen sie sich gegenseitig. In den
Ruinen stinkt es. Brandgeruch. An einer Pumpe holen sich die Leute
Wasser. Ein russisches Pferdefuhrwerk hält, Soldaten verteilen
Schwarzbrot. „Chleb“ heißt das Brot, sagt die Mutter. Sie ist so stolz
auf ihre Landsleute, auf ihr großes Land. Und wieder muss sie davon
berichten, von blühenden Bäumen im Garten ihrer Tante bei Moskau, von
einem Bild voller Schönheit, wo das Edle und Gute zu Hause sind. Die
Kinder glauben fest an ihre Erzählungen, besonders der Henry, der ewige
Träumer. ein Bedürfnis nach Harmonie, nach Menschlichkeit, für Visionen
...
Format: 12 x 19 cm, Seitenanzahl: 484, ISBN: 111-2-0000-0001-6,
Erscheinungsdatum: 23.09.2024 - EUR 36,95
als Buch (https://www.united-pc.eu/home.html)
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