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Die andere Erfahrung
Die Westlinke und der reale Sozialismus jenseits der
Elbe. Erinnerungen
Von Inge Viett
Am 9.
Mai ist Inge Viett im Alter von 78 Jahren gestorben. Die Militante
der »Bewegung 2. Juni«, die sich 1980 der »Rote Armee
Fraktion« anschloss, tauchte 1982 in der DDR unter, wo sie bis zu
ihrer Enttarnung und Verhaftung am 12. Juni 1990 lebte. Noch während
ihrer Haft, die 1997 endete, verfasste Viett eine Autobiographie, die
im gleichen Jahr in der Edition Nautilus erschien und in der sie auch
ihr Verhältnis zur DDR reflektierte. Wir danken dem Verlag für die
freundliche Genehmigung zum Nachdruck. (jW)
Dass
ich im kapitalistischen Deutschland geboren und aufgewachsen bin,
kann ich weder bedauern noch gutheißen, aber es ist ein kaum zu
beschreibendes Glück, daß der Verlauf meiner Geschichte meine
Unwissenheit über das andere Deutschland korrigierte, über das
Leben dort im ständigen Widerspruch zwischen Verwirklichung und
Verkümmerung sozialistischer Ziele, zwischen Ansprüchen und
Lebensweise, über die Anstrengungen, die Ideale, Fähigkeiten und
Unfähigkeiten, die Wahrheiten und Irrtümer, die diesem Widerspruch
entsprungen und von ihm gezeichnet sind. Nur wer dort gelebt hat,
kann begreifen, was zerstört wurde.
Westlinke
ohne Begriff
Die Linken im Westen haben keinen Begriff davon, wie
schwer ihr Mangel an Erfahrung mit der sozialistischen Realität
wiegt. Die Geschichte wird ihnen keine neue Gelegenheit bieten. Sie
denken in ihrem Hochmut sogar, dass sie es sich leisten können, dies
gar nicht als Mangel erkennen zu müssen. Der reale Sozialismus ihrer
Zeit, vor ihrer Tür, in der DDR, war für sie die einzige Chance,
jemals zu erfahren, wie die Idee vom Sozialismus, also das Ideal,
real gesellschaftlich wirksam werden kann und wie nicht. Sie zogen es
aber vor, sich von diesem geschichtlichen Prozess zurückzuziehen,
ihn aus der Ferne zu benörgeln, zu bemängeln, zu belächeln. Sie
zogen es vor, mit ihren sozialistischen Theorien die imperialistische
Wirklichkeit einschließlich sich selbst zu kultivieren. Sie kämpfen
immer mit der existentiellen Nabelschnur am Kapitalismus und kennen
nichts anderes.
Die bürgerlichen Linken waren sich immer zu
fein für die Arbeit der Veränderung, sie blieben lieber bei der
Interpretation der Verhältnisse, wohl wissend, dass revolutionäre
Veränderung auf Schmutz, auf fremden und eigenen Schmerz, auf
Statik, Widerstand und Unberechenbarkeit stößt. Wie ist dem
beizukommen, ohne die Hygiene der reinen Idee und auch ohne sich
vielleicht selbst zu beschädigen? Sie haben die Chance verpasst,
diesen großen historischen Versuch, aus der Kapitalgeschichte wieder
Menschengeschichte werden zu lassen, sinnlich und politisch zu
begreifen.
Ich weiß, die meisten sehen es nicht als verpasste
Chance. Sie sagen aus ihrer autistischen Wahrnehmung heraus: »Igitt,
ich hätte da nicht leben mögen.« Womit sie sagen, dass sie lieber
in der imperialistischen Wirklichkeit leben als im Kampf und in der
Dürftigkeit dagegen. Dies ist eben das Problem: Teilhaben zu wollen
an den kapitalistischen, materiellen Mächtigkeiten und Möglichkeiten
mit dem Wissen, dass sie Resultat räuberischer Beziehungen sind. Die
bürgerlichen Linken haben eine intellektuelle Hehlermentalität. Mit
unglaublicher Häme haben sie sich auf die zusammenbrechende DDR
gestürzt, mit befreiender Lust ihre Hehlerexistenz an der Entwertung
der sozialistischen Geschichte aufgewertet. Sie interessieren sich
nur für die fehlgelaufenen, steckengebliebenen Prozesse, die
Eiterschwären, die dunklen Ecken, in die Missratenes geschoben
wurde. Absurdes spüren sie auf als Zeugnis ihrer Beweisführung,
dass böse Menschen 40 Jahre zu Werke gingen, ihre schönen Ideen zu
verhunzen. Am realen Sozialismus hat sie einzig das Nichtsein von
Sozialismus interessiert, und mit diesem Interesse bestreiten sie
fortwährend die Möglichkeit eines sozialistischen Daseins
überhaupt. Jede positive Erfahrung wurde ihrer Entwertung
unterworfen.
Was für eine intellektuelle Hochmütigkeit! Was
für eine beschränkte und ebenso vermessene Wahrnehmung! Welch
ordinäre Heuchelei, welch primitive Lust zur Erniedrigung haben sie
den Menschen in der DDR entgegengeschleudert. Wie protzten sie aus
allen Feuilletons staatsnaher Medien: Wir waren die
Fundamentalopposition im Westen, es steht uns zu, euch zu verachten.
Ich habe niemand von diesen Schwätzern in unseren Reihen
gesehen!
Meine acht Jahre in der DDR waren zu kurz, auch nur
einen Tag Langeweile zu haben, zu kurz, der Widersprüche überdrüssig
zu werden, zu kurz auch, den Optimismus für alle Höhen und
Abgründe, für Misslungenes und Gelungenes im geschichtlich
einzigartigen Kampf für und um die Alternative zur kapitalistischen
Gesellschaft aufzugeben. Die Verwertung und Vernichtung der DDR, die
Auslöschung sozialistischer Existenz, ihrer Inhalte, Strukturen,
sozialer Sicherheiten, der tiefe Sturz der Menschen in die soziale
und politische Unwürdigkeit, in die existentielle Desorientierung,
in Erniedrigung und Brutalisierung ist viel gemeiner und quälender
als die Vernichtung meiner persönlichen Freiheit, die damit
zusammenhängt.
Ich bin parteilich, subjektiv und emotional.
Nur auf diese Weise hab’ ich mir eh und je die Welt erschlossen,
mich den Menschen zugewandt und haben sich die Menschen mir
zugewandt. Ich sehe keinen Grund, den historischen Verlauf der
Geschichte und meine eigene darin eingebettete Lebenszeit mit den
Augen der derzeitigen Triumphatoren zu betrachten. Es sind die Augen
von Betrügern, Dieben und Räubern, deren kollektives System davon
lebt, sich über das Schwächere herzumachen.
Fehler und
Irrtümer zu erkennen bedarf weder der Distanzierung noch des
Konvertitentums, das sind Unterwerfungsrituale, sie beschädigen die
Würde und die Wahrheit. Nicht grundsätzlich, aber dort, wo das
Erkennen sich als Machtverhältnis vollzieht.
»Ich
bleibe hier«
Wir waren zu dritt nach Berlin zu einem Treffen mit
dem MfS angereist, Iris, Hans und ich. Die Begrüßung verlief wie
immer: herzlich, in etwas angestrengter Lockerheit. Für uns Frauen
ein Küsschen links und rechts, für den Mann Schulterklopfen. Eine
Tasse Kaffee, einen Cognac und den zweiten, weil man auf einem Bein
nicht stehen kann, und in den dritten hinein sagte ich: »Ich bleibe
hier.«
Maßlose Überraschung bei Wolfgang und Werner, in den
Augen von Iris und Hans Erleichterung. Dies war unser letzter
Augenblick, wir machten den Abstand zwischen uns endgültig und
unwiderruflich, befreiten uns voneinander ohne Bedauern und ohne
Hass. »Wie, du bleibst hier«, fragte Wolfgang, »bist du mit großem
Koffer gekommen?«
»Ja.« Ich stellte das Glas auf den Tisch
und ging hinaus. Im Nebenzimmer brach ich auseinander, heulte, dass
es mich schüttelte, ich konnte mich nicht mehr zusammenreißen. Ein
Überdruck verschaffte sich Raum, ohne nach Scham und Peinlichkeit zu
fragen. Die letzten zwei Jahre hatte ich mich wie einen Bogen
gekrümmt, gezerrt und gespannt von zwei Polen: Ich will nicht ins
System zurück. Niemals! Und: Ich kann auch nicht weiter. Politische
und persönliche Sackgasse. Jetzt war ich endlich durchgebrochen,
nicht freiwillig, mehr aus Verzweiflung, aber unumkehrbar.
Wolfgang
kam herein, setzte sich zu mir und fragte ein bisschen hilflos: »Ist
es denn so schlimm, hierzubleiben?« »Wieso, das kann ich doch gar
nicht wissen, darum heule ich nicht.« Er schwieg, drängte mich
nicht. Als ich zur Ruhe kam und meine Beherrschung wiederfand, fragte
er mich, ob ich hier weg wollte. »Ja, sofort, ich will sie nicht
mehr sehen.«
Es ging dann ganz schnell. Er brachte mich in
das Haus am See, es war mir schon gut bekannt. Ich hatte hier viele
Gespräche geführt in eigenartiger Atmosphäre. Ein Gemisch aus
Diplomatie, Freundschaft, Vorsicht, Misstrauen, Gemeinsamkeit,
Distanz und Neugier. Es war immer schwierig, oft entnervend, und
manchmal haben wir uns danach zur Entspannung besoffen.
Das
Haus lag in einem Waldgebiet mit hohen alten Kiefern. Sie würzten in
diesen Tagen die Luft mit einem betörenden Harzgeruch. Der See war
verführerisch idyllisch, als wäre Frieden.
Ich begann über
meine neue Lage nachzudenken und stellte fest, dass dies im Moment
völlig überflüssig war, denn es gab vorübergehend nichts zu
entscheiden und zu regeln. Ich war in guten Händen. Für alles würde
gesorgt werden. Das war ungewohnt für mich, aber nicht unangenehm.
Ein »Nichtzustand«. Ich wusste, er würde einige Monate dauern und
er war notwendig. Ich musste innerlich Abstand nehmen von dem, was
ich verlassen hatte, und Nähe gewinnen zu dem, was mein künftiges
Leben nun sein würde.
Auf meinen ausgedehnten Streifzügen
durch die Wälder, Wiesen und Dörfer der Umgebung, beim Herumsuchen
in der Kaufhalle, in den ersten vorsichtigen Begegnungen und
belanglosen Gesprächen des Alltags, der für mich freilich noch
nicht alltäglich war, begann sich ein ganz merkwürdiges neues
Gefühl zu entwickeln. So ganz allmählich und leise meldete es sich
aus den untersten Schichten, und ich nahm es wahr als angenehme
Gemütslage, aber ich befragte es erst viel später. Hier begann ich
schon, meine Zugehörigkeit zur anderen deutschen Geschichte zu
empfinden. Ja, ich begann bereits, Besitz von ihr zu nehmen, als
hätte ich sie mitgeschaffen.
Meine bisherigen Besuche in der
DDR waren zielgerichtet, offiziell und ohne Interesse für Land,
Leute und ihr gesellschaftliches Leben gewesen. Ein bisschen kannte
ich das Leben der Offiziellen, die in ihrer ganzen Bewusstheit, ihrem
Lebensinhalt und Habitus geprägt und ausgefüllt waren von ihrer
besonderen Funktion im Staat. Die DDR war bisher von mir als
politische Beziehung wahrgenommen worden, die eine Funktion in meinen
Vorstellungen und Anstrengungen bezüglich der BRD hatte. Dies
Verhältnis änderte sich jetzt.
Fertig
mit dem Imperialismus
Ich war so gründlich fertig mit dem Imperialismus,
war so gründlich gescheitert mit meinen eigenen Versuchen, ihm die
Stirn zu bieten, hatte mit Getöse den Guerillakampf begonnen und ihn
so kläglich als untauglich erkennen müssen, ich hatte den
variationsreichen, aber endgültigen Rückzug meiner Generation von
revolutionären Perspektiven durchlebt, dass ich dem Beharren der DDR
einen fast zärtlichen Respekt entgegenbrachte. Ohne Umschweife war
ich bereit für Verantwortung und Verteidigung, ohne Umschweife
ergriff ich Partei für den sozialistischen Staat als letzte reale
Alternative. Seine Behauptung schien mir ein Rest greifbarer
Widerstand zu sein, gegen das System, aus dem ich kam und das sich
mit seiner hohlen Perfektion unaufhaltsam durch die Welt und die Zeit
frisst, wie die Fäulnis durch den Apfel.
Jetzt spazierte ich
plötzlich hinter der Barrikade herum, die sich dieser
Unaufhaltsamkeit seit Jahren versperrte. Ich wurde ungeheuer
neugierig, wie das gegangen war von dieser Seite aus, all die Jahre
der Druck, die Kämpfe von außen und innen, wie die Leute das
gemacht hatten und wie sie dabei anders geworden sind als die im
Westen. Mir wurde jeden Tag deutlicher, dass wir aus dem Westen keine
Ahnung hatten, was hier seit dem Krieg eigentlich vorgegangen war.
Auch wir nicht, die wir den Kapitalismus bis aufs Messer bekämpften
und für uns beanspruchten, ein politisch brüderliches Verhältnis
zur DDR zu haben. In Wirklichkeit haben wir uns nie bemüht
herauszufinden, wie es tatsächlich funktioniert mit dem Sozialismus
im Innern, wie die Jahrhundertidee als realer Organismus lebte. Unser
Bild von der DDR war ein verschwommenes Mosaik aus eigenen
politischen Interessen und aus linkslibertär vorgeprägten
Abneigungen, die sich speisten oder lösten aus West- und
Ostoffiziellem, aus Vorgetragenem und Vorgezeigtem. Es ist auch uns
aus borniertem Desinteresse verborgen geblieben, wie das originäre
Leben sich hier organisierte und atmete.
Es ist schon
merkwürdig, dass wir gegen die kapitalistischen Inhalte und
Strukturen kämpften und nicht auf die Idee kamen, erfahren zu
wollen, wie es in den bestehenden sozialistischen zugeht. Wie die
Menschen darin wirkten und lebten, die nach 1945 etwas anderes
angefangen hatten als wir. Freiwillig, bewusst, aber ohne Erfahrung,
oder auch unfreiwillig, passiv, feindlich und zerfressen von
Sehnsucht nach dem Westen.
Welt ohne
Schnörkel
In den ersten Wochen entspannte ich mich, badete,
ruderte auf dem See und genoss das hinreißende Abendgold der
Spätsommertage. Ich war mir selbst überlassen und hatte Zeit, mich
zu finden und bereitzumachen, die neue Welt kennenzulernen.
Sie
tat mir wohl in ihrer Schlichtheit. Keine Schnörkel, kein Lack. Das
Wesentliche war ungeschönt sichtbar. Mir gefielen auch die Losungen.
Wahrlich keine phantasievollen Schöpfungen, aber deshalb nicht
falsch. Sie begegneten mir oft ganz unerwartet. Am Ende einer
Landstraßenkurve nach Berlin: Ich bin Arbeiter, wer ist mehr? An der
verlassenen Ruine eines Sägewerks: Den Sozialismus aufbauen!
Vorwärts zum VIII. Parteitag der SED. An der Dorfeiche: Mach mit,
schöner unsere Dörfer, unsere Städte. An der Schule: Wir lernen
für den Frieden. Immer riefen sie auf, appellierten mit schlichter
Wiederkehr an die Aufmerksamkeit der Bürger, an ihre Initiative,
ihre Loyalität für die sozialistische Gesellschaft. Eine rührende
Werbung, nicht erfunden für Saisonrenner und Marktneuheiten, nicht
für Ex-und-hopp-Produkte, nicht für den Genuss des Augenblicks.
Ihre Losungen und Sprüche forderten, versprachen und behaupteten die
Anstrengung und Hingabe für eine bessere Zukunft. In ihnen steckte
die Mühsal und nicht selten die Vergeblichkeit beim Beschreiten
neuer Wege, beim Ringen um neue Lebenswerte. Oft waren sie
verwittert, verblichen, als wollten sie sich langsam unsichtbar
machen, sich zurückziehen vor der Realität, die sie oft genug Lügen
strafte.
Nein, ich fand sie nicht lächerlich, pathetisch
manchmal, ja. Auch altmodisch. Aber sie konnten niemals so falsch und
zynisch sein wie der Kitekat-Werbeslogan in einer Welt, in der
jährlich 14 Millionen Kinder an Hunger und Seuchen sterben: »Das
Beste für unsere Katze«. Niemals entleerter als der tägliche
Radiospruch: »Bildzeitung – was braucht man mehr?« Und auch
niemals dümmer und hohler als: »Alles Müller oder was?« Ich kann
heute nur noch müde lächeln, wenn ich die beliebte Formel
westlicher Ansichten und Markierungen höre oder lese: »die
allgegenwärtige ideologische Propaganda und Indoktrination in der
DDR«. Welch eine Abstumpfung und Verödung ihrer
Wahrnehmungsfähigkeit gegenüber der eigenen Umwelt! Sie sind
aufgegangen in der Warengesellschaft und spüren nicht mehr, wie sie
24 Stunden am Tag von ihr bestimmt und belästigt werden. Wohin du in
der kapitalistischen Gesellschaft den Blick auch wendest, die
Schritte lenkst, die Sinne richtest, stößt du an ihre Propaganda.
Sie verfolgt dich überall hin, vom Erwachen bis zum Schlafengehen.
Die Straßen, die Häuser, die Lüfte, alle Körper, alle Flächen,
die offenen und geheimen Wünsche und Träume der Kinder, Frauen und
Männer, ihre Haut, ihre Haare, ihre Kleidung, ihre Zähne, die
Kunst, die Bildung, Wissenschaft und Kultur, alles, alles ist
Werbefläche, Werbeobjekt, Werbeträger für das kapitalistische
Gesellschaftssystem. Das nenne ich allgegenwärtig, und die Freiheit
davon war für mich ein wohltuender Gewinn an Lebensqualität.
Die
Propaganda in der DDR war ungeheuer simpel, klar und durchschaubar,
von allen Menschen als solche zu erkennen. Damit hat sie jedem die
Freiheit gelassen, sich vor ihr zu verschließen, sich zu
distanzieren. Die psychologisch und ästhetisch ausgeklügelte,
differenzierte Propaganda des Kapitals erlaubt dies nicht mehr, sie
hat alle inneren und äußeren Lebensbereiche durchdrungen, sie
steuert die Bedürfnisse und Lebensentwürfe, ohne mehr wahrgenommen
zu werden. Sie ist gefährlich und dort, wo sie deutlich sichtbar
ist, eine impertinente Plage.
Von Zeit zu Zeit kommt Werner
vorbei. Wir gehen zusammen spazieren, essen zusammen, diskutieren
oder plaudern auch nur. Er prüft mich unauffällig (denkt er), will
meine Eindrücke wissen und wie ich mich fühle. Er fragt nicht
direkt, er will es über Bilder herauskriegen.
»Ich war
gerade im Supermarkt.«
»Kaufhalle«, sagt er geduldig zum
wiederholten Mal. Wir lachen.
»Ich bin immer überrascht«,
erzähle ich. »Irgendwie dachte ich, es mangelt euch an allem. Das
denken wir alle drüben.«
»Das ist natürlich Quatsch, aber
wenn du länger hier bist, wirst du merken, wo es fehlt und hakt. Vom
Supermarkt sind wir noch weit entfernt.«
»Gott sei Dank«,
sage ich.
Wenn er geht, sagt er: »Sobald du dich in der Lage
fühlst, fangen wir an zu arbeiten. Deine Legende, dein Beruf, deine
neuen Verhältnisse, es wird nicht einfach, mach dir schon mal
Gedanken.«
Ich suche eine Bibliothek auf, ich will die
DDR-Sprache lernen. Jedes Gespräch verrät mich als »die aus dem
Westen« und stürzt anfängliche Unbefangenheit in Befangenheit. In
Österreich bin ich von älteren Leuten oft gefragt worden: »Kommen’s
aus’m Reich?« Da steckte so eine selbstverständliche
Komplizenschaft in der Frage, die mich abstieß. Ich verneinte immer.
Aber jetzt war Misstrauen und Unsicherheit in der Frage: »Sie kommen
aus der BRD?«
In der Bibliothek betrete ich aufregendes
Neuland: DDR-Literatur, sozialistische Geschichte, sozialistische
Ökonomie, DDR-Kunst, Poesie, jedes Buch würde mir die DDR
näherbringen, das ethische Verständnis des sozialistischen Teils
der Welt samt seiner Materialisierung lag vor mir. Ohne bürgerliche
Filterung und Interpretierung. Mit einem Packen Bücher über
ökonomische, politische Strukturen, gesellschaftliche Organisationen
etc., der »Aula« von Hermann Kant und einem Russischkurs komme ich
in die Wohnung zurück und lerne zuallererst die gebräuchlichsten
Abkürzungen: EOS, POS, NSW, SW, AWG, KWV …
Schweres
Ankommen
Selbst nach einem halben Jahr Vorbereitung konnte ich
unmöglich als DDR-Bürgerin durchgehen, mir fehlte die
Alltagssprache, und meine westlichen Sprachgewohnheiten konnte ich
nicht so schnell abstellen. Also entschieden wir uns für eine
Legende als Übersiedlerin. Das gab mir auch einen freieren
Kommunikationsraum. Ich war ausgehungert nach sozialen Kontakten,
Geselligkeit und Kommunikation. Das halbe Jahr in Berlin war ich vom
Alltag getrennt, stand nur in Beziehung zu den Genossen vom MfS. Aber
auch die letzten zwei Jahre in der Illegalität waren sehr einsam und
losgelöst gewesen. Das lange Alleinsein bedrohte schon meine
Lebenslust.
Gleichwohl war uns auch klar, dass ich von vielen
Leuten mit Misstrauen und Unverständnis betrachtet werden würde.
Aber ich traute mir zu, das aufzulösen, und wollte es lieber in Kauf
nehmen als zu strenge Zurückhaltung und Unsichtbarkeit. Außerdem
bin ich zu spontan und zu eitel, um eine allzustarke Disziplinierung
und Reduzierung meiner Persönlichkeit durchzuhalten.
Es wurde
dann aber doch schwerer, als ich es mir vorgestellt hatte. Das
Unverständnis, wieso ich vom Westen in den Osten gekommen war,
machte mich oft so wütend und verunsicherte mich. Die ersten Jahre
in Dresden fühlte ich mich manchmal recht ungemütlich. Der Westen
ist nicht beschreibbar. Die Diskussionen in meinem Arbeitskollektiv
endeten in der Regel mit Vergleichen äußerer Erscheinungen: Trabi
gegen Audi, Rügen gegen Mallorca, Westberlin gegen Ostberlin, da
ging die DDR natürlich immer nach Punkten k. o. Wie erkläre ich
Verdinglichung, Warenbeziehungen, soziale Kälte, Entsolidarisierung,
wie erkläre ich, was die Warengesellschaft aus den Menschen macht?
Ja, heute, nach den Jahren der Betroffenheit und Erfahrung in und mit
den kapitalistischen Werten und Wirkungen würde ich nicht mehr auf
diesen abwehrenden, ungläubigen Blick stoßen, der mich damals
verstummen und oft genug verzweifeln ließ.
Wolfgang war der
Stratege, seine Überlegungen erfassten weitere Räume, waren
großzügige Entwürfe, er forderte Alternativen zu seinen eigenen
Gedanken. Er strebte Lösungen an, keine Entscheidungen, nur weil er
die Macht gehabt hätte, sie zu treffen. Hinter seiner
konventionellen äußeren Erscheinung verbarg sich der
Geheimdienstmann von Welt und Kultur, von beider Seiten Welt und
Kultur. Er war mir angenehm, sein Blick war frei von Kleinlichkeit
und Provinzialität. Die Lust am Rituellen aber teilte er mit allen
anderen männlichen Funktionären: einen Toast oder eine kleine
Tischrede zu einem besonderen Anlass, die offiziöse Gestaltung von
Jahrestagen oder Ereignissen, ein politisches Statement zur
Unterstreichung der Wichtigkeit eines Vorganges usw.
Werner
war der Praktiker, der Arbeiter am Detail, der schlaue Fuchs, der
seine Karten nie offenlegte. Er war ein fabelhafter Kombinierer, ein
unbekümmerter Doppel- und Taschenspieler. Es war mir peinlich, wenn
er nicht merkte, dass ich ihn durchschaute. Er rührte stets viele
Seiten gleichzeitig an, um zu vertuschen, auf welche es ihm ankam.
Manchmal spielte ich das Spiel mit, um besser zu sein, aber es gefiel
mir nicht. Es waren die Momente, in denen ich spürte, er nimmt mich
nicht ernst, er will meinen Willen umgehen. Ich bin sein Objekt,
nicht seine Genossin. Aber er war auch ein liebenswerter
Gesellschafter, mit ausgeprägter Freude für Gastlichkeit und
Wohlbefinden.
Auch in den gemütlichsten, freundschaftlichsten
Momenten vergaß ich nicht, dass die Männer meine »Betreuer« mit
staatlichem Auftrag waren. Der Schritt, in die DDR zu gehen, hieß
gleichzeitig, mich in ihre Abhängigkeit zu begeben. Ich fürchtete
diese Abhängigkeit nicht, ich wusste, sie würde nicht missbraucht
werden.
»Was willst du machen bei uns, welcher Beruf würde
dir Spaß machen, in welcher Stadt möchtest du leben und wie
möchtest du heißen? Mal sehen, ob wir alle Wünsche zu einer
Geschichte machen können.«
»Reprotechnik«, damit hatte ich
aus dem Untergrund einige Erfahrung, »und bloß nicht in die
Provinz, wenn Berlin wegen der Sicherheit schon nicht in Frage kommt,
dann wenigstens in die zweit- oder drittgrößte Stadt.«
Nach
einem halben Jahr Vorbereitung reiste ich nach Dresden. Im Gepäck
viel Neugier, viel Banges, viel Spannung.
»Denk nur nicht, du
triffst auf lauter Kommunisten, weil du im sozialistischen Staat
bist. Wir wären schon froh, wenn nur die Hälfte aller
Parteimitglieder wirkliche Kommunisten wären. Erwarte kein
politisches Bewusstsein, wie du es hast, und wie du es gewohnt warst
von den westlichen Linken. Du wirst auf ein sehr unterschiedliches
gesellschaftliches Bewusstsein und gesellschaftliche Verantwortung
treffen. Erwarte keine Wunder. Vierzig Jahre sind nicht viel, aber
lang genug für viele Fehler, die Menschen sind zäh, und die BRD
hockt auf uns drauf, schwer wie Blei. Du wirst dich fremd fühlen
zuerst, stell dich darauf ein.«
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