„Die Heimat, der Krieg
und der Goldene Westen. Ein deutsches Lebensbild“ – Wolfgang
Bittner
MUTTERS „SALON“
Buchtipp von Harry Popow
Bei einem fröhlichen
Gartenfest mit Kindern, Enkeln und guten Bekannten sitzt Großvater
Michel etwas abseits im großen Sessel, ganz Ohr für die lustigen
Reden und Witze, leise lächelnd. Auf seinem Schoß ein soeben zu
Ende gelesenes Buch, denn er ist nach wie vor eine Leseratte. Der
Titel: „Die Heimat, der Krieg und der Goldene Westen“. Gerne
würde er, der die letzten Kriegsjahre als Junge – ebenso wie der
Autor – noch miterlebt hat, diese Lektüre mal anderen zeigen, aber
er will die fröhliche Runde nicht stören. Weiß er doch aus
Erfahrung, politische Bücher sind nicht jedermanns Ding. Und wenn,
dann nähert man sich ihnen nur mit sehr spitzen Fingern und mit
bedeutungsvollem Schweigen. Also sitzt er still und bescheiden, noch
tief ins Gelesene versunken.
Großvater Michel, sonst
ein mäßig politisch interessierter Bürger, ist sehr angetan von
diesem Buch. Da berichtet der Autor Wolfgang Bittner von einem
Knaben, der in Schlesien, genauer in Gleiwitz, aufgewachsen ist, der
den Überfall Hitlerdeutschlands auf die UdSSR, den Krieg und die
Vertreibung aus Schlesien – ohne zu begreifen was da geschieht –
miterleben muss. Großvater Michel sieht sich selbst als kleiner
Junge, wenn Eltern und Verwandte vom verfluchten Krieg tuschelten,
einige vom bald endgültigen Sieg über die Bolschewiken. Und wie das
kleine Kind, das der Romanautor nach der Umsiedlung in den Goldenen
Westen Junge nennt, so ganz langsam zu begreifen beginnt, was da
geschehen war und sich für Politik zu interessieren beginnt: Er, der
Junge, kommt später zu der Meinung, „...dass die Kleinstädter nur
daran interessiert sind, sich gemütlich einzurichten, ihren
Geschäften nachzugehen, und von der überregionalen Politik nichts
wissen wollen“. Das schreibt der Autor auf Seite 348. Großvater
Michel des Jahres 2019 nickt. So ist es. Kein Wunder, man gibt vor,
die Vergangenheit sei bewältigt. Man ruft auf zum Spaß haben, zur
Toleranz, zur Freiheit, zur freien Selbstverwirklichung des ICHS Man
sei offen und eben „anders“. Entpolitisierung sei das Stichwort.
*****
Wer einer Sache recht auf den Grund kommen will, für den ist das
erste Erfordernis dies, daß er den Problemen scharf ins Gesicht sehe.
Denn die nachher zu erlangende Einsicht hängt an der Lösung der vorher
ins Auge gefaßten Probleme; wer den Knoten nicht kennt, der kann ihn
auch nicht lösen.
Aristoteles
(384 - 322 v. Chr.), griechischer Philosoph, Schüler Platons, Lehrer Alexanders des Großen von Makedonien
Aristoteles
(384 - 322 v. Chr.), griechischer Philosoph, Schüler Platons, Lehrer Alexanders des Großen von Makedonien
*****
Um es vorweg zu sagen: Das Buch des Autors Wolfgang Bittner ist ein Knaller. Es ähnelt wenig einer reinen Autobiografie, sondern eher einem Protokoll mit gründlich recherchierten historischen Details über die Zeit von 1942 bis in die 50ziger Jahre. Man könnte annehmen, diese Zeitspanne sei abgearbeitet und die Folgen überwunden, umso mehr beschleicht den Leser das Gefühl und die Erkenntnis, dass doch noch nicht alles erledigt ist und die Deutschen vom Regen in die Traufe gekommen sind.
Das Dokumentarische des
Autors, das sich von Anfang des Buches bis zu Ende nahezu lückenlos
hindurchzieht, bildet den Hintergrund für die Geschichte eines
kleinen Kindes und seiner Eltern und Verwandten: Die Gräueltaten der
Wehrmacht an der Ostfront, der Goebbels-Ausruf, es gehe um den Kampf
gegen den Bolschewismus, das Potsdamer Abkommen, die Umsiedlung der
schlesischen Bevölkerung von Ost nach West, die Gründung der
Bundesrepublik und die beginnende Remilitarisierung.
Besonders interessant: Der
Autor führt das Beziehungsgeflecht der Verwandten so gekonnt vor,
dass durch deren persönliche Motive, Aussagen und Dialoge die
Widersprüchlichkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse sowohl
unter der Nazidiktatur als auch unter den Bedingungen der freien
Marktwirtschaft klar hervortreten. Immer in Abhängigkeit der jeweils
herrschenden Macht über das Volk. Durch die Identifizierung mit oder
auch durch die Distanzierung zu einzelnen Romanfiguren stellen sich
ganz neue Sichten auf die Geschichte und auf die
Manipulierungsmethoden der Machthaber und damit ein enormer Gewinn an
Erkenntnissen über das Problem Krieg und Frieden her. Eine
literarische Vorgehensweise, die mich als Rezensent stark beeindruckt
hat.
Hinter
vorgehaltener Hand
Was ist zum Beispiel zu
tun, wenn es heißt, Führer, wir folgen dir? Wenn Goebbels zum Kampf
gegen den Bolschewismus aufruft und 14.000 Stimmen ihr Ja brüllen.
Wenn Soldaten lachend in den Krieg ziehen. Wenn vom Feind, vom
Endsieg, vom zu erringenden Lebensraum im Radio getrommelt wird? Wenn
die Gestapo aufrechte Deutsche verhaftet, die Flugblätter mit der
Aufschrift verteilen, Hitler sei ein Verbrecher? Wenn man nur hinter
der vorgehaltenen Hand etwas gegen Hitler sagen darf? Da fragt die
Großmutter des Kindes, warum die Leute immer Krieg führen. Worauf
der Großvater entgegnet: „Die Leute nicht, die werden nur
aufgehetzt. Die meisten wollen eigentlich in Frieden leben...“
(Seite 47/48) Und beim Kaffeetrinken ergänzt er: „Stell dir vor,
die Industriellen sollen Hitler an die Macht gebracht haben. (…)
Die verdienen sogar am Krieg.“ Und gleich darauf kommt der
Großvater auf die eigene Mitschuld zu sprechen: „Vielleicht hätten
wir Hitler nicht wählen dürfen.“ Und dreht das Hitlerbild in
seiner Gaststätte bei wichtigen Besuchen wieder für alle sichtbar
nach vorne.
So trifft man beim Lesen
sowohl auf Charaktere, die von vornherein auf den verdammten Krieg
schimpfen und dem Hitler die alleinige Schuld geben, als auch auf
jene, die noch immer auf den Endsieg hoffen und glauben, der „Führer
werde es schon richten, wenn nur schnell die versprochene neue Bombe
zum Einsatz käme“. Dabei kommt es zwischen den verschiedenen
Romanfiguren lediglich zu kleinen Auseinandersetzungen, die den
Zusammenhalt trotz Drohung der Verhaftung nicht gefährden. Geht es
doch darum, zu überleben und die Angst vor der nahenden Front durch
die Russen zu überwinden.
Unter
der Diktatur des Geldes
Ganz anders verhält es
sich mit dem Denken und Fühlen nach der Umsiedlung in den Westen,
als nach dem Nürnberger Kriegsverbrecherprozess die Bundesrepublik
gegründet und die Wiederbewaffnung Westdeutschlands sowie mit der
Währungsunion die Spaltung Deutschlands ihren Anfang nimmt. In der
sogenannten freien Welt darf jeder seine Meinung äußern, man sei ja
in der Demokratie angekommen. Was also tun unter den Bedingungen des
Marktes, der Ausbeutung und des Hasses gegen die Vertriebenen aus dem
Osten, diesen „Schmarotzern und Rucksackgesindel“? Was tun, wenn
wieder von der Gefahr aus dem Osten geredet wird, wenn in
Schulklassen noch 1947 wieder der Rohrstock unter dem typisch
deutsch-bürgerlichem Motto „Ordnung, Sauberkeit, Pünktlichkeit,
Fleiß, keine Widerrede, keine Lügen, Ehrlichkeit“ das Sagen hat?
Was also tun, wenn der Marshallplan beschlossen wird und der Vater
des Jungen mahnt, den Amis gehe es nur um Kredite, um die Schaffung
eines Absatzmarktes für ihre Überproduktion, auch darum, Europa
„gegen die Sowjetunion und den Kommunismus in Stellung zu bringen“?
(S. 234) Was also tun, wenn der alte Spuk der Hochindustriellen mit
Hilfe der USA wieder das Kriegszepter schwingt, Deutschland wieder
nach größerer ökonomischer und militärischer Macht strebt? Was
tun, wenn die Romanfiguren, stets auf der Suche nach Arbeit und Brot,
auch nach wirtschaftlicher Selbstständigkeit als Unternehmer suchen,
nach Titeln und Geld streben statt nach politischen Alternativen? Was
tun, wenn um die Ursachen der Aufrüstung, der wahren Absichten des
Marshallplanes, des erneut aufflammenden Antikommunismus, der
Spaltung Deutschlands und des neuerlichen Russenhasses das große
politische Schweigen herrscht? Von BILD und anderen bürgerlichen
Medien gibt es keine Antworten. Sie lügen um der Machterhaltung
willen. Die erneute Verdummung nimmt ihren Lauf.
Da hat der Autor, sagen
wir mal besser die Mutter des Jungen, eine grandiose Idee. Sie
gründet in der Küche der Barackenwohnung einen „Salon“. Sie hat
das Lyzeum besucht, arbeitete als Sekretärin einst bei der
Reichsbahn, sie sei politisch unbedarft aber nicht uninteressiert, so
der Autor. Sie genieße die Diskussionen über Politik und Kultur,
„die ihr ermöglichen, zu eigenen Beurteilungen zu kommen“. (S.
242) Man spricht über Thomas Mann, Bertolt Brecht und Lion
Feuchtwanger, über die Frage, „ob ein erneuter Krieg verhindert
werden könne“, über die Gründung der NATO, die eindeutig gegen
die Sowjetunion gerichtet sei. (S. 263) Ein Herr Major befürwortet
dies, denn „dass von den Russen eine Gefahr ausgeht“, sei nicht
von der Hand zu weisen. Er glaube nicht daran, entgegnet ein Herr
Kaderabeck, befürchtet die Festlegung auf eine von den Siegermächten
verordnete Lebensform, „insbesondere auf das westliche
Wirtschaftssystem mit der Garantie des Privateigentums an
Produktionsmitteln“.
Auf Seite 264 lässt der
Autor eine Frau Weber zu Wort kommen. Sie habe ein Flugblatt der CDU
mitgebracht mit dem „Ahlener Programm“: „Das kapitalistische
Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen
des deutschen Volkes nicht gerecht geworden.“ Inhalt und Ziel der
sozialen und wirtschaftlichen Neuordnung „kann nicht mehr das
kapitalistische Gewinn- und Machtstreben, sondern nur das Wohlergehen
unseres Volkes sein“. Darauf Herr Kreuderitz: „Was sind das für
Schlagworte? ´Kapitalistisches System´ – das hört sich fast
schon kommunistisch an.“
Weiter lässt der Autor
seine Charaktere vieles aussprechen, was unter der sogenannten
Meinungsfreiheit bis heute im Jahre 2019 zwar nicht verboten ist,
aber von bürgerlichen Medien mit Hohn und Spott oder gar mit
Schweigen übergangen wird. So die Häme zur Gründung der DDR. So
die Warnung des Großvaters des Jungen vor einem neuen Krieg gegen
Russland. So die Meinung eines Kameraden des Vaters, der auf das
Profitstreben aufmerksam macht und feststellt, dass wieder Nazis in
der Regierung ihr Unwesen treiben und die BRD mit dem Marshallplan
unter der Fuchtel der USA stehen. Der sei reinster
Etikettenschwindel. „Die USA gewähren uns Kredite und verpflichten
die deutsche Wirtschaft, Produkte aus ihrer Überproduktion zu
kaufen.“ Diese enorme Reklame mache den Marshallplan zum Wunder,
das „uns vor Aufständen bewahrt und gegen die Sowjets einnimmt“.
(S. 332) Und der inzwischen größer gewordene Junge hört noch, wie
der Großvater fluchend schimpfte: „Sehr viel hat sich nicht
geändert, „Banausen und Spießbürger, wohin man blickt.“ Was
ist aus uns geworden?
Dem Autor Wolfgang Bittner
ist zu danken. Er hält jenen den Spiegel vors Gesicht, die immer
noch unter dem kapitalistischen Wachstum den Springquell auch des
persönlichen Glücks sehen und denen es relativ gut geht. Seine
Sprache ist klar, die Argumente sind treffsicher ausgewählt und
emotional beeindruckend seine Berichte über die Geschichte, wie auch
seine Beschreibungen von Natur und Örtlichkeiten. Die Aktualität
dieses Buches wird leider nahezu täglich mit immer neuen
Horrormeldungen unterstrichen. So schleuderten Medien folgende
Meldung am 21. April 2019 in den Äther: Mit 6,5 Milliarden Euro
sollen EU Straßen panzerfähig gemacht werden, „um schweres
militärisches Gerät schneller Richtung Russland bewegen zu können“.
Worauf man den Großvater
des Jungen im Roman fragen hört, ob es denn schon wieder soweit sei.
Und die Mutter (Seite 294) fragt vorwurfsvoll, ob man denn aus der
Vergangenheit nichts gelernt habe. Mutters „Salon“ bleibt nicht
ohne Wirkung.
Kurze Vita: Wolfgang Bittner lebt als Schriftsteller und Publizist in Göttingen. Der promovierte Jurist schreibt Bücher für Erwachsene, Jugendliche und Kinder Er erhielt mehrere Preise und Auszeichnungen und ist Mitglied im PEN. Von 1996 bis 1998 gehörte er dem Rundfunkrat des WDR an, von 1997 bis 2001 dem Bundesvorstand des Verbandes deutscher Schriftsteller. Ausgedehnte Reisen führten ihn nach Vorderasien, Mexiko, Kanada und Neuseeland, Gastprofessuren 2004 und 2006 nach Polen. Wolfgang Bittner war freier Mitarbeiter bei Zeitungen, Zeitschriften, Hörfunk und Fernsehen und hat mehr als 60 Bücher veröffentlicht, darunter die Romane „Der Aufsteiger“, „Niemandsland“ und „Hellers allmähliche Heimkehr“.
Wolfgang Bittner, „Die
Heimat, der Krieg und der Goldene Westen“, Roman, Verlag zeitgeist
Print & Online, Höhr-Grenzhausen 2019, 352 Seiten, geb., 21,90
Euro, ISBN 978-3-943007-21-3
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen