Der Aufschrei über einen Vorstoß Kevin Kühnerts zeigt, dass der Kapitalismus in Deutschland inzwischen Verfassungsrang hat.
von Bernhard Trautvetter
Nun steht zweifelsfrei fest, was wir alle schon ahnten: Die Deutschen dürfen nicht frei über die in ihrem Land herrschende Wirtschaftsform entscheiden. Und dies, obwohl die ökonomischen Rahmenbedingungen ihr Alltagsleben stärker beeinflussen als so manches gut geregelte Detail des Parlamentarismus. Die Zukunft ist nur innerhalb eines von privater Profitlogik vorgegebenen Rahmens veränderbar. Wer diesen Rahmen zu sprengen versucht, wie unlängst der Juso-Vorsitzende mit seinem Enteignungs-Vorschlag, wird von allen Seiten heftig zurückgepfiffen. In einem formal vom Grundgesetz bestimmten Land darf sehr wohl die Menschenwürde, niemals aber der Kapitalismus angetastet werden.
Kevin Kühnerts Sozialismus-Interview und der Sturm in der Öffentlichkeit, der darauf folgt, verdeutlicht vieles über die Mechanismen der Macht. Diese genauer anzusehen ist Aufgabe kritischer Aufklärung.
Bereits zu Zeiten des Vietnamkrieges wies in London der Vertreter der kritischen Psychiatrie Ronald D. Laing im Jahr 1967 auf dem Kongress der Studentenbewegung „Dialektik der Befreiung“ in seinem Vortrag über das Alltagsbewusstsein der Menschen im Kapitalismus darauf hin, dass der Kapitalismus eine vielfache Unwissenheit erzeugt:
„Dazu erzeugt das System Unwissenheit über sich selbst und eine Unwissenheit über diese Unwissenheit. ... Da gibt es jene, die wissen, dass sie nichts wissen; jene, die nicht wissen, dass sie nichts wissen; und unzählige andere, die ihre Unwissenheit ... in ein immer undurchdringlicheres Dunkel hüllen ... Ist man erst einmal mit Scheuklappen versehen, dann weiß man nicht, dass man welche hat“ (1).
Diese psychologische Beeinflussung geschieht durch eine Mischung aus Meinungsmache, Unterhaltung, Ablenkung, Repression und Bestechung und erzeugt eine doppelte Blindheit. Sie zielt in der Tat in erster Linie darauf ab, dass die Menschen die gegebene Gesellschaftsordnung und damit auch die Eigentumsordnung als gegeben ansehen, ohne sie zu hinterfragen. Dann kann man ihnen im Rahmen des Systems gefahrlos gewisse Freiheiten einräumen.
Wer sich gegen den Kapitalismus stellt, ist in den Augen vermeintlicher Sicherheitsorgane sofort von erhöhtem Interesse. Schon der Bezug auf den „Schwur der Häftlinge des Konzentrationslagers Buchenwald“ anlässlich ihrer Befreiung kann Menschen verdächtig machen. Der Schwur bezeichnet nach dem hessischen Verfassungsschutz (2) den Kapitalismus als eigentlichen Urheber des Faschismus. „Konkludent“ lehnt der Verband (die VVN) also die „kapitalistische“, mithin freiheitliche demokratische Grundordnung ab.
Der hier als verfassungswidrig eingestufte Schwur der KZ-Häftlinge von Buchenwald lautet:
„Wir stellen den Kampf erst ein, wenn auch der letzte Schuldige vor den Richtern der Völker steht! Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel“ (3).
Wie stark rückwärtsgewandte Kräfte die Geschichte verfälschen, wird deutlich, wenn man sich daran erinnert, dass Antikapitalismus mit einer sozialistischen Gemeinwohl-Orientierung damals sogar Eingang in die CDU-Programmatik fand. In den Jahren, die auf die 1945 beendete Befreiung vom Faschismus folgten, schrieb die CDU in ihrer Gründungsphase in ihr Ahlener Programm:
„Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden. Nach dem furchtbaren politischen, wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruch als Folge einer verbrecherischen Machtpolitik kann nur eine Neuordnung von Grund auf erfolgen. Inhalt und Ziel dieser sozialen und wirtschaftlichen Neuordnung kann nicht mehr das kapitalistische Gewinn- und Machtstreben, sondern nur das Wohlergehen unseres Volkes sein. Durch eine gemeinwirtschaftliche Ordnung soll das deutsche Volk eine Wirtschafts- und Sozialverfassung erhalten, die dem Recht und der Würde des Menschen entspricht ...“ (4).
In einem Interview mit der Zeit erklärte Kevin Kühnert, der Bundesvorsitzende der Jungsozialisten in der SPD, den Sozialismus als Ausdruck dafür, dass „eine bessere Welt nicht nur denkbar, sondern auch realisierbar ist. Sprich: eine Welt freier Menschen, die kollektive Bedürfnisse in den Vordergrund stellt und nicht Profitstreben“. Er veranschaulicht diese Vision so:
„Was unser Leben bestimmt, soll in der Hand der Gesellschaft sein und demokratisch von ihr bestimmt werden. Eine Welt, in der Menschen ihren Bedürfnissen nachgehen können. Eine Demokratisierung aller Lebensbereiche.“ (5)
Der Gegenwind aus Politik und Medien gleicht einem Sturm:
Michael Frenzel, Präsident des SPD-Wirtschaftsforums und Ex-Chef des TUI-Konzerns reagiert unter den sozialdemokratischen SpitzenpolitikerInnen besonders rigoros:
„Kühnert ... zerstört die Grundwerte des Godesberger Programms ... Es gibt nur eine Reaktion: ein Parteiausschlussverfahren.“
Die FDP-Generalsekretärin Linda Teuteberg eröffnet, dass Sozialisten in den führenden Parteien nichts zu suchen haben, da sie die Wirtschaft bedrohen:
„Der Juso-Chef gefährdet mit seinen Äußerungen den Wirtschaftsstandort Deutschland und wird zum Investorenschreck“ (6).
Hier wird die Demokratie infrage gestellt. Wer über den Kapitalismus hinaus-denkt, der wird zur Gefahr stilisiert.
Dazu passend formulierte der als „Liberalmarxist“ bezeichnete US-amerikanische Soziologe Charles Wright Mills schon vor über einem halben Jahrhundert in seinem berühmten Buch „Die Macht-Elite“, die USA hätten nur noch eine Wirtschafts-[Buisiness-]-Partei mit zwei Flügeln. Im Rahmen dieser beiden Flügel der auf die kapitalistische Wirtschaft und ihre Herrscher ausgerichteten „Partei“ hat der Bürger alle paar Jahre das Gefühl der Wahl. Der Fachbegriff für diesen Kunstgriff der Macht, Beherrschten im Rahmen vorgegebener und systemkonformer Alternativen das Gefühl von Freiheit zu geben, heißt in der Politik- und Medienwissenschaft „Framing“ (8). Die volle Entscheidungsfreiheit gilt nur im Rahmen teils eng vorgegebener Grenzen.
Der Kapitalismus ist für viele führende PolitikerInnen sakrosankt, er darf nicht infrage gestellt werden, obwohl das Grundgesetz die Sozialbindung des Eigentums nach Artikel 14 Grundgesetz offen gehalten hat. An seiner Erarbeitung waren linke SozialdemokratInnen, linkskatholische ChristdemokratInnen und zwei Kommunisten beteiligt, darunter Essens erster Oberbürgermeister nach der Befreiung vom Faschismus, Heinz Renner.
Das Framing nach dem Kühnert-Interview findet in Joachim Lang, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI), schon einmal einen Experten im Setzen von Eckpfeilern: Lang behauptet, Kevin Kühnert ignoriere in seinem Interview „die komplexen Herausforderungen von Digitalisierung und wirtschaftlichem Wettbewerb, denen sich unsere Unternehmen im Alltag stellen müssen“ (9).
Auch die Fraktionsführung der Grünen/Bündnis 90 im Bundestag bleibt in den Grenzen des Framing stecken, Anton Hofreiter sowie Katrin Göhring-Eckhardt sprechen sich gegen Kollektivierung aus, wie sie Kevin Kühnert mit sozialistischen Begründungen fordert. Katrin Göring-Eckardt erklärte: „Die Erfahrung und auch die Geschichte lehrt uns ja, dass die Frage der Eigentumsform nicht wirklich hilft.“ Was helfe, seien klare und eindeutige Rahmenbedingungen. Wohlstand werde nur mit mehr Klimaschutz in der Wirtschaft und mit der Wirtschaft erhalten. ... Der Europa-Spitzenkandidat der Grünen, Sven Giegold ...:
„Entscheidend sei ..., darüber zu reden, wie wir diese Marktwirtschaft sozial-ökologisch bekommen“ (10).
Marktwirtschaft ist das inhaltlich falsche Wort, es dient der Verharmlosung des Kapitalismus. Diese Marktwirtschaft gibt es nicht. Die Technische Hochschule Zürich fand 2014 in einer Studie heraus: Lediglich „...147 Konzerne [kontrollieren] den Großteil der gesamten Weltwirtschaft. Gemessen an ihrer Größe besitzen die Konzerne einen überproportionalen Einfluss. Drei Viertel der Weltwirtschaft wird durch Finanzkonzerne kontrolliert. Ein zweiter Blick auf die 147 Konzerne zeigt, dass gut drei Viertel der Unternehmen eigentlich im Finanzsektor tätig sind“ (11).
Auch die AfD befindet sich im Chor der systemkonformen Kritiker an sozialistischen Alternativen:
„Der stellvertretende Bundessprecher Georg Pazderski warnt vor den Kommunismus- und Enteignungsfantasien des SPD-Nachwuchspolitikers Kevin Kühnert. ... Mit den Interessen der Deutschen haben solche verfassungsfeindlichen Positionen nichts mehr zu tun“ (12).
Ebenso wie der Verfassungsschutz stellt auch die AfD sozialistische Positionen außerhalb der Verfassung. Es fragt sich, welches Verhältnis diese Kräfte zum Grundgesetz haben.
Das wird auch daran deutlich, dass die FDP den Verstaatlichungs-Artikel 15 aus dem Grundgesetz streichen will; es geht um diese Vorschrift: „Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden. Für die Entschädigung gilt Artikel 14 Abs. 3 Satz 3 und 4 entsprechend.“ Christian Lindner begründet sein Anliegen damit, dass dieser Artikel nicht zur Realität der sozialen Marktwirtschaft passe (13).
Die herrschende Klasse ist dabei, den Kapitalismus in den Verfassungsrang zu erheben.
Sozialisten müssen dann nicht nur mit Überwachung und Repression, sondern mit noch massiveren Formen der Verfolgung rechnen.
Quellen und Anmerkungen:
(1) R. Laing in: Marcuse u.a., Dialektik der Befreiung, Reinbek 1969, S. 21 f.
(2) VS von Hessen – AZ vom 7.10.16 L13-257-S-530.005-30/16
(3) https://dasjahr1945.de/der-schwur-von-buchenwald/
(4) https://www.kas.de/c/document_library/get_file?uuid=76a77614-6803-0750-c7a7-5d3ff7c46206&groupId=252038
(5) DIE ZEIT, 01.05.2019
Bernhard Trautvetter, Jahrgang 1954, ehemaliger Berufsschullehrer, Friedensaktivist aus Essen, Organisator von Friedensaktivitäten, darunter Demonstrationen gegen Nato-Konferenzen in der Messe Essen, Mitglied in der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes-Bund der Antifaschisten (VVN), Experte für Friedenspädagogik und Friedenspolitik in der GEW NRW, Referent zu Friedensfragen, u.a. auf der didacta für die GEW, bei Veranstaltungen der VVN, den Linken und den Grünen, dem bundesweiten Friedensratschlag in Kassel, von attac- und weiteren Friedens-Gruppen in mehreren Städten Deutschlands, Lyriker und Bildgestalter. Veröffentlichungen in Anthologien sowie u.a. in Neues Deutschland, Junge Welt, Marxistische Blätter, Weltbühne, KenFM, RUBIKON, Friedensforum; Träger des Düsseldorfer Friedenspreises 2018, Ausstellungen im In- und Ausland mit Fotografie, Lyrik und Collagen – ein Thema u.a. „Kriege enden nicht im Frieden“, www.fotolyrikart.eu.
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