Mittwoch, 15. Mai 2019

Ab in die "Taiga" - Leseprobe (10)


SOLDATEN FÜR DEN FRIEDEN (Teil zehn)

Leseprobe aus „AUSBRUCH AUS DER STILLE. Persönliche Lebensbilder“ im 70. Jahr der Gründung der DDR am 07. Oktober 1949

Der Autor Harry Popow wurde 1936 in Berlin-Tegel geboren, wuchs in der DDR auf, arbeitete als Militärjournalist im Dienstgrad Oberstleutnant in der NVA und betätigt sich heute als Blogger, Buchrezensent und Autor. Er ist seit 1961 sehr glücklich verheiratet.

  1. Ab in die „Taiga“


  2. Pinnow bei Angermünde. Dorthin ist Henry mit noch anderen jungen Offizieren verfrachtet worden. Die Enttäuschung sitzt tief in ihm. Wer zuviel träumt, kommt ins Stolpern. Henry notiert in seinem Büchlein: Ha, ha! Eine wunderbare Sache – Pinnow!! Pinnow? Kenne ich nicht. Ein Name wie Schall und Rauch für mich. Gestern schon in Angermünde gewesen. Nachts Heimweg - neun Kilometer Alleingang auf einsamer Straße, keine Zugverbindung mehr zu nächtlicher Stunde zwischen Angermünde und Schwedt/Oder. Die Kaserne am Ortsrand von Pinnow: Niedrige grau-grüne Steinbaracken ducken sich unter hohen Kiefern, Stabsgebäude und Ledigenheim zweistöckig. „Taiga!“ Wo bin ich gelandet? Alles hin – verlorene Illusionen! Man geht doch erst richtig mit einer der eigenen Person entsprechenden Tätigkeit auf. Dann erst kann man doch zeigen, was in einem steckt, wozu man fähig ist – ich bleibe wohl der „ewige Träumer“?!

    Die Kreisstadt Angermünde. Auch für diesen Ort hat der junge und leicht verwöhnte und anspruchsvolle Henry nichts als Sarkasmus übrig. Er schreibt: Eine Stadt, die sich hier im Norden inmitten der kleinen „niedlichen“ Ortschaften nicht sehr wesentlich heraushebt. Es fällt ohnehin nicht weiter auf, dass hier ein Theater fehlt. Umsonst, hier nach einem Kaufhaus zu suchen, umsonst, eventuell einen schwarzen einreihigen Anzug zu bekommen, umsonst, hier versuchen zu wollen, ungesehen ausgehen zu dürfen. In unmittelbarer Nähe des Bahnhofs befindet sich der „Berliner Hof“, Hotel und Tanzrestaurant zugleich. Will man die „Hauptstraße“ überqueren, so benötigt man dazu einige Zeit, denn der nicht abreißende Strom der vielen chromblitzenden Autos lässt das einfach nicht zu. Das ist noch nicht alles. Hohe Straßenlaternen erleuchten die wichtigsten Verkehrsknotenpunkte dieses großartigen Angermünde. Und erst die vielen Menschen. Dabei ist es durchaus möglich, dass einem die gleiche Person fünfmal in einer knappen Stunde begegnet. „Guten Tag“, „guten Tag“, dazu ein freundliches Lächeln, jenes sofort bei einem der Begrüßten auf den Lippen erstirbt, sobald diese Person etwas über jene andere „sehr Interessantes“ zu tratschen weiß. Mit durchaus guter Laune und Gesinnung öffnet man die dunkle Tür zum „Berliner Hof“. Auf dich treffen augenblicklich mit aller unangenehmen Wucht die mit frecher Neugier gespeisten kleinstädtischen Blicke. Ein Neuer, was will der denn hier? Falls die Tanzkapelle in diesem Moment nicht ihren pflichtvollen Beitrag zu so einem netten Abend leistet, ist das doppelt schlimm. Ein befreiendes Aufatmen, wenn man noch einen Platz erwischt. Möchte man dagegen lieber einen anderen „Pressluftschuppen“ kennenlernen, wo Höflichkeit und Anstand noch hoch im Kurs stehen, dann sollte man die Gaststätte „Ueckermark“ aufsuchen. Dort kann man sich ein Andenken holen - garantiert ein blaues Auge. Was ist Glück? Lebensfreude? Ausdruck der eigenen Kraft, Selbstbewusstsein, Erfolge, Bezwingen der Natur, der Lüfte, des Kosmos, Moral? Ungläubigkeit und Gleichgültigkeit der Mitmenschen zwingen zu noch größerer Deutlichkeit, zu noch größeren Anstrengungen, sein eigenes Profil auszuarbeiten, der Mittelmäßigkeit Paroli zu bieten! Große Worte um ein Nichts?

    In einem der ersten Briefe an Cleo verschafft sich Henry ein wenig Luft: „Pinnow ist ein kleines, langweiliges Dorf. Eine Kirche, ein Konsum und ne Kneipe. Kein Theater, kein Niveau. Banales und langweiliges Geschwätz. Fünfzehn Minuten Bahnfahrt von Pinnow nach Angermünde. Eine Kleinstadt. Kleine, bald zusammenfallende Häuser, gepflasterte Straßen. Meine Gefühle sind wie abgestorben. Wie ich beurteilen kann, habe ich mich bisher gegenüber den Soldaten nicht überworfen und nicht ‚vergessen‘. Hier muss man viel Verständnis aufbringen. Viele Soldaten haben nur sechs bis sieben Klassen Grundschule besucht und sind tatsächlich sehr unwissend. Aber man darf den Mut nicht sinken lassen. Man muss immer das Gute und Schöne im Auge behalten. Im Moment sitze ich in der Wohnstube eines Stellmachers im Dorf Schönermark in der Nähe von Angermünde. Hier bin ich mit noch einem Genossen. Wir bleiben zwei bis drei Wochen, also alleine auf einem Dorf auf Dienstreise. Das macht Spaß, wir gehen nach Belieben schlafen, stehen auf wie es uns gefällt. Allerdings müssen wir uns selbst verpflegen. Die Dörfer, die wir aufsuchen müssen, sind sozusagen ganz schöne ‚Kack-Nester‘. Olle Katen, bloß die Schilfdächer fehlen - das sind die Behausungen der ‚Ureinwohner‘. Von Straßen kann man überhaupt nicht sprechen - es sind in den feuchten Jahreszeiten wahre Schlammwege, dreckig und verkommen. Natürlich fehlt auch eine Wegebeleuchtung. Geht man abends die stockfinstere ‚Dorfstraße‘ entlang, dann sieht man hin und wieder ein auf- und ab tanzendes Lichtlein, wie Glühwürmchen. Man ist mit Taschenlampen unterwegs, sich vorsichtig zur einzigen Kneipe vortastend. Sogar auch die Mädchen stehen den Männern im Saufen nicht nach. Kino ist auf dem Dorfe nur zweimal im Monat. Traurig aber wahr.“

    Pinnow. Cleo antwortet: „Wie ich aus Deinen Zeilen ersehen kann, scheinst Du es nicht sonderlich gut getroffen zu haben. Vielleicht hast Du nächstes Jahr oder schon eher Gelegenheit, wieder versetzt zu werden. Es ist natürlich insofern schlecht für Dich, da Du doch ein anderes Milieu gewöhnt bist. Was machst Du denn da in Deiner Freizeit außer Kino? Ich persönlich würde viel schlafen. Vorhin war ich bei Helga zur Stunde, jetzt schreib ich noch einen Brief, dann mache ich die Küche noch wie üblich. Wie ist es eigentlich mit Deinen Soldaten, bzw. wo bist Du eingesetzt? Wie kommst Du überhaupt mit ihnen aus? Und dann noch was. Mutti hat auf einmal Anschauungen, dauernd Grund zum Streiten, weißt Du. Theater bleibt eben Theater, leichtsinnig und liederlich usw., ich würde genauso werden. Es ist vielleicht dumm, dass ich Dir all das schreibe, aber schließlich bist Du ja praktisch ein guter Bekannter und Freund.“

    Es ist Mitte November. Hat sich Henry eingewöhnt? Vielleicht, keinesfalls aber angepasst. Er sucht weiter im Himmel nach einer Wolke für sich und hält fest: Es ist 18 Uhr. Wie schnell doch die Zeit vergeht. Ich sitze in einem kalten Hotelzimmer in Angermünde. Draußen ist es dunkel. Die Glocken der Kirchturmuhr schlagen. Was hat mich hier nicht schon alles angeekelt. Ich muss mich aber zusammennehmen, alles ist vergänglich. Wie eine kleine wunderbare Blume inmitten eines trostlosen Gartens kam mir heute eine nette junge Dame vor, die ich in einem Laden sah. Montag will ich zur Modenschau in den „Berliner Hof“, einem Hotel und Restaurant. Carlo Rausch aus Leipzig führt sie vor. Mittwoch bekam ich einen netten Brief von Cleo. Interessiert sie sich noch ein wenig für mich? Ein Jahr will ich es hier durchhalten - und dann Versetzungsgesuch nach Rostock oder Schwerin schreiben, (oder Leipzig?).

    Der Soldatenalltag hat seine Tücken. Eine straffe Ausbildung hätte sich Henry ja noch gefallen lassen, so aber vergeht einem alles. Immer wieder fragen er und die anderen Zugführer sich, was denn das nur für eine Ausbildung ist? Manchmal hat Henry nur an die zehn Soldaten (immer noch alles Freiwillige) im Zug, und wenn die noch zum Wirtschaftsdienst in die Küche müssen, dann schreibt er neue Konspekte für eine Ausbildung, die noch in den Sternen steht. Des Abend’s wissen die jungen Offiziere mitunter noch nicht einmal, welches Thema am nächsten Tag dran ist. Henry erinnert sich: Es gibt zwar einen Plan, aber es kommt eben oft anders, auch plötzliches „Wache stehen“ mit dem Zug. Mal im eigenen Objekt, mal in Prenzlau, wo unser Stab des Schützenregiments liegt. Auch der Feierabend ist überhaupt nicht planbar. Da hocken wir Zugführer in der Baracke, im eisernen Öfchen glimmen die Briketts, und wir warten wie „auf Kohlen“ auf den Kompaniechef, der jetzt, um 21 Uhr, noch einmal zur Besprechung in den Stab musste.





Zum Inhalt

Ausgangssituation ist Schweden und das Haus in Berlin-Schöneberg, in dem die Ziebells wohnen. Der Leser erfährt zunächst, wer die Eltern waren (seine Mutter stammt aus Moskau), berichtet kurz vom Evakuierungsort 1943/44 in Pommern, von der Rückkehr in das noch unter Bombenhagel liegende Berlin (Schöneberg), von den Eindrücken nach Kriegsende und vom Einleben in der neuen Gesellschaft, dabei auch von einer Begegnung der Jungen Pioniere mit Wilhelm Pieck.

Die Lehrzeit wird skizziert mit der Arbeit im Zwickauer Steinkohlenrevier, mit Tätigkeiten in der Geologischen Kommission der DDR und mit dem Besuch der Offiziersschule der KVP/NVA in Erfurt und in Plauen, wo er seine spätere Frau kennenlernte.

Wie lebt ein junger Offizier in der Einöde im Nordosten der DDR, welche Gedanken und Gefühle bewegen ihn? Darum geht es in den nächsten Aufzeichnungen seiner Impressionen. Seine Träume führen ihn mitunter weg vom Kasernenalltag und so nimmt er die Gelegenheit wahr, für fünf Monate im Walz- und Stahlwerk Eisenhüttenstadt als einfacher Arbeiter tätig zu sein.

Durch Versetzungen gelangt er nach Potsdam. Dabei kommen Querelen des Alltags als Ausbilder und später als Politoffizier nicht zu kurz. Ein Glücksfall für ihn, als er nach Neubrandenburg in einen höheren Stab als Redakteur berufen wird. Er beginnt ein Fernstudium als Diplomjournalist an der Karl-Marx-Universität in Leipzig. Inzwischen ist er längst glücklich verheiratet. Die Höhen und Tiefen eines Militärjournalisten – die zwingen ihn, vieles neu zu überdenken. Vor allem als einstiger Ausbilder gelingt es ihm, die Probleme der Soldaten immer besser zu verstehen und sie bildhaft zu schildern.

Die spätere Arbeit als Abteilungsleiter in der Wochenzeitung „Volksarmee“ macht ihm nicht nur Spaß, er nimmt auch Stellung gegen Ungereimtheiten, was ihm nach der Entlassung aus dem aktiven Armeedienst und der Tätigkeit als Journalist im Fernsehen der DDR nicht nur böse Blicke einbringt. So fährt er im September 1989 seiner Tochter nach Ungarn hinterher, um herauszukriegen, weshalb sie mit ihrem Partner abgehauen ist; er gibt ihr dabei das Versprechen, sie in keiner Weise als Tochter zu verurteilen. Nach seiner Rückkehr wird er mit einer Parteistrafe gerügt, die Wochen später angesichts der vermeintlichen Verstöße und Fehler durch die Politik nicht mehr relevant scheinen und wieder gestrichen wird. Auf Unverständnis stößt er auch bei seinen Mitarbeitern, als er nach der Teilnahme an der Dokumentarfilmwoche1988/89 in Leipzig angeblich nicht die erwarteten Schlussfolgerungen zieht.

Nach der Wende: Versuche, arbeitsmäßig Fuß zu fassen, u.a in Gran Canaria und in einer Steuerfirma. Die Suche nach Alternativen, günstiger zu wohnen, sowie die Sehnsucht nach Ruhe führt das Ehepaar nach Schweden.

Episoden aus dem Dorfleben und von vielen Begegnungen, so z.B. bei der Geburtstagsfeier einer siebzigjährigen Schwedin, machen den Alltag und die feierlichen Momente in der „Stille“ nacherlebbar. Keine der in der DDR erlebten Widersprüche und politischen Unterlassungssünden wirft den überzeugten Humanisten aus der Bahn, wogegen die Kapitaldiktatur mit ihren hörigen Medien, politische Manipulationen und Lügen im angeblich so demokratischen Deutschland ihn aufbringen – er bleibt ein Suchender!

Harry Popow: AUSBRUCH AUS DER STILLE. Persönliche Lebensbilder in Umbruchzeiten. © Copyright by Harry Popow, Verlag: epubli, Druck: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin, Erscheinungsdatum 18.02.2019, ISBN: 9783748512981, Seiten: 500, Preis: 26,99 Euro
















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