Leseprobe
aus „EISZEIT-BLÜTEN“
„Helle,
dem Morgendämmern vorauseilende Lichtflecke huschten über das ebene
Land.“
Worte
voller Poesie! Sie schrieb Tschingis Aitmatow in seiner wunderschönen
Novelle „Dshamila“. (Nachzulesen in „Tschingis AITMATOW“,
Verlag Volk und Welt, Berlin 1974, S. 102.)
Eingefrorene
Menschlichkeit
Ein
früher Morgen. Wie andere auch. Wir treten auf den Balkon. Dieser
Duft. Frisches frühlingshaftes Grün. Wie es glänzt im Sonnenlicht
nach nächtlichem Regen. Ich sage: Guten Morgen, du Schöne. Was der
Wahrheit entspricht. Zärtlichkeit. Auch nach 60 Jahren. Wärme
menschlicher Nähe. Tiefes Durchatmen. Frei sein. Im Alter. Die
verrinnende Zeit. Kostbar, je älter du bist. Wie lange noch? An
jedem Tag dieses Glücksgefühl. Ausnahmslos. Liebe! Aus dem tiefsten
Innern. Man liebt nur einmal – dann aber richtig.
Überhaupt:
Empfindet man etwas Schönes, liest man Geistvolles, erfährt man
menschliche Wärme – muss man sich da vor innerer Freude
zurückhalten? Ist es nicht im gleichen Atemzug genauso mit dem Zorn,
dem Zweifel. Wie könnte man jeglichem Angriff auf´s Menschliche
widerstehen, ohne im Herzen die Liebe zu spüren, die Kraft, die in
einem ist? Die ins Umfeld wirkt – in eine weltweite Ungewissheit,
die seit dem geschichtlichen Rückfall jegliche Erinnerung im Keime
zu ersticken sucht, die neue Zukunftsträume zu Eis gefrieren lässt?
Was gehört dazu, mutig zu protestieren, Widerstand zu leisten?
Trillerpfeifen? Spruchbänder? Lichterketten? Teilnahme an
Demonstrationen? Sich
mit Gleichgesinnten zusammenschließen? Jeder muss tun, was er kann.
Ein
Morgen hat viele Gesichter. Die zum Aufstehen wegen des
Geldverdienens gezwungen sind, können sich glücklich schätzen. Sie
mühen sich so gut es geht, auch wenn sie sich fragen müssen „wie
lange noch?“ Und was ihnen entgegenpoltert: Stete Ungewissheiten.
Wirkliche Anerkennung? Würde? Man misst dich wegen deiner
Konsumkraft, nicht wegen deiner moralischen und politischen
Einstellung. Politik ist nicht gefragt, nur wählen darfst du, auch
demonstrieren, aber bitte im Rahmen. Und versuche keine Fragen zu
stellen. Die Antworten werden dich niemals befriedigen. Hauptsache,
du passt dich an. Maskiere dich. Falle auf. Du als dein eigenes ICH.
Kleidung. Äußeres. Halte mit oder du machst dich lächerlich.
Und
da sind andere Gesichter, die man nicht gerne sieht: Traurige. Sie
halten dir die Zeitung „Straßenfeger“ hin. Du gibst ihnen eine
Kleinigkeit, das Gesicht hellt sich auf, denn die Zeitung lässt du
de, bettelnden Geschöpf. Große Augen machten anfangs DDR-Bürger in
diesem ganz anders „aufgestelltem“ Deutschland: Schlafende unter
Brücken – Obdachlose. Aber es gibt ja die Tafel, hin und wieder...
Schamröte steigt in dir auf ob dieser fassungslosen Ungerechtigkeit,
diese Ohnmacht des Kapitalismus, Soziales in den Griff zu bekommen.
Jeder
Morgen verspricht den nahenden Tag. Ist er nicht auch ein Synonym
für´s Zukünftige? Die meisten Feinsinnigen trauen dem nicht, da
wenig Aussicht auf ein menschliches Dasein bestehe, sie sind
zufrieden mit dem was sie haben oder nicht haben, einige haben sich
abgewöhnt, darüber nachzudenken. Lohne es sich überhaupt? Sei doch
alles für die Katz. Gehe lieber in dich, ziehe dich in dein ICH
zurück und lebe in den Tag und, so eine andere Stimme: „Die Armen
sind selber Schuld.“ Außerdem: „Gott wird es schon richten“.
Richtig
leben? Fehlt da nicht das Vertrauen in Beständigkeit? Einst hatte es
Ansätze gegeben, beim Übergang vom Feudalismus zum
Frühkapitalismus. Da war zunächst Zukunftsträchtiges zu erwarten.
Was folgte waren letztendlich weltweite Massenmorde. Zuletzt
gebändigt durch eine gänzlich neue Gesellschaftsformation, bei dem
die Eigentümer der Produktionsmittel das Volk wurde, wenigsten in
Teilen der Welt. Bis dies alles – besonders durch äußeren Druck
und durch Negierung innerer Widersprüche aus „krankhafter
Zurückhaltung vor Angriffen des Klassengegners“ – zusammenbrach.
Und nun sind sie wieder von der Kette, die Verursacher, die an
Rüstung und Kriegen mächtig verdienenden. Und jedermann politisch
beschlagene weiß, wer gemeint ist. Es ist halt so: Die nicht durch
Mahnungen zu bremsende Profitgier der einen bedingt den
geistig-kulturellen und sozialen Niedergang der anderen.
Wie
soll da Morgenstimmung aufkommen? Liebe. Frieden, der Ewige?
Vergessen alles Vergangene? Als Blüten wirklich noch sprießten,
weil die da unten frei waren, abgeschüttelt hatten, was
Unmenschlichkeit im Namen der Menschlichkeit hieß. Winter adé ? So
der Titel eines kritischen und hoffnungsvollen Dokumentarfilms von
Helke Misselwitz im schon untergehenden Ländle mit den einst so
blühenden und gutherzigen menschlichen Beziehungen? Zu spät! Zu
spät! Zurück blieben verstörte und zum Teil verkrüppelte Seelen.
Gefangen in marktbedingten Stricken - saure Gesichter oft,
mittelfrohe Herzen, zum Teil hohle Köpfe, auch solche, die nie und
erst recht nicht in der „neuen Zeit“ einen Arsch in der Hose
hatten...
Doch
da rauft sich Gegenwehr zusammen: Zu erinnern ist - um nur einige
Beispiele zu nennen - an solche hervorragende aufklärerische Lektüre
wie „No way out“ (Hrsg. Hermann L. Gremliza), „Euroland
wird abgebrannt. Profiteure, Opfer, Alternativen“, (Lucas Zeise),
„Wir sind der Staat“ (Daniela Dahn), „Lob des Kommunismus“
(Hrsg. Wolfgang Beutin, Hermann Klenner, Eckart Spoo), „Schwarzbuch
Waffenhandel. Wie Deutschland am Krieg verdient“, (Jürgen
Grässlin) oder Wolfgang Bittner mit „Die Eroberung Europas durch
die USA“ in erweiterter Neuauflage. Widerstands- und
Aufklärungsbemühungen auch von Vereinen, Organisationen, von
außerparlamentarischen Aktionen, von Streiks, von Gewerkschaften...
Und bei Parteien zwinkert manches linke Auge...
Warum
sollte man die geistigen und politischen Blüten von Erfahrungen und
Erkenntnissen für eine bessere Welt nicht aus der bürgerlichen
Friedhofsruhe aufscheuchen, sie aus der Erde, aus der erstarrenden
politischen Eiszeit wieder herauskratzen? Sie nicht bündeln? Für
interessierte Leute. Für jene, die sich noch nicht – in Zeiten der
politischen und kriegerischen Tumulte – satt zurücklehnen. Der
Schrei nach „Etwas-Tun-Wollen“ ist - spätestens seit „Empört
Euch!“ von Stéphane Hessel - zum Entsetzen der bürgerlichen
Ewiggestrigen sehr lauter geworden. Mögen die ehrlichen
Widerständler manchen Gegenwind bekommen, aber kaum einen
persönlichen Feind, denn Ideen sind nicht totzukriegen.
Es
freut mich, wenn solche Freunde wie Günther Ballentin, ALEX, Lotti,
Hanna oder Judith mir voller Vertrauen erlaubten, ihre Gedanken,
Motive und Erinnerungen an die so verheißungsvolle DDR-Aufbruchs-
und Umbruchzeit in einem Büchlein, das eher einem Kaleidoskop
gleicht als einem Sachbuch oder einer Biografie, zusammenzufassen.
Sind es doch warmherzige Worte, richtige Blüten des sich nicht
Abfindens mit der gegenwärtig kälter werdenden Gesellschaft. Wer
will das bestreiten, ihre erkenntnisreichen Rückblicke und die sehr
kritischen und offenen Anmerkungen im Heute sind
zwar nur wenige Sandkörner auf dem Damm der Vernunft gegen weltweit
überschwappendes Profit-Ungemach (siehe auch die weit über 900
Buchexemplare von Erinnerungen von DDR-Bürgern, die sich im Verein
Erinnerungsbibliothek DDR zusammengefunden haben). Immerhin –
vorauseilende Lichtzeichen in notwendig aufkommender
Morgendämmerung...
An
dieser Stelle ein herzliches Dankeschön an die „Neue Rheinische
Zeitung“, die über 70 kritische Buchrezensionen des Autors Harry
Popow veröffentlicht hat. Die NRhZ ist seit Jahren die
Erbin jener Neuen Rheinischen Zeitung, die Karl Marx und Friedrich
Engels vom 1. Juni 1848 bis zum 19. Mai 1849 in Köln als
Nachfolgerin ihrer 1843 unter König Friedrich Wilhelm IV. verbotenen
Rheinischen Zeitung produziert hatten.
Harry
Popow: „EISZEIT-BLÜTEN. ROTE-NELKEN-GRÜßE AUS BLÜHENDEN
LANDSCHAFTEN“, Taschenbuch:
508 Seiten, Verlag:
Independently published, Brokatbook Verlag (17. September 2017),
Sprache: Deutsch, ISBN-10: 1549766864, ISBN-13: 978-1549766862, Größe
und/oder Gewicht: 14 x 3,2 x 21,6 cm, Preis: 12,50 Euro
Inhalt
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen