Der unnütze Mensch
Digital last!
18. OKTOBER 2017
von Roland Rottenfußer
Innovationsopportunisten blasen zum Angriff auf unsere Kultur
Eigentlich ist es absurd: In Deutschland werden Tausende in die Armut
getrieben, durch miese Renten und Löhne, überhöhte Mieten, Steuern und
Abgaben. Überall auf der Welt brennt es, sterben und verhungern Menschen
– und Politiker halten es für vordringlich, zu fordern, dass mehr
Informationseinheiten im Datenverkehr in Nullen und Einsen umgerechnet
werden. Kinder und Jugendliche können ihre Blicke schon jetzt kaum noch
von den flimmernden Bildschirmen der Smartphones, Tablets und Notebooks
lösen – und Christian Lindner fordert, zu Heilungszwecken die Dosis des
Gifts zu erhöhen. Unsere Gesellschaft befindet sich im Würgegriff einer
immer aggressiver agierenden Elektronikindustrie, sekundiert von ihren
Lobbyisten in den Parteien, die im Chor das Mantra „Digitalisierung“
intonieren. Das Ziel der Kampagne ist nicht nur, Arbeitnehmerrechte
aufzuweichen; intendiert ist eine Cyborg-Menschheit, die für die Zwecke
der Wirtschaft leichter handhabbar ist.
„Digitalisierung“, sagte Christian Lindner. „Digitalisierung“ sagte
Angela Merkel. „Digitalisierung“ sagten auch Horst Seehofer, Martin
Schulz und Cem Özdemir. Vielfalt ist derzeit angesagt in der
Angebotspalette der deutschen Politik. Keiner entgeht der
Digitalisierung in diesen Tagen. Schon bekommt die strauchelnde SPD von
den Presse-Meinungsführern wohlmeinende Ratschläge serviert: Statt der
„Rezepte von gestern –Umverteilung und soziale Gerechtigkeit – solle sie
sich lieber „modernen“ Themen widmen, die die Bürger „wirklich
bewegen“: Sicherheit, Zuwanderung und das beklagenswerte Hinterherhinken
Deutschlands in der Digitalisierungsfrage.
Was genau meint eigentlich „Digitalisierung“? Es scheint fast, als
verstünde jeder etwas anderes darunter: Angela Merkel blieb – nicht
untypisch für sie – eher im Ungefähren: „Durch den digitalen Fortschritt
wird sich vieles ändern. Wir alle sehen das. Allein das Smartphone
steht prototypisch dafür.“ Irgendwas mit Smartphones also. Martin Schulz
ging es eher um schnellere Hochladezeiten beim Surfen: “Solange wir in
Deutschland beim Ausbau des schnellen Internets nicht merklich
vorankommen, bleibt die Digitalisierung eine akademische Debatte.”
Die Grünen geben sich in ihrem Wahlprogramm etwas kritischer:
„Netzpolitik und Digitalisierung sind zentrale politische
Querschnittsaufgaben für eine moderne Gesellschaft. Im Mittelpunkt
stehen für uns der freie Zugang zum Netz für alle, der Schutz unserer
Privatsphäre und persönlichen Daten, eine zukunftsfähige digitale
Infrastruktur und eine modernisierte Wirtschaft und Verwaltung.“ Die
eher schwammige Message: Wir wollen irgendwie auch modern sein, sind uns
aber auch der Gefahr von Datenmissbrauch bewusst.
FDP: Bedenken second
So richtig Bescheid weiß natürlich nur die FDP, die die Digitalisierung
zur zentralen Menschheitsaufgabe unserer Epoche erhoben hat und das
Wahlvolk vor dem 24. September mit dem Denglisch-Klassiker „Ditschitäl
först – Bedenken säkänd“ verstörte: „Selbst fahrende Autos, sich selbst
steuernde Fabriken oder Ärzte, die über tausende Kilometer hinweg
Operationen durchführen“ droht das FDP-Wahlprogramm an. „Der digitale
Fortschritt verändert unser Privatleben, unserer Arbeitswelt und unsere
Wirtschaft nachhaltig. Damit die Menschen die Chancen der
Digitalisierung nutzen können, muss die Politik gezielt Zukunftsimpulse
setzen. Eine unzureichende digitale Infrastruktur, zu starre
Arbeitsgesetze, mangelnde Datenschutzregelungen und mittelmäßige
digitale Bildung blockieren den Fortschritt.“
Was eigentlich haben Smartphones, ein schnelles Internet, Computer in
Schulen und selbstfahrende Autos miteinander zu tun, außer dass alle
diese Dinge ganz furchtbar hightechnisch sind? Hier muss man versuchen,
zwischen den Zeilen zu lesen: Merkel wie Lindner stellen zunächst fest:
„Die Digitalisierung“ kommt und schafft Fakten. Diese Entwicklung ist
nichts Gestaltbares, sondern bricht über die Menschheit herein wie ein
Regenguss. Die Politik – und mithin die gesamte Menschheit – muss
lediglich Wege finden, wie der Anpassungsprozess an „die
Digitalisierung“ zu gestalten ist. Politiker räumen also offen ein, dass
„Entwicklungen“ von den technischen Eliten vorgegeben werden, denen sie
selbst nur noch folgen können. Das Problem für die Demokratie daran
ist: Technische Eliten wurden vom Bürger nicht gewählt, so wenig wie
Währungsspekulanten – dennoch beanspruchen beide Gruppen, Macht über
Millionen Menschen auszuüben. „Alle Staatsgewalt geht von Computer-Nerds
aus“ ist kein Artikel unserer Verfassung. Die „Unsichtbare Hand der
Technik“ steuert jedoch faktisch – zusätzlich zu der des Marktes – unser
aller Leben.
Das zweite, was die FDP in ihrem Wahlprogramm sagt, ist: In Zukunft
machen Maschinen alles „selbst“: selbstfahrend, selbststeuernd,
selbstorganisierend – Gipfelpunkt wäre das sich selbst schießende
Selfie. Auch eine Werbeseite der Telekom bläst in dieses Horn:
„Maschinen werden sich in der vernetzten Produktion zukünftig
‚unterhalten‘. Sie tauschen selbständig Daten aus, steuern ihre Arbeit
automatisiert und sind damit flexibler einsetzbar.“
Indirekt ist damit gesagt: Menschen werden überflüssig, Arbeitsplätze
werden abgebaut werden, nicht ohne dass man die arbeitslos Gewordenen
hinterher eindringlich zu mehr Eigenverantwortung ermahnen wird.
Die lästigen „starren Arbeitsgesetze“
Der dritte Punkt ist im FDP-Text ein bisschen versteckt, man muss
wachsam sein, um die Folgen zu begreifen: „zu starre Arbeitsgesetze“.
Eine der Urängste der Marktradikalen bricht hier durch. „Zu starr“
meint: Arbeitnehmer haben gewöhnlich das Bedürfnis nach planbaren Tages-
und Wochenabläufen, nach ausreichenden Einkünften über einen längeren
Zeitraum. Dieser Anspruch ist Lindner und Konsorten jedoch ein Gräuel.
Maßgeblich für die Arbeitszeitgestaltung, für Einstellung und
Entlassung, darf für sie allein der Wille des Arbeitgebers sein.
Menschengerechte Arbeitsplätze sind für Unternehmen ohnehin nicht
zumutbar, Menschen überhaupt eher lästige Kostenfaktoren mit
Besitzstandsdenken. Mit dem Gejammer muss jetzt Schluss sein. Das
fordert unabweisbar – raten Sie! – „die Digitalisierung“.
Aber liegt da nicht ein Logikfehler vor? Wie sind wir überhaupt von
Digitalisierung – irgendwas mit Smartphones, selbstfahrenden Autos und
schnellerem Internet – zu flexiblen Arbeitszeiten gekommen? Diese Frage
stellte sich der Linken-Bundestagsabgeordnete Michael Schlecht auch: Der
meinte ketzerisch: „Ein 3-D-Drucker als solcher zwingt die Menschen zu
gar nichts. Treiber sind die Unternehmen und ihr Interesse, dem die
Digitalisierung dienen soll: mehr Rendite.“ Für ihn ist Digitalisierung
„keine Naturgewalt, der wir uns beugen müssen, sondern die wir gestalten
können.“ Nicht schlecht, Herr Schlecht. Aber Sie übersehen, dass bei
der FDP, egal welche Verse gesungen werden, der Refrain immer gleich
lautet: Abbau von Arbeitnehmerrechten für den Profit.
Auch der WDR meldete an, was Christian Lindner ja eigentlich nicht
erlauben wollte: Bedenken. „Doch welche Konzepte hat die Partei?
Offensichtlich keine, das lässt das ‚Bedenken second‘ erahnen. Denn
Christian Lindner ist ja gegen Denken. Zumindest will er nichts
bedenken. Der Wahlspruch der FDP macht deutlich: Lindner und seine
Mannschaft wollen Bedenken abwerten.“ Aber bräuchte es nicht gerade
Bedenken? Als einen generellen Fortschrittsfeind betrachte ich mich
nicht. Ich bin über manche Errungenschaften, die ich erst im
Erwachsenenalter nutzen konnte, sehr froh: über Emails vor allem. Es
geht schlicht um die Freiheit, auszuwählen, welchen technischen
Neuerungen wir uns anschließen wollen und welchen nicht. Besitzen wir
diese Freiheit noch, oder haben wir sie bereits am Eingangsportal zum
digitalen „Second Life“ abgegeben?
Eine Welt aus Nullen und Einsen
Im Kern meint Digitalisierung: Komplexe Informationen – etwa ein Foto,
ein Text oder Musik – werden in unzählige „Entscheidungen“ zwischen Null
und Eins zerlegt. Das binäre System. Auf diese Weise sind Informationen
gut und ohne Qualitätsverluste transportabel, es können mehr von ihnen
in kürzerer Zeit verarbeitet werden. Wir kennen alle die Vorteile: CDs
sind im Vergleich zu Schallplatten reiner im Klang und auch bequemer
handhabbar. Sie sind computerkompatibel. Digikameras speichern unzählige
Bilder, die man nicht „zum Entwickeln bringen“ muss und die auf den
Computer geladen werden können. In Bibliotheken erleichtert die
Umwandlung von Analog in Digital, Informationen haltbar und besser
„durchsuchbar“ zu machen, schließlich mehr Informationseinheiten auf
engem Raum aufzubewahren.
Das ist ohne Zweifel „smart“. Aber man muss sich bewusst machen, dass
auch hier wieder die Ökonomie die Puppen tanzen lässt. Unternehmer
können mit Hilfe der Digitalisierung Zeit, Geld, Lagerplatz und Menschen
einsparen. Und natürlich – Wachstum generieren: „Analysten zufolge soll
die vierte industrielle Revolution in den nächsten zehn Jahren allein
in Deutschland die Wertschöpfung um 80 Milliarden Euro erhöhen“, heißt
es in einer Werbung der Telekom, die mit ihrem Digitalisierungsschub vor
drei Jahren ein halbes Land tyrannisiert hat. Digitalisierung, das hieß
für nicht wenige Kunden: quälende Stunden in Telefonwarteschleifen zu
verbringen, Verzögerungen, Schikanen, Tage ohne Telefon- und
Internetanschluss.
Verehrt wird der Kassettenrekorder, nicht die Musik
Nicht zum ersten Mal war ein Großkonzern rücksichtslos mit
Innovationsopfern umgegangen, vermittelte den von ihm abhängigen
Einzelmenschen ein Gefühl der Machtlosigkeit. „Widerstand ist zwecklos,
Sie werden assimiliert werden.“ Heute beschränkt sich der Computer nicht
mehr auf seine Kernkompetenz, etwa die Textverarbeitung. Es herrscht
ein zwanghaftes Bedürfnis, alles mit Computern oder Smartphones in
Verbindung zu bringen: den Kühlschrank, das Auto, den Bankverkehr, das
Bezahlen an der Parkuhr, den Fernseher ohnehin. Wenn alle Lebensbereiche
aber von einem oder zwei Geräten abhängig sind, verleiht das dem
Gerätehersteller eine beängstigende Macht. Sich dieser Macht eilfertig
zu unterwerfen, scheint vordringlichste Aufgabe „moderner“ Politik zu
sein.
Viele Menschen definieren sich heute weitaus mehr über die „Kanäle“ als
über die Inhalte, die mit diesen transportiert werden. In einem
Beispiel: Man stelle sich Jugendliche in den späten 60ern vor, die nicht
die Beatles oder Stones, sondern den Kassettenrekorder verehren, mit
dem sie diese Musik abspielen können; die sich gar als
„Kassettenrekorder-Generation“ bezeichnen lassen! Absurd? Aber so
ähnlich sieht die Welt heute aus. Vielleicht liegt es auch daran, dass
es für einen Lindner oder eine Merkel natürlich unbequem wäre, wenn die
Menschen zu viel nachdächten. Bedenken second. Lieber sind ihnen Bürger,
die sich verzetteln in unzähligen bedeutungsarmen
Kommunikationsvorgängen. Unter den Politikern habe ich bisher nur von
Sahra Wagenknecht Klagen darüber gehört, dass Schüler heute aufwachsen,
ohne mit Goethes „Faust“ und Thomas Manns „Zauberberg“ vertraut zu sein.
Über Inhalte wird ohnehin nur noch wenig geredet, eher darüber, wie man
Content streamt oder downloadet. Das Mittel drängt den Zweck an den
Rand. Wir sind auf dem Marsch zur Weltherrschaft des Sekundären.
Das digitale Klassenzimmer – Angriff auf die Kinderseele
Will man eine Gesellschaft im erwünschten Sinn verändern, greift man am
besten auf die Seelen von Kindern und jungen Leuten zu. Bei denen rennt
man mit allem, was irgendwie mit Technik zu tun hat, ohnehin offene
Türen ein. Kinder lieben auch pappige Süßigkeiten mit Farbstoff und
Unmengen zuckriger Limonade. In der Verantwortung von Älteren und auch
der Politik läge es jedoch, ihnen einen maßvollen Umgang mit
Suchtmitteln nahezubringen. Nicht so bei technischen Geräten, denn deren
maßloser Gebrauch hilft ja „der Wirtschaft“, also jenem Götzen, dem
alle opfern zu müssen meinen, solange er gilt. Ein „Schulpakt Digital“,
so wurde im Juni gemeldet, solle fünf Milliarden für neue Hardware in
Schulen ausgeben – das war noch vor der Wahl und vor der Regierung
„Merkel/Linder“.
Liegt darin der Königsweg, um Kinderseelen wettbewerbsfähig zu kneten?
Ralf Lankau, Professor für Medientheorie, zeigte in seinem Buch „Kein
Mensch lernt digital“ anhand einer Reihe von Studien auf, dass
Digitalisierung im Unterricht oft mehr schadet als nützt. Es sei nicht
„Aufgabe von öffentlichen bzw. staatlichen Bildungseinrichtungen,
Kindern und Jugendlichen den Gebrauch von Geräten der
Unterhaltungsindustrie beizubringen – das können sie schon – oder den
medialen Konsum zu fördern. Sie nutzen digitale Endgeräte bereits
mehrere Stunden täglich – und gewöhnen sich an die Fremdbestimmung durch
Algorithmen, Apps und Avatare.“ Zu den Gründen für die druckvolle
derzeitige Digitalisierungskampagne sagte Lankau: „Es geht, ganz
trivial, um Märkte. Es geht um Geschäftsfelder und vor allem um den
Zugriff auf Nutzer- und Lerndaten.“
Systemmedien machen derzeit sehr massiv Kampagne für eine
Lindnerisierung des Bildungswesens. Der Spiegel (Nr. 39/2017) natürlich
allen voran mit einem umfassenden Schulbericht. Da wird dem „Problem“
(Unterdigitalisierung in Schulen) dann gleich eine Lösung (lobenswerte
Digitalisierungsbereitschaft) gegenübergestellt. „Vorher“, in der
Digi-Steinzeit, sah es noch schlimm aus: „Ein Computerraum findet sich
zwar an vielen Schulen, aber im Unterricht sind Computer und Tablets oft
Fremdkörper, Smartphones in den allermeisten Fällen verboten“. Anders
der vom „Spiegel“ erkorene Vorzeigelehrer Tobias Weigelt: „Das gibt es
in seiner Schule nicht. Im Gegenteil: Wer ohne Tablet, Laptop oder
Smartphone zum Unterricht erscheint, muss sich schleunigst eines der
Ersatzgeräte holen, die an der Schule für solche Fälle bereitliegen.“
Moderne Lehrer „laden ihre Lösungen hoch, posten die Hausaufgaben“.
Brave Schüler 4.0 „chatten gelegentlich mit ihren Lehrern“ oder loaden
eine vom Lehrer gepostete Quiz-Software down. Dort lösen sie
Multiple-Choice-Aufgaben im Wettbewerbsmodus. Und wenn einige von ihnen
die Lösung früher als nötig gefunden haben, ist nicht etwa eine Pause
angesagt, nein: „Wer schneller mit einer Aufgabe fertig ist, erhält
übers Smartphone oder Tablet zusätzlichen Lernstoff.“
In der digitalen Einzelzelle
„
Das Medium ist die Botschaft“ ist der Slogan einer inhaltlich weitgehend
ausgehöhlten Epoche. Logischerweise fördern Computer und Smartphones
eher das schnelle Abfragen von Faktenwissen, sie erschweren Vertiefung,
vernetztes Denken, das selbständige Herstellen von Zusammenhängen und –
von Digitalisierungsbefürwortern besonders gefürchtet – kritisches
Denken. Nehmen wir an, Schüler sollen im Unterricht die Frage
beantworten: „Ist Stefan Zweigs ‚Schachnovelle‘ eine Novelle, eine
Kurzgeschichte, ein Gedicht oder ein Zeitungsartikel?“ – ist es dann für
den Lernerfolg entscheidend, ob die Frage per Handzettel, Email,
Chatfunktion, ICQ oder What’s App, ob sie mündlich, per Kreideschrift an
der Tafel, per Handy, Smartphone, Tablet, Notebook oder Großcomputer
gestellt wird? Wichtig ist doch, ob die Schüler sie richtig beantworten
können. Noch wichtiger eigentlich (aber nicht Gegenstand des
„Spiegel“-Artikels): ob Schüler das Wesen der Novelle begriffen haben
und sich selbstständig Gedanken über das betreffende Werk gemacht haben.
Das geht dann in Universitäten so weiter. Bernd Ulrich, Chef des Verlags
„Auditorium Netzwerk“ (55), besuchte nach langen Jahren einmal wieder
als Gast eine Uni-Vorlesung. Sein Urteil über die Veränderungen, die es
seither im Universitätsbetrieb gegeben hat: „Science fiction“. Vor allem
wunderte sich der Diplom-Pädagoge über die Überpräsenz von
Bildschirmmedien am Campus. „Fast jeder und jede der ca. 150
Studierenden hatte entweder einen Laptop oder ein Notebook vor sich
stehen.“ Kein Mitschreiben mit Stift und Papier, keine physischen Flyer
mehr, der Vorlesungsinhalt kann mühelos downgeloadet werden. Das hat
große Vorteile, auf der Strecke bleibt aber der Kontakt unter den
Studierenden sowie zwischen Studierenden und Lehrkräften. „Als ich im
Hörsaal saß damals als Student, wir haben schon miteinander getuschelt
oder irgendwie Kontakt gemacht, oder den Prof. angeschaut (…) Ich hab
mal geschaut, ob das auch der Fall war an diesem Morgen. Ich hab‘s
selten gesehen. Der Bildschirm fokussierte die Aufmerksamkeit.“
Digitalisierung also vereinfacht einige Vorgänge; aber der Preis dafür
ist hoch: Die Aufmerksamkeit wird gleichgerichtet – um nicht zu sagen
gleichgeschaltet – und auf das Bildschirmmedium fokussiert, während
Menschen voneinander zunehmend entfremdet werden. Nicht nur das bei
allen Lehrern traditionell verhasste „Schwätzen“ wird erschwert, auch
der eigentlich erwünschte direkte Lehrer-Schüler-Dialog. Ist es Zufall,
dass gerade dieser Menschentyp derzeit gezüchtet wird: in
Aufmerksamkeitsblasen eingesperrte, voneinander isolierte Individuen,
beziehungsarm, technikabhängig, steuerbar, überangepasst? Sind solche
Erziehungsergebnisse etwa erwünscht, weil sie die Handhabbarkeit des
Menschen in ökonomischen Verwertungszusammenhängen erleichtert?
Grenzenlos flexibles Arbeitnehmermaterial, das sich in einem gnadenlosen
Wettbewerb jeder gegen jeden um die wenigen Arbeitsplätze aufreibt, die
die Roboter noch übrig lassen werden. Ja, schlimmer noch: Menschen, die
selbst zunehmend roboterhaft agieren, an denen Maschinen-Applikationen
wie Smartphones und GPS-Uhren fast so unlösbar festmontiert sind wie bei
den Cyborgs in gewissen Science-fiction-Filmen.
Omnipräsentes Spielzeug: „Widerstand ist zwecklos“
Ist es möglich, den Trend noch zu stoppen oder wenigstens dessen
schlimmste Auswüchse zu verhindern? Einige Schnapsideen früherer Zeiten
wurden vom „Zeitgeist“ mittlerweile zum Glück wieder kassiert:
Tamagotchis z.B.: elektronische Haustiere, die man elektronisch
„füttern“ musste. Oder die Online-Plattform „Second Life“, von der es in
der kurzen Zeit des Hypes 2003 hieß, niemand mehr werde sich künftig
dem gesellschaftlichen Druck entziehen können, dort virtuell präsent zu
sein. Man hört heute nichts mehr von Mini-Discs oder von dem
Multi-User-Kommunikationsdienst „ICQ“. Im Gegensatz zu diesen
Rohrkrepierern haben sich Smartphones allerdings heute auf breiter Front
und nachhaltig durchgesetzt. Die Käufer haben quasi mit den Füßen
darüber abgestimmt, dass aus dieser Idee ein kulturprägendes Werkzeug
werden konnte.
Allerdings handelte es sich um eine gelenkte Form „spontaner
Begeisterung“. Irritierend ist die Aufdringlichkeit der
Verkaufsstrategie, so als könnten die Hersteller weiße Flecken auf der
Vermarktungslandkarte nicht ertragen. Als wolle man noch die letzte
smartphonefreie Zone um jeden Preis eingemeinden. In der „Fack ju
Göthe“-Ära ist ein Haushalt ohne Buch ohne weiteres erlaubt; ein Mensch
ohne Smartphone muss sich dagegen ständiger Vorwürfe und
Umerziehungsversuche erwehren. Interessant ist in diesem Zusammenhang
der jetzt verfilmte dystopische Roman „The Circle“ von Dave Eggers, der
von einem großen Elektronikkonzern (ähnlich facebook) erzählt. Es gibt
im Roman einen „Konservativen“, einen Technikverweigerer namens Mercer,
der dramaturgisch so etwas wie das Sprachrohr des Autors ist. Mercer
sagt an einer Stelle treffend: „Ihr wollt nicht bloß eure Daten, ihr
brauch auch meine. Ohne seid ihr nicht vollständig. Das ist eine
Krankheit“.
Lebt auch mal wieder offline!
Digitalisierung, Lindners Supergrundrecht, wird derzeit auf allen
Kanälen in der bewährten Weise auf die Tagesordnung gedrückt: durch das
Schüren von Angst. Deutschland sei in puncto Digitalisierung bestenfalls
im Mittelfeld, es gehöre aber – wie in naivem ökonomischem Patriotismus
vorausgesetzt wird – an die Weltspitze. Leistungsfähigere Völker des
Ostens könnten uns im Schicksalskampf um (virtuellen) Lebensraum
überholen. Deutschland – der schlimmste Vorwurf in einer
innovationsopportunistischen Gesellschaft – sehe „alt aus“.
Digitalisierungsbefürworter erwecken stets den Eindruck, als hätten sie
die Lebenstüchtigkeit und den praktischen Verstand gepachtet. Dabei
ziehen sie eine Spur der Verwüstung durch die Seelen von Millionen
Menschen. Der blassgesichtige Jugendliche, fahrig in den Bewegungen, den
verschwommenen Blick stets auf irgendwelche flimmernden Bildschirme
gerichtet – es ist ein Klischee, ja, aber keines, das ganz ohne Grund
entstanden ist. Nennen wir die Dinge doch beim Namen: Es gibt des
Virtuellen und Digitalen eigentlich schon längst zu viel. Wer unter
diesen Umständen mehr „Maschinen“ im Unterricht fordert, muss sich
vorwerfen lassen, eine Realität zu leugnen, die in puncto psychosozialer
Gesundheit längst das Gegenteil verlangen würde: digitale Auszeiten,
Technikfasten, eine Vermehrung der offline verbrachten Zeit aus Gründen
des Selbstschutzes. Dort, wo übermäßige Nutzung bei Tausenden in Sucht
umschlägt, wird der Ruf nach mehr Technik sogar gemeingefährlich.
Drastisch ausgedrückt ist er Komplizenschaft mit Dealern. Es bräuchte
die politische Ermutigung zu kollektivem Entzug, nicht die staatlich
gepushte Anschaffung von noch mehr Suchtmitteln.
Im Buch „The Circle“ gibt es gegen Ende ein wichtiges Gespräch zwischen
der Hauptakteurin Mae und Ty, dem Gründer und technischen Mastermind der
Firma. Der würde die Geister, die er rief, nun am liebsten wieder
loswerden: „Mae, eine ganze Menge von den Sachen, die ich erfunden habe,
hab ich ehrlich aus Spaß gemacht, aus einer spielerischen Neugier
heraus, ob sie funktionieren würden oder nicht, ob Leute sie benutzen
würden. Ich meine, es war, als würde man auf dem Marktplatz eine
Guillotine aufstellen. Du rechnest doch nicht damit, dass zig Leute
Schlange stehen, um den Kopf reinzulegen.“
In der Digitalisierungsrepublik Deutschland ist die Schlange mittlerweile ziemlich lang geworden.
Roland Rottenfußer, Jahrgang 1963, war nach dem
Germanistikstudium als Buchlektor und Journalist für verschiedene
Verlage tätig. Von 2001 bis 2005 Redakteur beim spirituellen Magazin
connection, später für den Zeitpunkt“. Aktuell arbeitet er als Lektor,
Buch-Werbetexter und Autorenscout für den Goldmann Verlag. Seit 2006 ist
er Chefredakteur von Hinter den Schlagzeilen.
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