VERÖFFENTLICHT VON LZ ⋅ 6. SEPTEMBER 2017
Die vierte Wahl Angela Merkels ist schon entschieden, bevor am 24. September der Bundestag neu gewählt wird. Der Sieg ist gewiss, weil es keine Opposition gibt. Es ist dies die Ära des Merkelismus und wir durchschreiten in der Dunkelheit das tiefste Tal.
Noch immer das hölzern pedantische Volk,
Noch immer ein rechter Winkel
In jeder Bewegung, und im Gesicht
Der eingefrorene Dünkel.
Sie stelzen noch immer so steif herum,
So kerzengerade geschniegelt,
Als hätten sie verschluckt den Stock,
Womit man sie einst geprügelt.
— Heinrich Heine
Als Heinrich Heine im Jahre 1843 zum ersten Mal seit 13 Jahren aus Paris nach Hamburg fuhr, herrschte eine ähnlich reaktionäre Periode wie heute. Der geniale Poet befand sich damals im Exil, die Reaktion wütete in einem zersplitterten Deutschland aus Fürstentümern und dekadenten Königshäusern. Auf dem Weg in die Hansestadt schrieb er an seinem berühmten Werk Deutschland. Ein Wintermärchen: Ein pessimistisches Bild jener Zeit, das er mit seinem gewohntem Spott malte, mit dem er zugleich aber ein lyrisch-revolutionäres Programm aufstellte, das er in den künftigen Revolutionen versuchte umzusetzen.
Nur knapp fünf Jahre später sollte das politische Programm jener Zeit aufgestellt werden: Das Manifest der Kommunistischen Partei von Karl Marx und Friedrich Engels. Besonders zwischen Marx und Heine sollte sich eine tiefe Freundschaft entwickeln und beide sollten auf ihre Weise Kämpfer für die Revolution sein — eine Revolution, die Deutschland aus seinem Winterschlaf herausreißen sollte. Heute, an den Grenzen der bürgerlichen Restauration, ist dieses Land geeint, mehr noch, der deutsche Imperialismus wieder im Aufstieg begriffen, während einen Monat vor den Wahlen fast eine Totenruhe herrscht in der politischen Landschaft. Deutschland — ein Wintermärchen?
Reaktion und rechter Terror
Denk‘ ich an Deutschland in der Nacht
Bin ich um meinen Schlaf gebracht
Mein Bruder Adriano wurde umgebracht
Hautfarbe – schwarz; Blut – rot; Schweigen ist Gold
Diese Verse aus dem Songtext „Adriano” von den Brothers Keepers sind nun 16 Jahre alt, in Gedenken an den mehrfachen Familienvater Alberto Adriano, der im Juni 2000 hinterhältig von drei Faschisten ermordet wurde. Faschistische Morde und Angriffe sind in diesem Land seit jeher an der Tagesordnung, manchmal sogar von Terrorgruppen wie dem NSU über Jahre ausgeführt und vom Verfassungsschutz unterstützt — ohne dass wir es direkt merken würden. Auch der NSU wurde erst nach knapp zehn Jahren enttarnt, nachdem Uwe Börnhardt und Uwe Mundlos sich selbst erschossen. Elf Morde hatten sie bis dahin ausgeführt, die meisten an Migrant*innen. Alle davon unter Mitwisserschaft des Staates.
Mit der bürgerlichen Restauration ging also nicht nur der politische Aufstieg Angela Merkels vonstatten, sondern auch die Normalisierung der faschistischen Attentate. Unmittelbar nach der „Wende” gab es nicht nur einen dramatischen Anstieg von rechtsextremen Angriffen — vielmehr wurden sie Teil des Alltagslebens in Deutschlands, selbst 25 Jahre nach dem Pogrom von Rostock-Lichtenhagen. Niemanden verwundert es daher, dass auch dieser Tage zwei Nazis eine Todesliste gegen linke Aktivist*innen führten; ironischerweise wiederum aus Rostock.
Alleine 2016 gab es sage und schreibe 22.000 rechte Straftaten, zwölf Menschen wurden dabei ermordet, die meisten (neun) durch den rechtsextremen David S., der in einem Münchner Einkaufszentrum für ein Blutbad unter zumeist migrantischen Jugendlichen sorgte. Währenddessen zeigt sich die bürgerliche Klassenjustiz auf dem rechten Auge blind: Ein 21-jähriger niederländischer Anti-G20-Aktivist wird zu mehr als zwei Jahren Haft verurteilt, während in Sachsen eine Gruppe von „Reichsbürgern” zwar Munition, Schusswaffen, Sprengstoff, Schießkugelschreiber, zwei Kilogramm Schwarzpulver sowie aus Grillanzündern gefertigte Molotow-Cocktails und einen „nicht handhabungssicheren Initialsprengstoff“ horten, aber dennoch nicht als Terrorzelle bezeichnet werden — und somit auch, wenn überhaupt, eine geringere Strafe zu befürchten haben.
Nach zwölf Jahren Merkel sind solche Meldungen alltäglich geworden, die Farce um den NSU-Prozess tat sein Übriges und verdeutlichte einmal mehr, dass unter dieser Kanzlerinnenschaft rechter Terror gefördert und gedeihen kann. Das Paradoxe dabei bleibt, dass Merkel in einer Welt mit Donald Trump, Viktor Orban, Recep Tayyip Erdogan oder Wladimir Putin trotzdem als Repräsentantin „der freien Welt“ bezeichnet werden kann und sich angeblich von ihren erzreaktionären Kollegen positiv abheben kann. Genau das Gegenteil ist der Fall: Eine Kanzlerin, die in Verbund mit allen anderen Parteien selbst nach Afghanistan abschieben lässt, steht in einer Reihe mit jenen Trumps, Erdogans oder Putins dieser Welt, mit denen sie die beste Geschäfte ausführt.
Kriege nach innen …
Wenn also Kanzleramtschef Peter Altmeier (CDU) kurz vor den Wahlen sagt, dass es Deutschland „so gut geht wie noch nie”, dann ist das nicht nur ein billiges Wahlkampfmanöver, sondern auch die Notiz eines Selbstbewusstseins, das daraus hervorgeht, dass es keine ernsthafte Opposition gibt. Der lähmende Wahlkampf ist u.a. Ausdruck eines gemeinsamen stillschweigenden Arrangements unter den Parteien, die allzu große Veränderungen und ein allzu großes Risiko befürchten mit dem Szenario eines künftigen Bundestages mit sechs Parteien.
Deutschland als eine ruhige Insel, während rundherum ein Land nach dem anderen eine schwere Krise durchleidet und bis dahin institutionelle Parteien in den Abgrund reißt und neue entstehen lässt. Inmitten einer Welt, die „aus den Fugen geraten” sei, wie es Merkel selbst Ende 2014 feststellte. Dieses scheinbare Paradoxon lässt sich auch damit erklären, dass die zwei größten Parteien der Bourgeoisie (CDU und SPD) in acht der letzten zwölf Jahre gemeinsam regierten und einen Block schmiedeten, der den Aufstieg Deutschland innerhalb der Europäischen Union erleichtern bzw. ermöglichen sollte. Nicht zufällig ist eben seit zwölf Jahren Angela Merkel Kanzlerin: Merkelismus, das ist auch die Epoche des Aufstiegs des deutschen Imperialismus, zementiert durch die endgültige Führungsrolle innerhalb der EU durch permanente und übertriebene Exportüberschüsse, die quasi zur Religion dieser Wirtschaft geworden sind.
Der Aufstieg fällt mitten in eine Phase hinein, wo a) besonders die südeuropäischen Länder eine in ihrer Länge nie dagewesene wirtschaftliche Krise durchmachen und dem deutschen Kapital daher perfekte Bedingungen zur „Investition“ liefern, und b) einer Phase des schleichenden Niedergangs des französischen Imperialismus innerhalb der EU, der nicht nur mit der Zerschmetterung des Zwei-Parteien-Systems endete, sondern auch in dem Geständnis, nur noch Juniorpartner Deutschlands zu sein. Nicht mehr vom „deutsch-französischen Wachstumsmotor” ist die Rede, sondern von der Nachäffung des „deutschen Modells” unter Emmanuel Macron.
Doch was ist dieses Modell, das die Bedingungen für den Aufstieg schuf? Es ist leicht, die Hartz-Reformen unter dem ehemaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) anzuführen, die 2005 ihren Abschluss fanden. Doch es ist schwieriger, sich die Dimensionen dieser beispiellosen Verschärfung der Ausbeutung der deutschen Arbeiter*innenklasse konkret zu vergegenwärtigen. Nicht nur, dass die deutsche Wirtschaft ein Heer von Leiharbeiter*innen beschäftigt (über 1 Million); sondern das Modell der Teilzeitarbeit explodierte seit 1991 um 150 Prozent und ist mittlerweile zur „Normalität” geworden. Mehr Teilzeitbeschäftigung bedeutet aber auch geringere Löhne, weswegen zwar die Gewinne deutscher Unternehmen weiter und weiter stiegen, die Löhne jedoch stets dahinter blieben.
Eine Stagnation der Lohnentwicklung hat aber vor allem zwei Dinge zur Folge: erstens, dass die Armut trotz Arbeit zu einem grassierenden Phänomen wird, und zweitens, dass die Altersarmut infolge einer niedrigeren Rente immer wahrscheinlicher wird. Dabei liegt schon jetzt das Rentenniveau bei nur 48 Prozent des Durchschnittslohns — ein Wert, der sogar weiter nach unten sinken wird, wenn er nicht mitsamt der Löhne angehoben wird.
Das erste Phänomen wiederum bringt es mit sich, dass immer mehr Menschen noch nebenbei einen Minijob annehmen müssen, schon heute sind es knapp 2,6 Millionen Menschen, mehr als doppelt so viele wie vor den Hartz-Reformen. Jene Reformen brachten also keineswegs das „Jobwunder” mit sich, wie es manchmal schamlos in den bürgerlichen Medien heißt, sondern bewirkten vor allem, dass bestehende Arbeit aufgeteilt und unsicherer gemacht wurde. Ganz abgesehen davon, dass sie das Problem der Arbeitslosigkeit gar nicht in den Griff bekamen, was eine offizielle Arbeitslosigkeit von 2,61 Millionen Menschen beweist. Es gibt wenige eindrückliche Beispiele wie dieses, die zeigen, wie sehr der Kapitalismus zum Scheitern verurteilt ist und selbst in den modernsten kapitalistischen Gesellschaften das Problem der Arbeitslosigkeit schlichtweg nicht lösen kann.
Die Entwicklung der Teilzeitarbeit auf ein Level mit knapp 16 Millionen Beschäftigten ist jedoch nicht zuallererst Gerhard Schröder zuzuschreiben (mit seinen Reformen dynamisierte er sie und legte aufgrund seiner sozialdemokratischen Führung die Gewerkschaften auf Eis), sondern Merkels „Ziehvater” Helmut Kohl, dem Architekten der bürgerlichen Restauration in Deutschland. Schröder war jedoch auf einem anderen Gebiet ein Pionier …
… und nach außen
Der erste deutsche Angriffskrieg seit Hitler bedurfte 1999 einer besonderen, d.h. besonders zynischen Begründung. Mit dem Rückgriff des damaligen Außenministers Joschka Fischer (Grüne) auf das Credo „Nie wieder Auschwitz! Nie wieder Krieg” lancierte die damals junge rot-grüne Regierung die deutsche Beteiligung in einen imperialistischen Krieg. Doch heutzutage sind auch diese militärischen Beteiligungen an Auslandseinsätzen zur Normalität geworden; Schröder ebnete den Weg, den Angela Merkel bis heute fortsetzt und gleichzeitig so viele und so große imperialistische Auslandseinsätze vollzieht wie noch nie in der Geschichte der BRD. Nicht, dass es ihr gelungen wäre, eine chauvinistische Kriegsstimmung zu entfachen, vielmehr sorgte sie fast schon auch mit ihrer Wahlstrategie der „asymmetrischen Demobilisierung” für eine Gleichgültigkeit innerhalb der deutschen Bevölkerung.
Nun, es mag vielleicht für die deutsche Bevölkerung sprechen, dass es diese Kriegsstimmung (noch?) nicht gibt, aber dank der Gleichgültigkeit werden eben auch große Einsätze wie mit 1200 Soldat*innen ab Ende 2015 nicht verhindert. Wie sagte es Lenin doch schon? „Gleichgültigkeit: Stille Unterstützung einer Person, die Macht hat.”
Tiefe Wurzeln
Es ist diese stille Unterstützung, die Merkel auszeichnet, denn ihre Wahlkämpfe und politischen Wendungen zielen auf die Demobilisierung ihrer Gegner*innen ab. So war es bei der Energiewende im Rahmen der Katastrophe um Fukushima (im Zuge derer ein Grüner wie Winfried Kretschmann eine CDU-Hochburg erobern konnte), als sie die Grünen ausbremste, und so ist es heutzutage auch mit der AfD, deren rassistische Programm sie heute umsetzt. Die zahlreichen Asylrechtsverschärfungen senden folgende klare Botschaft an das Klientel der Rechtspopulist*innen: Wozu die AfD wählen, wenn doch die CDU ihr Programm in die Tat umsetzen kann?
Pragmatismus? Auch, aber die Person Merkel vermochte schon seit jeher, erst einen Essay namens „Was ist sozialistische Lebensweise?“ zu schreiben und nur ein paar Jahre später in die CDU einzutreten. Natürlich nicht ungewöhnlich für viele Machthaber*innen aus dem ehemaligen Ostblock, die erst in den stalinistischen Zirkeln von Partei und Staat unterwegs waren, bevor sie zu den Ausführer*innen einer neoliberalen Agenda wurden. Aber eben nicht jede*r Funktionär*in aus diesen Bereichen konnten den Aufstieg in die Elite des bürgerlichen Regimes schaffen.
Der Merkelismus ist das beste Kind der bürgerlichen Restauration. Er wird solange nicht verschwinden, bis die Grundlagen der kapitalistischen Wiedervereinigung zerstört worden sind. Es ist eine Frage für die Zukunft, ob mit einem Verschwinden der Person Angela Merkels in zwei, vier oder wievielen Jahren auch immer auch das merkelistische System verschwindet — fest steht, dass ihre Zusätze solange fortbestehen werden bis die Macht der Kapitalist*innen gebrochen werden wird.
Fürwahr, nicht nur die letzten zwölf Monate, sondern auch die letzten Jahre waren „eine gute Zeit für die wohlhabenden Familien in Europas größter Volkswirtschaft”, wie das „Wirtschaftsmagazin” BILANZ (in Wahrheit ist es ein Boulevardblatt für Bonzen) formulierte. Der Merkelismus als Ideologie des deutschen Patronats im 21. Jahrhunderts, denn ihre Politik ist es, die das Geld nur so in die Kassen der Reichen spülen lässt.
Ein Hauch von einem Ausblick
Everything looked so quiet and safe. Even the victims seemed to consent. They could grumble. They never dared to question the complicated rules and regulations. Although the taking may vary from year to year, the profitable game was destined to last for ever. It’s organizers were entitled to believe that they had found the magic formula to fool most of the people all of the time. But suddenly the intruders barged in, threatening to upset the painfully constructed system.
— Daniel Singer
Nichts wäre dümmer als anzunehmen, dass bei einem System, das auf Ausbeutung und Unterdrückung fußt, alles immer beim alten bleiben wird. Philisterhaft anzunehmen, dass sich die ausgebeuteten und unterdrückten Sektoren in Deutschland, die Geflüchteten, die Arbeiter*innen der Deutschen Bahn, der Post, bei Amazon, in der Metallindustrie etc. gemeinsam mit der ultraprekären Jugend niemals auflehnen werden. Schon die Erfahrungen der letzten Jahre haben das Gegenteil bewiesen und einen Geschmack darauf gegeben, welches Potenzial vorhanden ist.
Schon heute sehen wir, wie die prekärsten Sektoren der Arbeiter*innenklasse in Streiks treten, weil ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen unerträglich sind. In den letzten zwei Jahren gab es Streiks bei der Bahn, den Lehrer*innen und Erzieher*innen, bei Amazon, bei der Charité und der CFM, der Post und vielen mehr. Hinzu kamen wiederholte Mobilisierungen der Jugend gegen Rassismus in Form von Schulstreiks. Allein, diese Kämpfe wurden niemals zusammengeführt. Sie blieben voneinander isoliert, obwohl seitens der Arbeiter*innen durchaus der Wille zur Vereinigung der Kämpfe vorherrschte und obwohl sie teilweise von der gleichen Gewerkschaft organisiert wurden. Beispielsweise bei der Post und bei Amazon, wo es sich perfekt angeboten hätte, dass sie zusammen streiken. Es war die träge Gewerkschaftsbürokratie, die das in diesem und anderen Fällen nicht zuließ und auch bei anderen Kämpfen eine Mitschuld an den ungenügenden Tarifabschlüssen trägt.
Es sind diese Ansätze zur Vereinigung der Kämpfe, die weiter verfolgt werden müssen. Dem Land geht es nicht „so gut wie noch nie”, vielmehr können immer mehr Menschen nicht mehr würdevoll von ihrer Arbeit leben und ernten zum Dank ihrer Schufterei die Altersarmut. Es ist längst an der Zeit, den Verschlechterungen der Arbeits- und Lebensbedingungen entgegenzuwirken.
Die reaktionäre Periode des Vormärz endete bekanntlich mit dem europäischen Völkerfrühling; einer internationalen revolutionären Bewegung. Der Merkelismus hat seine Spuren auch in Europa hinterlassen und ihm wird über kurz oder lang das gleiche Schicksal ergehen — es mag den Herrscher*innen dabei noch so ruhig und sicher vorkommen …
https://www.klassegegenklasse.org/in-der-dunkelheit-des-merkelismus/
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen