19.
Februar 2016 um 8:58 Uhr
Entnommen:
http://www.nachdenkseiten.de/?p=31407#more-31407
Aufruf zur Verantwortung
Verantwortlich: Jens Berger
Aufruf zur Verantwortung
Verantwortlich: Jens Berger
In
ihrem jüngst erschienen Buch plädiert LINKE-Politikerin Katja
Kipping für eine offenere Gesellschaft, die vor allem in Zeiten wie
diesen, sprich, Zeiten, in denen Hunderttausende von Menschen im
Nahen Osten vor Krieg und Zerstörung fliehen, zusammenhalten muss.
Dabei zeigt sie nicht nur Alternativen zum gegenwärtigen Status Quo
auf, sondern erinnert auch an Fluchtursachen, die so manch ein
Regierender schon längst verdrängt hat.
Von
Emran Feroz [*]
„Wer flüchtet schon freiwillig?“, lautet der simple Titel von Kippings Buch, welches vor Kurzem erschienen ist. Es ist diese Frage, die nicht nur kurz und prägnant, sondern auch berechtigt ist – und die in diesen Tagen zu selten gestellt wird. Dabei trifft sie den Kern der gegenwärtigen Diskussion, ja der sogenannten „Flüchtlingskrise“, wie das Szenario von hiesigen Medien und Politikern genannt wird. Denn egal aus welchem Erdteil ein Mensch kommt, irgendwo liegt seine Heimat. Und diese verlässt nun mal niemand freiwillig, es sei denn man wird von den jeweiligen Umständen gezwungen.
Genau diese Umstände sind gegenwärtig in vielen Ländern der Welt der Fall. Sei es in Syrien, wo sich mittlerweile – salopp ausgedrückt – die halbe Welt auf Kosten der Syrer bekriegt und tagtäglich nicht davor zurückschreckt, Zivilisten, Krankenhäuser und Schulen zu bombardieren oder in Afghanistan, wo nicht nur seit 2001 Krieg herrscht, sondern schon in den zwei Jahrzehnten zuvor. Laut dem jüngsten Bericht der Vereinten Nationen wurden allein im Jahr 2015 mindestens 11.000 Zivilisten am Hindukusch getötet oder verletzt.
Ähnlich Zustände sind auch im Jemen anzutreffen, wo nun seit fast einem Jahr ein weiterer Krieg herrscht, der vor allem seitens Saudi-Arabiens angezettelt wurde und mittlerweile Tausenden von Menschen das Leben gekostet hat. Dass die Saudis dort unter anderem auch mit deutschen Waffen morden und somit neue Fluchtwellen produzieren, ist bekannt. Nur gesprochen wird darüber nicht. Katja Kipping tut es, indem sie auf diese imperiale und militaristische Außenpolitik, die zum Dauerzustand geworden ist, aufmerksam macht. Wer Waffen sät, erntet Flüchtlinge, heißt es immer wieder. Er könnte bei der Bundesrepublik, einem der größten Waffenexporteuren der Welt, gar nicht treffender sein.
Konstrukt des Wirtschaftsflüchtlings
Ein weiterer Punkt, der von der Autorin ausführlich beleuchtet wird, ist jener des sogenannten Wirtschaftsflüchtlings. Obwohl der Begriff mittlerweile nicht nur zum Stammjargon rechtskonservativer Politiker gehört, scheint nie klar zu sein, was ein Wirtschaftsflüchtling ist – und inwiefern er anderen Geflüchteten nachsteht. Oft wird nämlich der Eindruck erweckt, dass Menschen, die aufgrund finanzieller Probleme ihre Heimat verlassen haben, gar keine richtigen Flüchtlinge sind. Sie kommen nur, so scheint es, um von den sozialen Systemen westlicher Staaten zu profitieren – und gehören deshalb nicht hierher. Es ist zur Praxis geworden, zwischen „guten“ und „falschen“ Flüchtlingen zu unterscheiden, wie Kipping erläutert.
Einerseits muss klargestellt werden, dass wirtschaftspolitische Entscheidungen ein bedeutender Teil des gesamten politischen Systems eines Staates sind. Wenn eine Regierung in dieser Hinsicht versagt – aus was für Gründen auch immer – und Bürger sich gezwungen sehen aufgrund ihrer finanziellen Not das Land zu verlassen, dann haben die Gründe einen politische Ursprung. Auch Wirtschaftsflüchtlinge sind politische Flüchtlinge. Andererseits sind für die wirtschaftliche Lage ebenjener Länder, zum Beispiel vieler afrikanischer Staaten, in erster Linie die reichen, westlichen Industrienationen, die in ihrem Ausbeutungswahn seit Jahrzehnten vor nichts und niemandem halt machen, verantwortlich. Das beste Beispiel hierfür ist die tägliche Überfischung vor den Küsten Afrikas, die seitens der EU nicht nur geduldet, sondern auch gefördert wird. Dass durch eine solche Politik einem somalischen Fischer jegliche Lebensgrundlagen genommen werden, gerät in den Hintergrund. Doch wehe, er schafft es auf irgendeine Art und Weise nach Europa und will sich hier ein neues Leben aufbauen.
In diesem Kontext sollten auch Klimaflüchtlinge, die im gegenwärtigen Diskurs kaum beachtet werden, erwähnt werden. Dass es diese gibt, steht zum gegenwärtigen Zeitpunkt, sprich, in Zeiten von CO²-Emissionen und Erderwärmung, außer Frage. Einen klaren rechtlichen Status genießen sie allerdings bis heute nicht. Auch in diesem Punkt stehen die westlichen Industrienationen in der Verantwortung. Denn sie sind es, die rund um den Globus, ganz im Interesse der neoliberalen Doktrin, eine katastrophale Umwelt kreieren, die letztendlich nicht mehr bewohnbar sein wird – und weitere Migrationswellen erzeugen wird, die heute schon teils im Gang sind. Interessanterweise hebt Kipping hervor, dass die Folgen des Klimawandels in naher Zukunft auch die Menschen in den Industrienationen massiv betreffen und zu ungewohnten Fluchtbewegungen führen könnten, etwa wenn die Europäer plötzlich vor den Toren Afrikas stehen, wie es in einigen apokalyptischen Hollywood-Katastrophen-Filmen der Fall ist.
Die Gesellschaft muss sich neu erfinden
Obwohl Kipping in einigen Punkte tiefer hätte gehen können – etwa inwiefern der radikale Fanatismus in Nahost sowie der Rechtsextremismus in Europa voneinander abhängig sind oder warum der Terror in Frankreich vor allem ein hausgemachtes Problem ist – ist ihr Grundgedanke, ja ihre Botschaft eindeutig und richtig. Der Westen, Europa, unsere Gesellschaft muss sich neu erfinden. Gegenwärtig wird dies deutlicher denn jemals zuvor.
Obwohl die Idee des Nationalstaates veraltet und überholt zu sein scheint, erlebt sie heute einen neuen Aufschwung. Dieser wird vor allem von kulturkämpferischen Abendlandsverteidigern und rechten Demagogen und Hasspredigern geleitet, die sich der Sorgen und Unwissenheit vieler Bürger bewusst sind und diese skrupellos für ihre menschenfeindlichen Zwecke missbrauchen.
Doch dazu kam es nicht von heute auf morgen. Viele Dinge, die zur Zeit in Europa passieren, sind lediglich Symptome. Symptome, eines kranken Systems, welches es von Grund auf zu hinterfragen gilt. Die neoliberale Doktrin hat den Menschen entmenschlicht. Sie hat ihn zu etwas gemacht, das es nur zu berechnen gilt. Aus diesem Grund herrschen in diesen Tagen vor allem Zahlen. Wie viel kosten uns die Flüchtlinge? Wie viel werden sie uns kosten? Inwiefern wird von ihnen profitiert oder auch nicht?
An die menschliche Bereicherung an sich wird dabei kaum gedacht. Dabei ist Migration etwas Menschliches. Es gibt sie seit Menschengedenken. Und da es vor allem Sicherheit und Ordnung ist, wonach der Mensch trachtet, ist sie genauso nachvollziehbar und menschlich wie Flucht. Doch um diesen Umstand klarzumachen, um sich dieser Verantwortung, zu der Katja Kipping aufruft, bewusst zu werden, bedarf es Mut. Mut, der dazu führt, das bestehende System zu zerschlagen, um es von Grund auf neu aufzubauen.
Womöglich bewegen wir uns schon in diese Richtung. Kippings ausführliche Eindrücke von engagierten Flüchtlingshelfern, einer auflebenden Zivilgesellschaft und vielen, vielen Menschen, die eben nicht PEGIDA sind, lassen einen optimistischen Blick in die Zukunft wagen.
[«*] Emran Feroz ist freier Journalist mit österreichisch-afghanischem Migrationshintergrund. Seine Themengebiete sind Naher & Mittlerer Osten, Migration und Europa und die islamische Welt.
„Wer flüchtet schon freiwillig?“, lautet der simple Titel von Kippings Buch, welches vor Kurzem erschienen ist. Es ist diese Frage, die nicht nur kurz und prägnant, sondern auch berechtigt ist – und die in diesen Tagen zu selten gestellt wird. Dabei trifft sie den Kern der gegenwärtigen Diskussion, ja der sogenannten „Flüchtlingskrise“, wie das Szenario von hiesigen Medien und Politikern genannt wird. Denn egal aus welchem Erdteil ein Mensch kommt, irgendwo liegt seine Heimat. Und diese verlässt nun mal niemand freiwillig, es sei denn man wird von den jeweiligen Umständen gezwungen.
Genau diese Umstände sind gegenwärtig in vielen Ländern der Welt der Fall. Sei es in Syrien, wo sich mittlerweile – salopp ausgedrückt – die halbe Welt auf Kosten der Syrer bekriegt und tagtäglich nicht davor zurückschreckt, Zivilisten, Krankenhäuser und Schulen zu bombardieren oder in Afghanistan, wo nicht nur seit 2001 Krieg herrscht, sondern schon in den zwei Jahrzehnten zuvor. Laut dem jüngsten Bericht der Vereinten Nationen wurden allein im Jahr 2015 mindestens 11.000 Zivilisten am Hindukusch getötet oder verletzt.
Ähnlich Zustände sind auch im Jemen anzutreffen, wo nun seit fast einem Jahr ein weiterer Krieg herrscht, der vor allem seitens Saudi-Arabiens angezettelt wurde und mittlerweile Tausenden von Menschen das Leben gekostet hat. Dass die Saudis dort unter anderem auch mit deutschen Waffen morden und somit neue Fluchtwellen produzieren, ist bekannt. Nur gesprochen wird darüber nicht. Katja Kipping tut es, indem sie auf diese imperiale und militaristische Außenpolitik, die zum Dauerzustand geworden ist, aufmerksam macht. Wer Waffen sät, erntet Flüchtlinge, heißt es immer wieder. Er könnte bei der Bundesrepublik, einem der größten Waffenexporteuren der Welt, gar nicht treffender sein.
Konstrukt des Wirtschaftsflüchtlings
Ein weiterer Punkt, der von der Autorin ausführlich beleuchtet wird, ist jener des sogenannten Wirtschaftsflüchtlings. Obwohl der Begriff mittlerweile nicht nur zum Stammjargon rechtskonservativer Politiker gehört, scheint nie klar zu sein, was ein Wirtschaftsflüchtling ist – und inwiefern er anderen Geflüchteten nachsteht. Oft wird nämlich der Eindruck erweckt, dass Menschen, die aufgrund finanzieller Probleme ihre Heimat verlassen haben, gar keine richtigen Flüchtlinge sind. Sie kommen nur, so scheint es, um von den sozialen Systemen westlicher Staaten zu profitieren – und gehören deshalb nicht hierher. Es ist zur Praxis geworden, zwischen „guten“ und „falschen“ Flüchtlingen zu unterscheiden, wie Kipping erläutert.
Einerseits muss klargestellt werden, dass wirtschaftspolitische Entscheidungen ein bedeutender Teil des gesamten politischen Systems eines Staates sind. Wenn eine Regierung in dieser Hinsicht versagt – aus was für Gründen auch immer – und Bürger sich gezwungen sehen aufgrund ihrer finanziellen Not das Land zu verlassen, dann haben die Gründe einen politische Ursprung. Auch Wirtschaftsflüchtlinge sind politische Flüchtlinge. Andererseits sind für die wirtschaftliche Lage ebenjener Länder, zum Beispiel vieler afrikanischer Staaten, in erster Linie die reichen, westlichen Industrienationen, die in ihrem Ausbeutungswahn seit Jahrzehnten vor nichts und niemandem halt machen, verantwortlich. Das beste Beispiel hierfür ist die tägliche Überfischung vor den Küsten Afrikas, die seitens der EU nicht nur geduldet, sondern auch gefördert wird. Dass durch eine solche Politik einem somalischen Fischer jegliche Lebensgrundlagen genommen werden, gerät in den Hintergrund. Doch wehe, er schafft es auf irgendeine Art und Weise nach Europa und will sich hier ein neues Leben aufbauen.
In diesem Kontext sollten auch Klimaflüchtlinge, die im gegenwärtigen Diskurs kaum beachtet werden, erwähnt werden. Dass es diese gibt, steht zum gegenwärtigen Zeitpunkt, sprich, in Zeiten von CO²-Emissionen und Erderwärmung, außer Frage. Einen klaren rechtlichen Status genießen sie allerdings bis heute nicht. Auch in diesem Punkt stehen die westlichen Industrienationen in der Verantwortung. Denn sie sind es, die rund um den Globus, ganz im Interesse der neoliberalen Doktrin, eine katastrophale Umwelt kreieren, die letztendlich nicht mehr bewohnbar sein wird – und weitere Migrationswellen erzeugen wird, die heute schon teils im Gang sind. Interessanterweise hebt Kipping hervor, dass die Folgen des Klimawandels in naher Zukunft auch die Menschen in den Industrienationen massiv betreffen und zu ungewohnten Fluchtbewegungen führen könnten, etwa wenn die Europäer plötzlich vor den Toren Afrikas stehen, wie es in einigen apokalyptischen Hollywood-Katastrophen-Filmen der Fall ist.
Die Gesellschaft muss sich neu erfinden
Obwohl Kipping in einigen Punkte tiefer hätte gehen können – etwa inwiefern der radikale Fanatismus in Nahost sowie der Rechtsextremismus in Europa voneinander abhängig sind oder warum der Terror in Frankreich vor allem ein hausgemachtes Problem ist – ist ihr Grundgedanke, ja ihre Botschaft eindeutig und richtig. Der Westen, Europa, unsere Gesellschaft muss sich neu erfinden. Gegenwärtig wird dies deutlicher denn jemals zuvor.
Obwohl die Idee des Nationalstaates veraltet und überholt zu sein scheint, erlebt sie heute einen neuen Aufschwung. Dieser wird vor allem von kulturkämpferischen Abendlandsverteidigern und rechten Demagogen und Hasspredigern geleitet, die sich der Sorgen und Unwissenheit vieler Bürger bewusst sind und diese skrupellos für ihre menschenfeindlichen Zwecke missbrauchen.
Doch dazu kam es nicht von heute auf morgen. Viele Dinge, die zur Zeit in Europa passieren, sind lediglich Symptome. Symptome, eines kranken Systems, welches es von Grund auf zu hinterfragen gilt. Die neoliberale Doktrin hat den Menschen entmenschlicht. Sie hat ihn zu etwas gemacht, das es nur zu berechnen gilt. Aus diesem Grund herrschen in diesen Tagen vor allem Zahlen. Wie viel kosten uns die Flüchtlinge? Wie viel werden sie uns kosten? Inwiefern wird von ihnen profitiert oder auch nicht?
An die menschliche Bereicherung an sich wird dabei kaum gedacht. Dabei ist Migration etwas Menschliches. Es gibt sie seit Menschengedenken. Und da es vor allem Sicherheit und Ordnung ist, wonach der Mensch trachtet, ist sie genauso nachvollziehbar und menschlich wie Flucht. Doch um diesen Umstand klarzumachen, um sich dieser Verantwortung, zu der Katja Kipping aufruft, bewusst zu werden, bedarf es Mut. Mut, der dazu führt, das bestehende System zu zerschlagen, um es von Grund auf neu aufzubauen.
Womöglich bewegen wir uns schon in diese Richtung. Kippings ausführliche Eindrücke von engagierten Flüchtlingshelfern, einer auflebenden Zivilgesellschaft und vielen, vielen Menschen, die eben nicht PEGIDA sind, lassen einen optimistischen Blick in die Zukunft wagen.
[«*] Emran Feroz ist freier Journalist mit österreichisch-afghanischem Migrationshintergrund. Seine Themengebiete sind Naher & Mittlerer Osten, Migration und Europa und die islamische Welt.
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