Donnerstag, 15. Oktober 2015

Mit strategischer Bedeutung...

Neueste Waffen


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Den Geg­ner KALIB­Ri­eren: strate­gis­che Fol­gen des rus­sis­chen Marschflugkörper-​Abschusses

Geschrieben von Wladimir Kosin — http://​vine​yard​saker​.de Haup­tkat­e­gorie: Aus­land    Kat­e­gorie: Naher Osten     Veröf­fentlicht: 15. Okto­ber 2015  Zugriffe: 71

Das größte Ereig­nis der let­zten Woche in Syrien war der Ein­satz von 26 seegestützten Lan­dan­griff­s­marschflugkör­pern (land-​attack cruise mis­siles, LACMs) durch die kaspis­che Flotte der rus­sis­chen Marine im Rah­men der Oper­a­tion Hmeymim, die elf mil­itärische Ziele von Daesh und Jab­hat al-​Nusra in Syrien trafen, die etwa 1500 km vom Star­tort der Raketen ent­fernt lagen:

Aus dem süd­west­lichen kaspis­chen Meer wurde ein mas­siver Schlag mit Kalibr-​NK LACMs geführt. Die Ziele des Angriffs waren Fab­riken, die Granaten und Sprengstoffe pro­duzierten, Kom­man­dostel­lun­gen, Munitions-​, Waf­fen– und Treib­stof­flager und Aus­bil­dungslager der Ter­ror­is­ten in den syrischen Prov­inzen Rakka, Aleppo und Idlib. Die Marschflugkör­per haben, mit einer Fehler­a­b­we­ichung von etwa drei Metern, jedes der Ziele getrof­fen, die zwei Tage zuvor fest­gelegt wurden. (...)

(…)
Dieser erste Ein­satz weitre­ichen­der LACMs in der wirk­lichen Welt durch Rus­s­land hat eine entschei­dende strate­gis­che Bedeu­tung, denn die Träger solcher Sys­teme (Schiffe und U-​Boote), die ander­norts auf dem Ozean sta­tion­iert sind, kön­nen die mögliche Ver­wen­dung nuk­learer Waf­fen und offen­siver Anti­raketen­sys­teme durch solche Staaten min­imieren, die die rus­sis­che Föder­a­tion für ihren „größten möglichen Feind“, einen „Agres­sorstaat“ und einen „annek­tieren­den Staat“ hal­ten. Diese hochwirk­samen Waf­fen­sys­teme kön­nten für einen präven­tiven wie für einen Vergel­tungss­chlag mit nicht­nuk­learen Gefecht­sköpfen genutzt werden.

Das kaspis­che Bin­nen­meer erlangt eben­falls strate­gis­che Bedeu­tung für Rus­s­land, da Rus­s­land von dort mit Nutzung der LACMs chirur­gis­che Schläge im gesamten Nahen Osten ver­set­zen kann, ohne Gegen­maß­nah­men der Seestre­itkräfte der NATO zu riskieren.

Nun, da die rus­sis­chen Stre­itkräfte solche Hoch­präzi­sion­swaf­fen der Öffentlichkeit vorgestellt haben, kann das Pen­ta­gon aufhören, sein Geld bei dem Ver­such zu ver­schleud­ern, seine mil­itärischen Möglichkeiten aufzubauen, die direkt gegen Rus­s­land gerichtet sind. Anders gesagt,
es gibt keine Notwendigkeit, bedeu­tende Beträge auszugeben, um amerikanis­che tak­tis­che Nuk­lear­waf­fen in Europa zu sta­tion­ieren oder land– und seegestützte Anti­raketenein­rich­tun­gen nach Rumänien und Polen zu ver­lagern – oder in die asiatisch-​pazifische Region – da es von jetzt an völ­lig klar ist, dass sie im Fadenkreuz nicht nur rus­sis­cher LACMs bleiben wer­den, son­dern schon bald in dem noch effek­tiverer weitre­ichen­der hoch­präziser Über­schall­waf­fen, die mit nicht-​nuklearen Gefecht­sköpfen aus­ges­tat­tet sind.

(…)



Dienstag, 13. Oktober 2015

TTIP-Gegner unter den Teppich gekehrt

Zitate_TTIP-Gegner

TTIP-Ja-Sager lügen wie gedruckt


 ...Die Vorbehalte der Teilnehmer hält die Regierung aber für unbegründet – und will als Konsequenz aus der Demo noch mehr für das Abkommen werben.

...Die Bundesregierung will nicht über die Risiken von TTIP informieren, weil man einfach keine Risiken sieht, sondern nur Chancen. Darum informiert man die deutsche Bevölkerung auch ständig nur über die Vorteile des Abkommens. stelle ich fest, dass diese politische Demonstration nach kurzem Aufflammen sogleich 1. diffamiert und 2. inzwischen komplett unter dem Teppich gekehrt wird. Weiterhin finde ich es sehr Interessant in welcher Rubrik der meisten Medien-Sites diese „Nachrichten“ versteckt werden. Ich würde bei einer Demonstration ja davon ausgehen, dass dies ein politisches Thema ist, es wird bei fast allen im Bereich Wirtschaft abgelegt und zwar ganz unten auf der Site. Also auf dem ersten Blick nicht auffindbar.

...Ein Thema totschweigen oder zur Randnotiz machen, auch das ist Meinungsmache.

1. Das Engagement der Demonstranten wird inhaltlich belächelt, die Themen relativiert und auch gar nicht eingegangen – die Brücke zu PEGIDA erneut geschlagen. Hier nur ein Beispiel, da man eigentlich den gesamten Artikel zitieren müsste:

2. „Die Demo ist eine Loveparade der Wutbürgerchen.  beiläufig das Wort“Empörungsindustrie“ eingestreut und schon sind alle Demonstranten nur noch Leute die sich nicht genug informierten.

3. Eine weitere Variante der diffamierenden Hetze gegen den Bürgerwillen. Diesmal wird nicht unterstellt bei TTIP-Kritikern handle es sich um Rechtsradikale, sondern der Autor Matthias Finger suggeriert, das Gros der Demonstranten sei gekauft worden und wüssten gar nicht gegen was sie demonstrierten. Schon die Semantik der Einleitung ist infam: „Herangekarrte Massen aus ganz Deutschland …..“



14.10.2015: Mail vom Campact-Vorstand 

Lieber Harry Popow,
gestern haben wir gemeinsam Geschichte geschrieben: 250.000 Menschen strömten in das Berliner Regierungsviertel – eine der größten Demonstrationen, die dieses Land je gesehen hat. Es war unglaublich: überall Fahnen und Transparente gegen TTIP und CETA, Entschlossenheit in den Gesichtern, kraftvolle Sprechchöre. Die Botschaft des Tages in allen Abendnachrichten: Diese Bürgerbewegung ist bereit, noch lange zu kämpfen. Sie ist gigantisch im Netz – und auch auf der Straße.

Ganz klar: Die TTIP-Befürworter sind nervös. Kurz vor der Demo schmähten sie die Aktiven des breiten Bündnisses als Opfer einer „Empörungsindustrie“ – und stempelten sie sogar als „einfach strukturiert“ ab. Den Monsantos, Bayers und Googles dieser Welt scheint längst jedes Mittel recht – und sie geben noch lange nicht auf. Denn es geht um viel Geld, Einfluss und Macht.

Die „einfach strukturierten“ Bürger jedoch haben das durchschaut. Vergangenen Dienstag lief die selbstorganisierte Europäische Bürgerinitiative gegen TTIP und CETA mit 3.263.922 Unterschriften ins Ziel ein. Die größte, die es bisher gab! Und dann gestern die 250.000 Menschen auf den Straßen Berlins: Was für ein Ereignis, was für ein Signal!

Doch um TTIP und CETA wirklich zu Fall zu bringen, werden wir viel Ausdauer brauchen. Wir müssen nicht nur dranbleiben, sondern weiter kräftig zupacken. Als nächstes beim SPD-Parteitag in Berlin im Dezember, wenn um die Abkommen gerungen wird. Und dann bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Berlin, wo sich entscheidet, ob es im Bundesrat eine Mehrheit gegen TTIP und CETA gibt.















Samstag, 10. Oktober 2015

"Probe-Aufstand"

Impression vom „Probe-Aufstand“
Unvergesslicher 10. Oktober 2015: Stoppt TTIP, TTIP ohne uns, bremst die Macht der Konzerne. Flaggen, Fahnen, Spruchbänder, Trommelwirbel, Trompeten, Transparente – ein farbenfrohes Bild, ein großes Gedränge bereits am Berliner Hauptbahnhof. Lachende Gesichter, Einmütigkeit bei Menschen allen Alters, Familien mit Kindern. Vor uns ein junges Ehepaar. Sie führt einen etwa fünfjährigen Jungen an der Hand. Er schräg hinter ihr. Auf dem Arm ein Kleinkind. Sie dreht sich immerfort nach ihrem Mann um, ein unsagbar liebes Lächeln im Gesicht. Sie strahlt ihn an. Eine stille und wunderschöne Szene. Ruhige Gewissheit in schrillender Umgebung. Im Interesse des Lebens, nur darum geht es. Welch ein Bild...

Fröhlichkeit gegen dumpfes Gebaren der USA, das Freihandelsabkommen durchsetzen zu wollen. Ein endlos scheinender Demonstrationszug bewegt sich vom Bahnhof durch die Innenstadt in Richtung Siegessäule. Langsam, ganz langsam geht es vorwärts. Laute Musik, wieder Trommeln. Eine tolle Stimmung wie schon lange nicht mehr.
Meine Gedanken schweifen zurück. 11. Oktober 1949: Mit Fackeln, mit Trommeln und Trompeten – die Gründung der Republik wird gefeiert. Auf dem Marx-Engels-Platz. Großes Hoffen, große Erwartungen an ein humanistisches Deutschland. Dann der sich anbahnende Abbruch großen Bemühens – der 4. November 1989. Meine Frau und ich wieder dabei, auf dem Alex. Für eine bessere Politik der DDR. Gute Worte am Rednerpult. Alles ohne Gewalt. Doch die Kapitalkeule zerschlägt jegliche Bürgerinitiativen für eine andere und bessere DDR. Jahrzehnte später, in den Jahren nach 2013 bis 2015: Demos gegen Fluglärm in Friedrichshagen. Wieder sind wir dabei. Und heute bei dieser größten Demo seit Jahren in Berlin. Die Macher sprechen von 250.000 Teilnehmern, die Polizei nur von 150.000. Ganz Doofe beschränken sich auf nur 100.000 Teilnehmern.
Ein Aufruf, ein Nein, ein Wille einer Masse von Bürgern, die mit über 600 Bussen und mit Sonderzügen aus allen Teilen Deutschlands angereist kamen. Die im Neoliberalismus zu Einzelkämpfern abgestempelten und unter der Flagge der Vielfalt zu allen Meinungen zugelassen Bürgern finden hier und heute zu einem großartigen WIR zusammen. Man fühlt sich mitgerissen, in eins mit der Einsicht: Wir lassen uns vom US-Kapital im Bündnis mit dem in der BRD nicht in die Suppe spucken. Aber was tun, wenn die Obrigkeit sich nicht zuckt? Auf einem Schild lese ich: Aufstand. Das wärs, denke ich. Wem sollte da der Schreck in die Glieder fahren? Am anderen Ufer der Spree sehen die friedlich demonstrierenden Volksmassen das Regierungsviertel. Nach nicht bestätigten Augenzeugenberichten baut man dort bereits eine Mauer um den Sitz der Regierung und des Parlaments. Man tüftelt darüber, wie man sich ein neues Volk wählen könne...

Achtung: In Stellung gebracht wurden indessen rings um das Regierungsviertel – und nicht nur dort -  die berüchtigten vom Kapital ausgehaltenen Medienkanonen mit den hochbezahlten Flachzangen, den Medienkanonieren. Einer von ihnen ist Alexander Neubacher. Er reitet wie Münchhausen im SPIEGELONLINE vom 10.10.2015 u.a. folgende Attacke: „Die dümmsten Parolen auf den Anti-TTIP-Plakaten bedienen dabei genau jene Ressentiments, mit denen in rechten Kreisen schon immer gegen "die Hochfinanz", "die Konzerne" und "das Kapital" gehetzt wurde. Dass bei diesen "Konzernen" in Deutschland einige Millionen Menschen beschäftigt sind, die wiederum ihre Arbeitsplätze zu einem wesentlichen Teil dem Handel mit anderen Ländern verdanken, scheint keine Rolle zu spielen.“


Harry

Mittwoch, 7. Oktober 2015

Krank durch Früherkennung

Zuvor großen Glückwunsch zum 07. Oktober. Ein Glück, dass sie existiert hat. Das wird sich später noch erweisen... Gesundung durch Früherkennung!!


NRhZ_Krank

Krank durch Früherkennung" - von Frank Wittig

Vorsorge auf dem Prüfstand


Buchtipp von Harry Popow


Du fühlst dich gesund, hast aber ein Zipperlein. Gehste zum Arzt oder... Soll ich oder soll ich nicht? Keine Frage, man sollte... Aber was dann, wenn der Arzt – aus persönlicher Verantwortung heraus – Symptome feststellt, die zu einer Vorsorgeuntersuchung Anlass geben. Es geht um einen oder um mehrere Tests, man kann schon sagen Fahndung, auf Grenzwerte, Screening genannt. Soweit so gut. Aber was ist, wenn die vorbeugende medikamentöse Behandlung – mitunter monatelang - gar nichts ans Licht befördert? Eine Früherkennungsmaßnahme ohne Resultat? Eine unnütze Untersuchung? Und wenn du dabei noch krank wirst, durch eine Überdosierung? Dann sitzt der Schock tief. Dann merkst du endlich, dass dein Vertrauen in die Medizin missbraucht wurde. Deine Gesundheit wurde in Krankheit umgewandelt und dabei ist Geld geflossen, viel Geld. Allerdings nicht in deine Taschen.

Wer dabei die Gewinner sind, das erfährst du in dem Buch „Krank durch Früherkennung“ von Frank Wittig. Der Autor opponiert keineswegs gegen die Vorsorge, schon gar nicht gegen das Gesundheitswesen insgesamt. Im Gegenteil, er unterstreicht, wenn sich etwas verändert, wenn dauernde Störungen auftreten, dann sollte man zum Arzt gehen. Eigentlich eine banale Aufmunterung, denn niemand rennt ohne Grund zu seinem Weißkittel. Wovor der Autor allerdings warnt, ist die im deutschen Gesundheits- wesen überstrapazierte Überdiagnostizierung. Man hat etwas festgestellt, „das aber im Leben nicht gefährlich geworden wäre“. (Seite 33)

Dr. Frank Wittig studierte Literaturwissenschaft und Psychologie, arbeitete als Wissenschaftsjournalist und seit 1996 als Redakteur und Autor beim Südwestrundfunk in der Abteilung Wissenschaft mit dem Schwerpunkt Medizin. Auf 214 Seiten lässt der Autor kaum eine Krankheit aus, die für die Bürger von großem Interesse sind. Krebs nimmt dabei einen vorderen Platz ein sowie Cholesterin, Bluthochdruck, Blutzucker, Glaukom oder Thrombose. Alles Bereiche, bei denen jeder Laie sehr zahlreiche Hintergrundinformationen erhält.

Verweisend auf den „Eid des Hippokrates“ nimmt der Autor die aktuellsten und besten Studien zu den jeweiligen Themen – deutsche als auch in den USA getätigte - unter die Lupe. Wenn die Ärzteschaft nicht bereit ist, Früherkennung kritisch zu beleuchten, dann müssen die Patienten es tun. Dazu diene auch dieses Buch. (S. 12) Es gehe schlicht darum, die Chancen und Risiken von Vorsorgemaßnahmen abzuwägen. Um es noch genauer zu sagen: Beim allgemeinen Gesundheitstest, dem Check-up 35, werden kaum Krankheiten diagnostiziert, sondern Grenzwertverletzungen. Etwa mit den Worten: Sie haben zu hohen Blutdruck“. Frank Wittig warnt: Das Risiko, Opfer von unnötiger Medizin zu werden ist sehr viel größer als die Chance, aus der Früherkennung Nutzen zu ziehen. (S. 15) Die reale Gefahr einer ernsten Krankheit liege oft nur „im einstelligen Prozentbereich“. So auch in dem so wichtigen Bereich bei Herz-Kreislauf-Störungen. (S.17) Auf Seite 32 schreibt er von einer erschütternden Tatsache bei Brustkrebs, dass durch das Mamma-Screening „in zehn Jahren pro 2.000 Frauen zehn Frauen unnötig gegen Krebs therapiert wurden: Bestrahlung, Teilresektion oder Amputation, Chemotherapie.“ Von einer sinnlosen Kastrierung von Frauen schreibt er auf Seite 153. So wurde bei 1.292 Frauen „infolge der vaginalen Sonografie“ zumindest ein Eierstock herausoperiert. 212 aber hatten tatsächlich Krebs.

Oder ein Beispiel zum Darmkrebs: „Von 1.000 Studienteilnehmern, die sich der Früherkennung unterzogen, erkrankten sechs Personen am Krebs im unteren Darmabschnitt und eine Person verstarb daran.“ In der Kontrollgruppe ohne Spiegelung erkrankten neun Personen, zwei verstarben. Eine Reduktion von zwei auf eins also, so der Autor. Toll! (S. 163) Aus einer aktuellen Studie gehe hervor, dass 2.000 Frauen zehn Jahre lang zum Screening gehen müssten, „damit eine tatsächlich durch diese Maßnahme vor dem Brustkrebstod gerettet wird“. (S. 29) Es gehe lediglich um Gewebeveränderungen, die entdeckt und behandelt werden, „die in ihrem Leben nicht `klinisch´geworden wären. (S. 36) Ein Fall von Überdosierung – eine gigantische Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für Radiologen. Deshalb gehöre Mamma-Screening vor Gericht. (S. 38) So oder ähnlich sieht es bei allen Früherkennungsmaßnahmen aus, stellt der Autor ernüchtert fest: „Deutsche Gynäkologen verstümmeln vorsätzlich und sinnlos eine unnötige große Zahl der Frauen, die sich ihnen vertrauensvoll ausliefern.“ (S. 157)

Nun muss man kein Wissenschaftler sein, um die Ursachen der Treibjagd nach noch gesunden Menschen zu erkennen, die mittels kostspieliger Vorsorgeuntersuchungen in die Fangnetze der Weißkittel geraten und damit dem Gewinnstreben der Pharmaindustrie genüge tun. Auf den Seiten 159/160 zieht Frank Wittig gegen das Gewinnstreben zu Felde, das besonders in der Medizin so fatal ist. Es gehe um unglaublich viel Geld. „Denn es steht dadurch nicht mehr das im Zentrum, worum es in der Medizin eigentlich immer gehen sollte: das Wohl der Menschen.“ Der ökonomische Gewinn sei eine unheilvolle Triebkraft „in unserer heißgelaufenen Medizin“. (S. 47) Als Beispiel nennt er ZERO, eine Selbsthilfeorganisation in den USA, die angeblich die Interessen der Patienten vertritt, in Wirklichkeit aber die der Industrie. Zu den Sponsoren, so der Autor, gehören u. a. die Pharmafirmen Abbott, Astra, Zeneca, Pfizer und Sanofi, „die mit teuren Hormonpräparaten bei `Prostata-Patienten´ ordentlich Kasse machen“. Weiter: Beim Cholesterinsenken erziele man einen Jahresumsatz von 30 Milliarden Dollar. Das sei ein starker Grund, dieses Geschäftsmodell mit gekaperten Fachgesellschaften von oben her auf Kurs zu bringen. Pharmafirmen wenden im Schnitt drei Prozent ihres Marketingbudgets für Sonderzuwendungen an ausgewählte Professoren auf. „So wird die öffentliche Berichterstattung manipuliert.“ (S. 98) Früherkennung ist ein Wahnsinnsgeschäft, schreibt er! (S. 53)

Wer gewohnt ist, den Fachkräften auf medizinischem Gebiet alles bedenkenlos zu glauben, dem wird diese Lektüre wie ein Sturm im Wasserglas erscheinen. Offen, ehrlich, faktenreich und entlarvend, was die „Anstrengungen“ zur Profitmaximierung auch im medizinischen Bereich betrifft. So präsentiert sich ein außergewöhnliches Buch. Was Wunder, wenn es auf Widerstand in unserer Gesellschaft stoßen wird, entzieht es doch mit dieser Aufklärung gegenüber den Patienten den Pharmazeuten, der Industrie und den Ärzten zusätzliche Einnahmequellen. Möglicherweise!!

Methoden der Täuschung sind in der Medizin ähnlich wie die in der Politik, das lässt sich u.a. an folgenden phraseologischen Aussagen ablesen: Man will die Wahrheit kleinreden, Kritiker nennt man Querulanten, man begrüße zwar Kritiken, entschuldigt sich mit schlechtem Gewissen und mache trotzdem weiter. Eingesetzt werde eine gezielte Desinformation, auch bediene man sich der astrologischen Ratgeber und man missbrauche populäre Persönlichkeiten für die Lobhudelei von Medikamenten. Frank Wittig spricht unverblümt von einem medizinisch-industriellen Komplex, der staatliche Strukturen für die Medikalisierung der Gesellschaft instrumentalisiere. (S. 140) Die Manipulation von Studien oder das Verschweigen von negativen Studienergebnissen „gilt als Kavaliersdelikt“. (S. 101)

Er, der Autor, sei keinesfalls ein Robin-Hood, der gegen gesellschaftliche Missstände ins Feld ziehe, schreibt er auf Seite 159, halte aber die Kritik an der Medizin für wichtig, „da sie immer wieder auf das Intensivste in unser Alltagsleben“ hineinreiche. Man muss ihm bescheinigen, durch eine klare Sprache und direktes Ansprechen der Leser ein wohltuendes Klima der Vertrautheit zwischen Autor und Leser geschaffen zu haben.

Welchen Rat kann der Autor den Lesern geben? Die Politik müsse Fachgesellschaften entmachten und die „Deutungshoheit in medizinischen Fragen in unabhängige Hände legen“. (S. 198) Der einzelne Patient solle extrem skeptisch sein und stets fragen, welche schädlichen Nebenwirkungen zu befürchten seien. Auch im Internet, so bei „Cochrane-Netzwerk“, finde man gute Informationen. Grundsätzlich gehe es stets darum, sich gründlich zu informieren, zum Beispiel im vertrauensvollen Gespräch mit dem jeweiligen Arzt.

An dieser Stelle muss der Rezensent vermerken, dass der Autor zwar die Symptome der Ausbeutung vieler Patienten benannt und die totale Ökonomisierung des Gesundheitswesens in der freien Marktwirtschaft frontal angegriffen, dabei aber notwendige Veränderungen im Gesellschaftssystem nur punktuell angesteuert hat. Ein Wunsch, sicherlich im Namen zahlreicher interessierter Leser: In einer weiteren Auflage könnten Begriffsbestimmungen der wichtigsten medizinischen Vokabeln von großem Nutzen sein.

Es sei zum Schluss an ein Gesundheitswesen erinnert, das keinem Profitstreben unterlag und in dem das Wohl des Menschen oberste Priorität hatte. Dazu folgendes Zitat aus „Saschas Welt“, Blogger Norbert Gernhardt: „Das Gesundheitswesen in der DDR zählte zu den fortgeschrittensten in der Welt. Hervorzuheben ist hierbei insbesondere die kostenlose medizinische Versorgung und Betreuung der DDR-Bürger, die generelle Arzneimittelfreiheit und die Vorsorge am Arbeitsplatz. Die DDR war ein sozialistischer Staat, in dem mit der Krankheit eines Menschen kein Geld zu verdienen war. (…)“
(PK)

Frank Wittig: „Krank durch Früherkennung. Warum Vorsorgeuntersuchungen unserer Gesundheit oft mehr schaden als nutzen“, gebundene Ausgabe: 214 Seiten, Verlag: Riva (7. September 2015), 1. Auflage, Sprache: Deutsch, ISBN-10: 3868836306, ISBN-13: 978-3-86883-630-1, Größe und/oder Gewicht: 15,7 x 2,4 x 21,7 cm, 19.99 Euro

(1) 
http://sascha313.blog.de/2013/06/12/gesundheitswesen-ddr-16116463 /

Erstveröffentlichung dieser Rezension in der Neuen Rheinischen Zeitung:
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=22102

Weitere Texte des Rezensenten:


http://cleo-schreiber.blogspot.com

Harry Popow: „Platons Erben in Aufruhr. Rezensionen, Essays, Tagebuch- und Blognotizen, Briefe“, Verlag: epubli GmbH, Berlin, 316 Seiten, www.epubli.de, ISBN 978-3-7375-3823-7, Preis: 16,28 Euro





kontakt@epubli.de 

Telefonische Bestellung 09 – 16 Uhr : 030/617890 200

Harry Popow: „In die Stille gerettet. Persönliche Lebensbilder.“ Engelsdorfer Verlag, Leipzig, 2010, 308 Seiten, 16 Euro, ISBN 978-3-86268-060-3



ALEX-Kommentar zu „Vorsorge 
auf dem Prüfstand“ 

Hallo lieber Harry, das ist eine sehr gute Rezi. Ich schätze, sie wird mit Sicherheit viele zustimmende Leser finden. Du kennst meine Meinung zur hohen Qualität Deiner von mir bewunderten Rezensionen. Wie viele zustimmende und auch konträr abwertende Links Du erhältst, das weiß ich ja nicht. Aber mein Gefühl, meine persönlichen Erfahrungen zu unseren gesellschaftskritisch geäußerten Ansichten und die darauf jeweils zu erwartenden Reaktionen sagen mir, dass Du mit dieser Rezi einen besonders großen und interessierten Kreis erreichen wirst. Nicht nur wegen der konkreten Sachbezüge des Buches. Deine ergänzenden Bemerkungen zum Gesundheitswesen der DDR werden insbesondere Anklang bei denen finden, die den Vergleich aus eigenem Erleben haben; das sind wir etwas älteren, direkt und unmittelbar betroffenen "Gestrigen".

Tschüss und Dank, ALEX



Dienstag, 6. Oktober 2015

Wild gewordene Politisierung der Esoterik

Bürgerbrief: Wir leben in einer Zeit wild gewordener Politisierung der Esoterik

von Franz Witsch

Hamburg, 06.10.2015

Liebe FreundeInnen des politischen Engagements, die Ereignisse zur Flüchtlingsproblematik überschlagen sich von Tag zu Tag. Mittlerweile spricht man von mindestens 1,5 Millionen Flüchtlingen nach Deutschland noch in diesem Jahr. Es könnte sein, dass uns die Massen an Flüchtlingen irgendwann hoffnungslos derart über den Kopf wachsen, dass eine massiv anwachsende Kriminalisierung sozialer Strukturen nicht mehr zu vermeiden ist. Kann es sein, dass Politiker aller Schattierungen solch eine Entwicklung uneingestanden möchten? Um mit ihrer Inkompetenz im Trüben zu fischen – von rechts bis links? Uneingestanden bedeutet, dass Politiker bald selbst nicht mehr wissen, was sie fühlen, denken (dürfen), um dann irgendwie (planlos) zu handeln. Aktionismus pur. Sie sind de facto – unübersehbar – orientierungslos. Sie fahren mit gefühltangemessenem Tempo, das tatsächlich viel zu hoch ist, auf eine Nebelbank zu, um nach der Massenkarambolage blöd – wenn überhaupt noch möglich – aus der Wäsche zu gucken.

Es war schon immer so: wachsen Probleme bis zu einem Punkt über den Kopf, bis sie irgendwann tatsächlich nicht mehr gelöst werden können, zumindest nicht unter den derzeit geltenden Bedingungen kapitalistischer Produktion, nehmen esoterische Anwandlungen zu. Diese haben mittlerweile die Politik, namentlich Frau Merkel (unseren Pastor, Bundespräsident Gauck, ohnehin) erreicht. O-Ton Frau Merkel: Der „Herrgott“ habe uns die Flüchtlinge geschickt.(Q1)

Esoterische Anwandlungen sind, wenn auch weniger offensichtlich, bei fast allen Teilnehmern der veröffentlichten Meinung üblich, z.B. gerade erst bei „Günther Jauch“. Dort nennt Herbert Grönemeyer Horst Seehofer einen verbalen Brandstifter – „mit dem Ziel, im rechten Lager zu fischen“.(Q2) Mehr als gut gebrüllt möchte ich so etwas nicht nennen. Und dann machte er der Runde klar, dass es „die Gesellschaft gewesen“ sei, „die sich ‚erwachsen verhalten’ und der Politik gezeigt habe, wo es langgehe. Unterstützung bekam Grönemeyer vom beliebten Fernsehmoderator und Wissenschaftsjournalisten Ranga Yogeshwar, der sich zu einem „Stolz“- Bekenntnis auf die Kanzlerin hinreißen ließ, überdies „auf seine Stadt mit ihrem großen bürgerlichen Engagement. Die wahre Stärke“ sei bei den Bürgern. Kaum auszuhalten, dieser Scheiß: „Wahre Stärke“ – was soll das sein?! Ich denke, Grönemeyer und Yogeshwar arbeiten mit Aussagen, die ausschließlich Gefühle ansprechen – bei Yogeshwar zumindest, wenn er nicht über Naturwissenschaft spricht –, und deshalb als esoterisch einzustufen sind. Mit Argumenten, die auf eine Analyse der „realen sozial-ökonomischen Situation“ verweisen, also die „Vernunft“ ansprechen, haben sie nicht das geringste zu tun.

Merke: So wichtig Gefühle sind; auf Dauer sind sie ohne „disziplinierende Vernunft“ gemeingefährlich. Auch die Aussage, wir leben in einem reichen Land, in dem man nur die Reichen für die Flüchtlinge zur Kassen bitten müsse (so Grönemeyer bei Jauch), ist kaum zielführend. Der Grund ist der: Es gibt sehr viel Geld, freilich in Form „fiktiver“ Wertpapiere, die Geld (an der ökonomische Realität vorbei) scheißen; sie haben 2 mit der sozial-ökonomischen Realität nicht das geringste zu tun. So etwas müsste sich in Zeiten von Schulden- und Finanzkrise rumgesprochen haben; nicht so bei unseren Esoterikern. Immer wieder mit der Reichensteuer zu kommen, zeigt nur, dass die, die sie verwenden, von Ökonomie nichts verstehen. Auch ich bin für eine Reichensteuer.

Nur lässt sich mit ihr Verelendung vielleicht hier und dort (abmildern), aber nicht insgesamt und vor allem nicht nachhaltig zurückführen. Dazu müssten wir den Kapitalismus abschaffen. Es geht darum, sich mit Hilfe von Argumenten Gefühle anzusprechen – wie auch nicht?, aber auch die Vernunft. Nur dann werden wir uns mit Rechts-Populisten, wie z.B. Botho Strauß, wirksam auseinandersetzen können. Dazu dürfen wir Strauß’ Argumentation nicht pauschal ablehnen. Schließlich arbeiten er mit Aussagen, die richtig sein könnten.

Esoterische Aussagen zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich mit der sozial- ökonomischen Realität nicht konfrontieren lassen; deshalb wird diese ja ausgeblendet. Damit verurteilt man sich zu einer „Analyse des Stückwerks“, die das sozial-ökonomische Ganze außer acht lässt. Das trifft auf Botho Strauß, den Autor des „anschwellenden Bocksgesangs“ (vgl. Q3), zu. Zumindest darf man das vermuten, wenn man mehrere Texte von ihm zugrundelegt.

Fazit: wir leben in einer Zeit wild gewordener Politisierung der Esoterik, in der Argumente immer weniger eine Rolle spielen. Herzliche Grüße Franz Witsch www.film-und-politik.de

Quellen: Q1: Merkel auf Esoterik-Trip: Der „Herrgott“ hat uns die Flüchtlinge geschickt Bundeskanzlerin Angela Merkel will weiter viele Flüchtlinge in Deutschland aufnehmen - ein gespenstischer Ausflug in die Theokratie, der an den Grundfesten der säkularen Demokratie rüttelt.


Q2 : Flüchtlingstalk bei Jauch: Grönemeyer und die "verbale Brandstiftung" spiegel online vom 05.10.2015 http://www.spiegel.de/kultur/tv/guenther-jauch-zur-fluechtlingskrise-groenemeyer-und-die-verbalebrandstiftung-a-1056144.html

Q3: Botho Strauß zur Flüchtlingskrise: Entwurzelt unter Entwurzelten Spiegel Online vom 02.10.2015



Sonntag, 4. Oktober 2015

Mauerfall-Chaos

Stille_Mauerfall

„In die Stille gerettet“ - Textauszug (Seiten 225-226)

Mauerfall-Chaos

Autor: Harry Popow


Berühmt-berüchtigter 9. November 1989. Abends im Wohnzimmer. Henry sitzt mit Lutz, seinem Halbbruder, auf dem Sofa. Sie reden über Gott und die Welt, vor allem über das gegenwärtige Durcheinander in der Politik, über Reformbemühungen. Dann die abendlichen Meldungen. Die wollen sie nicht versäumen. Mal sehen, was es Neues gibt. Plötzlich Politbüromitglied Schabowski über die Möglichkeit, ab sofort die Grenze passieren zu können. Ohne besondere Genehmigung. Was? Haben wir das Gestammel richtig verstanden? Den beiden und Cleo, die in der Küche mitgehört hat, bleibt die Luft weg. So schnell und mit einem Mal? Ist das noch kluge und weitsichtige Politik? Ist das nicht ein Beschluß aus Notwehr? Zeigt der nicht die innere Zerrissenheit der Führung? Ganz im Inneren sagt sich Henry, tatsächlich, Krenz macht eine neue Politik fürs Volk. Positives und irrationales Denken im Sekundentakt. Aber er tröstet sich nur damit. Er ahnt nicht, was daraus folgen wird. Gemischte Gefühle - Freude und Schreck zugleich!

Der vierundfünfzigste Geburtstag von Henry. Cleo muß zur Arbeit ins Fernsehen. Hat ihm einen lieben Brief geschrieben: „Bitte nicht traurig sein, daß Fraule nicht da ist. Dieses Jahr ist eben wirklich alles verratzt. Nichts desto trotz drück ich Dich ganz lieb, wünsche Dir zum Geburtstag viele liebe gute Dinge: etwas Gesundheit, weiterhin Standhaftigkeit (überall!!!), Ellenbogen, wo Du sie brauchst, eine hoffentlich bald wieder malende Hand, viel, viel Liebe für uns! Wir zwei werden das Geburtstagsessen nachholen jetzt im Dezemberurlaub. Ich lade Dich ein!!! Die ganze blöde Scheiße, die in letzter Zeit über uns hereingebrochen ist - mit Karacho - wird Dich hoffentlich im neuen Lebensjahr nicht wieder anfechten. Es kann nur wieder vorwärts gehen! In diesem Sinne - auf ein Neues! Kussel, Kussel, Kussel! In Liebe, Dein Fraule.“

Henry kann wieder einigermaßen laufen. Hatte Ischias. Und nun – am 12. Dezember - macht er ihn doch, den Schritt über die bislang gefährlichste Grenze in Europa nach Westberlin. Aber er geht mit Cleo, selbstbewußt, vornehm, kultiviert. Sie fahren mit der U-Bahn nach Kreuzberg, da wohnt Tochter Patricia. Nein, den wilden, ungezügelten Ansturm vom November – obwohl er auch zu verstehen war nach so vielen Jahren - hat er nicht mitgemacht, war ihm zu schreierisch. Und wieder: Gemischte Gefühle beim Anblick der vollen Schaufenster. „Nicht wir haben dies erarbeitet“, denkt er. Schön, schön ... Und dann? Der Preis wird hoch sein.

Henry ist in der Beratergruppe wegen der ausgesprochenen Parteistrafe nicht mehr „tragbar“. Er wird in die „Programmabteilung“ verfrachtet. Hier wird brisantes Material für den „Schwarzen Kanal“ mit Karl-Eduard von Schnitzler aufbereitet. Mühevolles Registrieren der Westsendungen, scharfe Trennung von Wesentlichem und Unwesentlichem, Tag und Nacht im Schichtsystem, reinste Knüppelarbeit. Seit Anfang Dezember macht Henry das. Er hat es satt bis obenhin. Da erfährt er, eine Videotextredaktion soll installiert werden. Das interessiert ihn. Es könnte eine Chance sein, aus dieser Hölle herauszukommen...

Januar 1990. Arnold, Henrys jüngster Bruder, schreibt aus Neckargmünd / BRD. Er schimpft auf den „beschissenen Idealismus“. Es ist verständlich, daß er so vom Leder zieht. Er saß sechs Jahre im DDR-Knast, haßt das System. Dementsprechend seine Ansichten. Soll er sich also Luft machen, seine Welt ist nicht die meine, sagt sich Henry. Arnold ist gefangen in seinen Erfahrungen, Henry in die seinen, da gibt es keine Generalwäsche, für niemanden. Knechte wir! Der eine aus vollem Bewußtsein heraus und machbar geglaubtem Idealismus, der andere aus Gründen des spontanen, sehr gefühlsbetonten Protestes. Eines Tages besucht er die Familie Orlow, diesmal also nach dem Umbruch. Läuft im Zimmer wie ein Tiger umher, beide Daumen hinter seinen Hosenträgern geklemmt und will seinem Bruder einschärfen, irgendwo in der Nähe Berlins ein „Haus aufzureißen“. Für Westknete. Wo man sich trifft und sich aussprechen kann. Auf DDR-Boden. Die Orlows sollen sich umsehen!!! Der vermeintliche „Sieger“ ringt um Sieger-Schnäppchen!

Harry Popow: „In die Stille gerettet. Persönliche Lebensbilder.“ Engelsdorfer Verlag, Leipzig, 2010, 308 Seiten, 16 Euro, ISBN 978-3-86268-060-3

Außerdem: Harry Popow: „Platons Erben in Aufruhr. Rezensionen, Essays, Tagebuch- und Blognotizen, Briefe“, Verlag: epubli GmbH, Berlin, 316 Seiten, www.epubli.de, ISBN 978-3-7375-3823-7, Preis: 16,28 Euro
Kommentar:

User Arno Abendschön zum Buch „In die Stille gerettet“

Lieber Harry,

   in den letzten Wochen habe ich Dein Buch durchgelesen und bereue seine Anschaffung nicht. Zunächst einmal empfinde ich Respekt vor Deinem Durchhaltevermögen angesichts dieses weitgespannten, schwierigen Lebenslaufes von der Kriegszeit bis in die gesamtdeutsche, nicht durchweg befriedigende Gegenwart. Wie viele Brüche waren da zu verarbeiten ... Der Leser erhält so durch das Buch ein umfangreiches ostdeutsches Zeitbild aus fast siebzig Jahren.

Der Schwerpunkt des Buches lag für mich eindeutig auf den 1980er Jahren, von der zunehmenden Kritikbereitschaft des Herrn Orlow über sein erstauntes Verwickeltwerden in die sich immer mehr zuspitzenden Abläufe bis hin zu einer gewiss schmerzlichen Resignation. Strukturell erkenne ich hier eine gewisse Verwandtschaft mit Bräkers “Der arme Mann im Tockenburg”. Diese Autobiographie erhält, ähnlich wie Deine, ihren besonderen Wert dadurch, dass der Held gegen seine Absicht in den Zusammenhang eines größeren weltpolitischen Geschehens (Siebenjähriger Krieg) hineingezogen wird und sich selbst nur mit Mühe daraus befreit. Allein diese Beschreibung der Abläufe von 1756 verschafft der privaten Geschichte ihre bleibende Stellung in der deutschsprachigen Literatur.

Recht ungewöhnlich an deinem Buch ist die breite Darstellung des Verhältnisses zwischen Autor und Ehefrau. Ich verstehe schon die Absicht dahinter, Du wolltest wohl ein positives Gegengewicht zur insgesamt gescheiterten gesellschaftliche Utopie schaffen. Dies ist Dir in sozialer Hinsicht durchaus gelungen, auch mit der Einbeziehung der übrigen Familie. Dennoch halte ich das Verfahren bezüglich Cleo für problematisch. Nach meinem Verständnis entziehen sich die seelischen Kräfte, die innerhalb einer solchen lebenslangen Bindung zweier Menschen wirksam sind, weitgehend der literarisch-autobiographischen Gestaltung. Dies bleibt großer Dichtung mit fiktivem Personal vorbehalten.

Zwei weitere Kritikpunkte, nicht allzu schwerwiegend: Die Rechtschreibung lässt leider zu wünschen übrig. (“”Hunt” statt “Hund”, “routieren” statt “rotieren”, “Lux” statt “Luchs”, “Kuhdamm” usw.) Da hätte lektoriert werden sollen. Und: Hier und da macht die Verwendung von Begriffen und Abläufen militärisch-bürokratischer Interna von damals dem Außenstehenden, also auch der Nachwelt, das Lesen schwer. Insoweit wünscht man sich fast einen kommentierenden Apparat. Nur ein Beispiel: Warum gab es einen FDJ-Sekretär bei einem Truppenteil?

Den Buchtitel finde ich sehr gelungen. Sein Versprechen wird durch die gute Darstellung südschwedischer Natur zum Teil eingelöst. (Gefallen hat mir auch die Verwendung von Alpträumen im letzten Teil.) Allerdings liegt das Schwergewicht im schwedischen Teil eben nicht auf der Stille der Landschaft und im Rückzug auf die eigenen Kräfte, sondern in der breiten Darstellung von Geselligkeit. Ich sehe ein Rentnerparadies vor mir, in dem gesamtdeutsche Exilanten sich mit typischen Vertretern des provinziellen schwedischen gehobenen Bürgertums verbrüdern. Der Autor merkt dazu auf Bl. 266 an: “Wir tun etwas für uns selber. Im falschen System das Richtige tun – das ist auch eine Kunst. Auch eine Form des Egoismus. Na und? Den haben wir uns schließlich verdient.” Im falschen System das Richtige tun, das liest sich wie ein vom Kopf auf die Füße gestellter Adorno (“Es gibt kein richtiges Leben im falschen.”) Persönlich denke ich heute eher, es gibt überhaupt kein unwandelbar Richtiges oder Falsches, nur ein jeweilig Richtiges bzw. Falsches. Was bleibt dann noch an Prinzipien? Leid vermeiden und aufrichtig sein.

Dein Buch hat mich während der Lektüre stark beschäftigt. Ich ordne es nun bei mir in der Abteilung Sachbücher unter P ein, um es gelegentlich wieder zur Hand zu nehmen und etwas nachzulesen. Stoff von Bedeutung findet sich darin reichlich
.



Arno Abendschön ist Autor. Er schrieb zum Beispiel: „Eine deutsche Familie. Chronik in Fragmenten“, siehe
http://www.bookrix.de/_ebook-arno-abendschoen-eine-deutsche-familie/

Link für sämtliche Bücher von Arno Abendschön:
http://www.bookrix.de/search;keywords:Arno%20Abendsch%C3%B6n,searchoption:all.html   
   

Freitag, 2. Oktober 2015

Besser als der beste Kapitalismus


Aus: Ausgabe vom 02.10.2015, Seite 12    / Thema

Besser als der beste Kapitalismus

Die Leistungen des Sozialismus in der DDR lassen sich an den heutigen Zuständen ablesen: Kriege, Not, Elend und ein deutscher Imperialismus, der wieder einmal auf dem Sprung ist. Betrachtungen zur Konterrevolution vor 25 Jahren.

Von Patrik Köbele

Zum 25. Jahrestag der »deutschen Einheit« hat die DKP eine Erklärung verfasst: »Sozialismus ist heute nötiger denn je!« Sie findet sich unter: news.dkp.de

Der 3. Oktober 1990 war ein schwarzer Tag für die gesamte Linke in Deutschland und darüber hinaus. Die Ereignisse und Entwicklungen, die an dieses Datum geknüpft sind, fügten ihr eine schwere Niederlage zu, von der sie sich bis heute nicht erholt hat. Verkümmerung und Verfall, Resignation und Orientierungslosigkeit waren das unmittelbare Ergebnis, das noch immer das Fortkommen einer grundsätzlichen Opposition lähmt. Auch wenn damit noch lange keine Lösung geboten wird, spricht viel dafür, sich des eigenen Erbes zu besinnen, auch und vor allem angesichts der gegenwärtigen Misere. Oder anders gesagt: Das Verhältnis zum realen Sozialismus in Europa und im Speziellen zur DDR ist für jeden Linken ein Prüfstein, der ehrlich den Anspruch hat, den gegenwärtigen Kapitalismus zu überwinden und eine sozialistische Entwicklung einzuleiten.

Nostalgisch ist daran nichts. Gewiss, der Sozialismus in Europa bzw. der Sozialismus in der DDR war am Ende zu schwach, zu ausgezehrt, zu zerrüttet, um den inneren Widersprüchen zu begegnen, die Angriffe von außen abzuwehren, den konterrevolutionären Bestrebungen entgegenzutreten. Dem Imperialismus nun aber vorzuwerfen, dass er diesen Zustand herbeigeführt, gefördert und ausgenutzt hat, ergibt wenig Sinn, das war sein Job und wird es bei Strafe seines Untergangs immer sein. Gleichwohl, eine gründliche Analyse, wie es soweit kommen konnte, bleibt unverzichtbar, wenn weiterhin die Absicht besteht, daraus die notwendigen Konsequenzen für einen erneuten Anlauf, einen erneuten Ausbruch aus dem Kapitalismus zu ziehen.

Das aber wird nur gelingen, wenn man sich grundsätzlich auf die Seite des Sozialismus stellt, so, wie er sein soll, aber eben auch so, wie er war. Man entschuldigt sich nicht beim Klassengegner – nicht für die einstmalige Verteidigung des Sozialismus und auch nicht für dabei gemachte Fehler. An einer Fehleranalyse hat dieser Klassengegner nämlich naturgemäß kein Interesse. Bei SPD und Grünen, die irgendwann einmal zumindest vorgaben, etwas anderes zu wollen als die reine Bewahrung des Kapitalismus, verhält es sich nicht unbedingt anders. Um gar nicht in die Nähe einer Sympathie für den gewesenen wie den zukünftigen Sozialismus zu geraten, bitten sie um nachträgliche Entschuldigung für das Wagnis der Überwindung des Kapitalismus, leisten Abbitte für ehemals radikalere Positionen, wünschen Pardon für die Enteignung der Faschismusförderer und Kriegsverbrecher, der Großkonzerne und Junker. Es geht ihnen um die Verbreitung ihrer »Wahrheit«: Der Sozialismus hatte keine Fehler, der Sozialismus war der Fehler. Bedauerlicherweise lässt sich auch von der Linkspartei bzw. ihrer Vorgängerorganisation nicht behaupten, dass sie in dieser Frage Haltung bewiesen hätte. Das Bekenntnis zu einem wie auch immer gestalteten Sozialismus ist zwar nach wie vor programmatisch verankert, ein Bezug zur Vergangenheit in den letzten Jahren aber weitgehend gekappt worden. Das Bedürfnis, sich für die Taten oder Untaten der DDR entschuldigen zu müssen, erschien so zwanghaft, dass man sich fragen musste, wann eigentlich das nächste »Mea culpa« ausgesprochen würde. Signalisiert wird damit: Auch wir wollen mit dem gewesenen Sozialismus nichts mehr zu tun haben. Dabei gibt es gute Gründe, sich seiner zu erinnern.

Von der Kette gelassen


Auch als es ihn gab, hatte der Imperialismus nicht aufgehört, das zu tun, was er am besten kann und was ihn so verabscheuungswürdig macht: Er raubte, er mordete, er führte Krieg. Letzteres besonders brutal auch und gerade gegen Versuche, eine Gesellschaft jenseits von Unterwerfung, Kolonialismus und Kapitalismus zu errichten, wie in Korea und Vietnam. Gleichwohl zwang dieser Sozialismus seinen Kontrahenten zu einer veränderten Strategie. Der jederzeitige offene Einsatz des Militärs war ihm nicht mehr ohne weiteres möglich. Zugleich nivellierte der Sozialismus die Gegensätze zwischen den imperialistischen Staaten so stark, dass diese Kriege gegeneinander unterließen und auch kaum mehr ihre Stellvertreterkriege untereinander ausfochten. Anders als irgendwann einmal behauptet, war der Imperialismus zu keiner Zeit »friedensfähig«. Aber der reale Sozialismus zwang ihn zu einer relativen Friedlichkeit.

Das war einmal. Heute erleben wir eine Welt, in der Krieg wieder zum Normalzustand geworden ist. Seit der durch SPD und Grüne organisierten Teilnahme der Bundeswehr am völkerrechtswidrigen Bombardement gegen Jugoslawien 1999 ist auch der deutsche Imperialismus wieder dabei. Nach dem Ende der DDR konnte er sich von einem quasi gefesselten Imperialismus zu einer Macht entwickeln, die über die Kontrolle des EU-Hinterlands daran arbeitet, den Abstand zum US-Imperialismus zu verringern. Dabei gilt jedoch: Der Jugoslawien-Krieg hätte im Falle einer da noch existierenden DDR nie stattgefunden, die derzeit schlimmste Gefahr für den Frieden, die NATO-Osterweiterung, wäre ohne Umwälzung der ehedem sozialistischen Staaten nicht möglich gewesen. Die Vorstellung, mit militärischen Mitteln ließe sich unter den obwaltenden Umständen irgendetwas zum Besseren wenden, weisen Kommunisten als illusionär und verhängnisvoll zurück. Zudem darf angenommen werden, dass eine Billigung von Kriegseinsätzen ganz gleich welcher Art die letzte Bedingung einer Regierungsbeteiligung darstellt. Kräfte in- und außerhalb der Linkspartei arbeiten seit langem daran, dieses Ticket zu lösen. Die ersten Schritte sind längst gegangen, ehemals konsequente Positionen bereits unterminiert. Wenig spricht dafür, dass dieser Trend zu stoppen ist.

Weltweit 60 Millionen Menschen befinden sich in diesen Tagen auf der Flucht, Tausende ertrinken im Mittelmeer, etliche ersticken in Lkw. Und in diesem Land finden erneut rechte Aufmärsche gegen Flüchtlinge statt, ereignen sich beinahe täglich Anschläge auf deren Unterbringungsstätten. Die katastrophalen Ausmaße dieser Zustände stehen in einem ursächlichen Zusammenhang mit einem System, das infolge seines alles beherrschenden Profit-, Konkurrenz- und Ausbeutungsprinzips gleichsam naturwüchsig Elend, Not und Krieg produziert.

Angesichts dessen ist eine zweite Leistung des Sozialismus kaum in ihrer historischen Größe zu erfassen. Er ermöglichte und förderte (politisch, finanziell und teilweise auch durch militärische Unterstützung) die Zurückdrängung von Kolonialismus und Neokolonialismus. Befreiungsbewegungen in den damals direkt abhängigen Ländern konnten genauso auf die Unterstützung der DDR zählen wie fortschrittliche und Friedenskräfte in den kapitalistischen. Da floss viel Geld, auch an die DKP, genauso wie an Kräfte der Friedens- und der antifaschistischen Bewegung in der BRD. Viele wussten das, einige schämten sich deswegen. Aber musste sich die DDR dafür schämen, dass sie das tat? Sicher nicht. Der Imperialismus finanzierte seinerseits die Konterrevolutionen in Chile und Portugal und lieferte Waffen zur Liquidierung der Fortschrittskräfte weltweit.

Formieren und niederwalzen
Deutlich ist heute spürbar, was zu Zeiten der Existenz des realen Sozialismus mancher Gewerkschafter nur hinter vorgehaltener Hand aussprach: Die DDR saß bei Tarifgesprächen als unsichtbarer Verhandlungspartner mit am Tisch. Zu manchem Zugeständnis war das Kapital damals bereit. Denn der BRD kam auch eine Schaufensterfunktion zu: Es sollte ein Land präsentiert werden, das »Wohlstand für alle« garantierte und ein schier unerschöpfliches Warenreservoir zu bieten hatte; ein Land zumal, in dem die Integration der Arbeiterklasse großenteils gelingt und die Sozialstaatsillusion weitgehend verfängt.

Alles wurde anders mit dem Datum 3. Oktober 1990. Die Zerschlagung der Industrie in der DDR und eine wachsende Massenarbeitslosigkeit in ganz Deutschland waren geeignete Anknüpfungspunkte für eine Offensive des Kapitals. Wie so oft in solchen Fällen bediente man sich zur Ausführung der schlimmsten Angriffe auf die Rechte und Errungenschaften der Arbeiterbewegung deren immer noch maßgebenden und einflussreichen Teils – der alten Sozialdemokratie. Agenda 2010 und Hartz-Gesetze waren die Waffen, mit denen man Deutschland im Verhältnis zu seiner Produktivität zu einem Niedriglohnland zurechtstutzte. Das wiederum schuf die Voraussetzung dafür, die übrigen Staaten der EU – der Beseitigung der Zollschranken und der Einführung des Euro sei Dank – mit deutschen Exportwaren zu überschwemmen, niederzuwalzen, auszupowern.

Exportorientierung und Strukturreformen auf der einen, der Verlust einer über den Kapitalismus hinausgehenden Perspektive seitens reformistischer politischer Kräfte und der Gewerkschaften – auch eine Folge der Ergebnisse des 3. Oktober 1990 – auf der anderen Seite ließen die Ideologie der Standortlogik innerhalb der Arbeiterbewegung triumphieren. Die unreflektierte Hinnahme dieser Ideologie vor allem bei den Funktionären der Arbeiterbewegung, die auf die Bewusstseinsbildung der gesamten Klasse keinen unerheblichen Einfluss ausüben, hatte und hat verheerende Folgen. Denn sie suggeriert, es gebe eine Interessenübereinstimmung zwischen Kapital und Arbeit, zwischen Herrschenden und Beherrschten.

Die Akzeptanz einer solchen Behauptung ist aber die Bedingung, den Nationalismus massenwirksam werden zu lassen. Beispiele, auf welche Weise dieser Nationalismus geschürt werden kann, sind in der jüngeren Zeit hinlänglich bekannt geworden. Prominent und hässlich ist da der, wenn nicht medial ersonnene, so zumindest schrill verstärkte Ruf: »Wir zahlen nicht für faule Griechen«. Zum Zwecke einer Formierung aller Deutschen richtet sich so etwas dann schnell gegen die Flüchtlinge, denen unterstellt wird, sie seien »Wirtschaftsflüchtlinge«, die ohne Gegenleistung vom im Schweiße unseres Angesichts erarbeiteten Wohlstand profitieren wollten und daher schnellstmöglich in »sichere Drittstaaten« abgeschoben gehörten.

Eine solche nationalistische Formierung vermag immer auch der Aggression nach außen zu dienen, wie sich das in der Feindmarkierung »des Russen« im Zuge der Ukraine-Krise wieder einmal beobachten ließ. Die Kommunisten in der BRD gehen davon aus, dass eine wachsende Aggressivität des deutschen Imperialismus nach innen und nach außen bevorsteht. Die weitgehende ideologische Entwaffnung der Arbeiterbewegung stellt dabei eine erhebliche Gefahr dar. Gleichwohl müssen auf der Grundlage dieser Einschätzung Wege für ein gemeinsames Handeln aller Linken und der Kräfte des Friedens gefunden werden.

Der Widerspenstigen Zähmung

Eine weitere Entwicklung seit dem 3. Oktober 1990 ist in Augenschein zu nehmen bzw. darf von denjenigen, die noch auf irgendeine Weise an einer gesellschaftsverändernden Perspektive festhalten wollen, nicht übersehen werden. In der DDR wurden Fehler im Umgang mit der Macht begangen. Hauptmoment der Schwäche dieses Staates gegen Ende seiner Existenz war, dass die Arbeiterklasse kein Bewusstsein mehr von ihrer führenden Rolle besaß und die kommunistische Partei das Vertrauen ebendieser Klasse eingebüßt hatte. Dieser Umstand ist nach wie vor gründlich zu analysieren, anstatt ihn, wie es heute in der Regel geschieht, moralisch zu bewerten.

Mangelhafte Analyse ist auch mit Blick auf das kapitalistische Deutschland in seiner politischen Form der bürgerlichen Demokratie festzustellen. Da wird nicht mehr nach seinem Wesen als Herrschaft des Kapitals bzw. des Monopolkapitals gefragt, und über die Fragen der Macht zu reden, gilt als unfein. Das entwaffnet die Linkskräfte, lässt sie durch ihre bloße Parlamentsfixierung verkümmern. Gegen den Kampf um und in bürgerlichen Parlamenten ist nichts einzuwenden, er sollte auch nicht unterschätzt werden. Sobald man allerdings dem Trugschluss aufsitzt, sie seien die realen Stätten der Macht, hat man die Erkenntnisse der politischen Ökonomie und der marxistischen Staatstheorie ad acta gelegt. In den Parlamenten kann dann ungestört geschehen, was eine der Funktionen der Parlamente ist: der Widerspenstigen Zähmung. Der Vorgang lässt sich dieser Tage einmal mehr im Bundestag beobachten.

In der DDR war das Recht auf Arbeit verwirklicht, Arbeitslosigkeit im Grunde unbekannt. Diese Leistung lässt sich 25 Jahre nach ihrer Beseitigung nur noch negativ erfassen: Die Drangsal der Erwerbslosen und der Ausgegrenzten und deren Gängelei von Staats wegen. Letztlich aber betrifft das die gesamte Klasse. Erwerbslosigkeit ist auch ein Kampf- und Spaltungsmittel. Sie ist der beständige Druck, der von der »Reservearmee« auf den in Lohn und Brot stehenden Teil der Klasse ausgeht. Eine hohe Arbeitslosenquote bildete die Rechtfertigung der vergangenen Angriffe unter der Bezeichnung Agenda 2010. Weitere Attacken mit dem Ziel einer fortschreitenden Aushöhlung des Streikrechts werden geführt bzw. sind in Planung. Man denke nur an das jüngste Urteil gegen den von der Spartengewerkschaft Cockpit organisierten Streik der Piloten. Schwer vorstellbar, dass man sich das bei Fortexistenz der DDR, bei einem Weiterbestehen des realen Sozialismus getraut hätte. Allerdings darf bei dieser Angelegenheit nicht übersehen werden, dass sich der Widerstand der großen Gewerkschaften bisher in engen Grenzen hält, bisweilen sogar die Kooperation mit dem Kapital gesucht wird, wie das unrühmliche Beispiel Tarifeinheitsgesetz beweist.

Man mag nun gar behaupten, dass auch die faktische Abschaffung des sozialen Wohnungsbaus nicht möglich gewesen wäre, gäbe es noch den Konkurrenten von jenseits der Elbe. Bereits vor 1989 waren die Wohnungen in der BRD eine lukrative Einkommensquelle und die Mieten oft sehr hoch. Trotzdem konnte es sich der westdeutsche Staat nicht leisten, im direkten Vergleich mit der DDR, die um genügend Wohnraum für alle kämpfte, abgehängt zu werden. Die Wohnungen in der BRD waren daher nicht selten schöner und komfortabler. Gleichwohl wird heute ein ganz grundsätzlicher Unterschied des Städtebaus erkennbar. Die Plattenbauten des Ostens verfielen im Westen schon zum Zeitpunkt ihrer Errichtung der Verdammnis, man sah in ihnen schauderhafte Wohnghettos. Heute sind diese Siedlungen mancherorts tatsächlich Stätten der Vereinzelung, der Vereinsamung und der Verwahrlosung. Dies aber einzig deshalb, weil sie der entscheidenden städtebaulichen Komponente der DDR beraubt wurden: der wohnortnahen Sozialeinrichtungen, die heute oft als Ruinen vergangener gesellschaftlicher Verhältnisse in der Mitte der Wohnbezirke vor sich hin rotten. Was lässt sich daraus lernen? Der Kapitalismus orientiert sich an Profit und Geldvermehrung, der Sozialismus hatte selbst in der Zeit des Kampfes gegen den Wohnungsmangel ein neues Prinzip hervorgebracht. Eine Stadtplanung, der nicht an Profit, sondern an den Interessen der Menschen gelegen war.

Heutige Schüler und Studenten haben die Existenz der DDR nicht mehr bewusst erlebt. Sie haben mithin auch nicht mehr erlebt, dass das Bildungssystem der BRD einmal von anderer Gestalt war. Heute besteht eine unverkennbare Ausrichtung der Bildungsanstalten und der Lehrinhalte an den Verwertungsinteressen des Kapitals. Dafür stehen die Schlagworte G 12 und Bologna-Reform, also die Einführung des Bachelor- und Masterstudiums. Etabliert hat man letztlich ein Bildungswesen der gesellschaftlichen Spaltung, das tendenziell die Masse der Menschen mit Grundwissen versorgt und einer kleinen Elite spezielle Techniken und Herrschaftswissen beibringt. In Zeiten, als es noch zwei deutsche Staaten gab, war das etwas anders. Bildungsprivilegien wurden zaghaft abgebaut, dem dreigliedrigen Schulsystem war die Integrierte Gesamtschule zur Seite gestellt, und Arbeiterkinder waren an Universitäten nicht mehr ganz die Exoten, die sie heute wieder zu werden drohen. Die alte BRD stand damals gehörig unter Druck, den ein einheitliches und durchgängiges Bildungswesen der DDR sowie Ansätze der Aufhebung der Trennung von Kopf- und Handarbeit, wie sie im polytechnischen Bildungswesen zum Ausdruck kamen, ausübten. Damalige Forderungen der Gewerkschaftsjugend und der Schülerbewegung in der BRD lesen sich heute wie Aufrufe zur Revolution. Sie waren allerdings – solange es die DDR gab – keineswegs unrealistisch.

\"Verordnet\", na und?

Ein letzter Aspekt dessen, was war, aber nicht mehr ist. Der Antifaschismus der DDR, heißt es allenthalben, sei »verordnet« gewesen. Ein Dauerbrenner der Verleumdungen. Der Antifaschismus war, im Gegensatz zu den westdeutschen Zuständen, den Statuten der DDR gewissermaßen eingeschrieben. Antifaschisten bauten diesen Staat auf, Antifaschismus war dort Bildungsauftrag. Insofern mag man ihn verordnet nennen. Über seinen Inhalt ist damit noch nichts ausgesagt. Die Mühe einer Auseinandersetzung auf dieser Ebene macht man sich selten. Wer dem untergegangenen Staat vorwirft, er habe seinen Antifaschismus »verordnet«, den empört, dass es überhaupt einen gegeben hat. In der BRD existierte er offiziell erst gar nicht. Faschisten waren beteiligt am Aufbau und Funktionieren eines Staatsapparats, von dem Jahrzehnte später herauskam, dass er von den Umtrieben einer neonazistischen Mordorganisation intime Kenntnisse besaß und sein Personal im Umfeld der Täter agieren ließ. Man mag sich die Frage vorlegen, was mehr Unbehagen bereitet: Ein Staat, der Antifaschismus verordnet, oder einer, der die NSU-Morde an Migranten tatenlos mit ansieht, begleitet und mitunter gar fördert?

Wenn behauptet wird, die relative Stärke der Faschisten im Osten sei die Folge der autoritären Strukturen der DDR, so geht das einigermaßen weit an den realen Ursachen vorbei. Wahr dürfte vielmehr sein, dass man verunsicherte und auch wütende Menschen in deindustrialisierten und kahlgeschlagenen, eher verdorrten als blühenden Landschaften zurückgelassen hat, die für die Demagogie organisierter, nicht selten aus dem Westen importierter (auch das sollte man nicht vergessen) faschistischer Kader empfänglich wurden. Faschistische Pogrome hat es in der DDR jedenfalls nie gegeben.

Es bestand hier nicht, wenn auch dieser Vorwurf erhoben werden mag, die Absicht, Untergegangenes zu beschwören, auf dass es bald wiederkehre. Aber die Leistungen der DDR und des Sozialismus lassen sich ein Vierteljahrhundert nach ihrem Ableben durch ihren Verlust sehr genau bemessen. Die bloße Existenz der DDR verhinderte einen Wiederaufstieg des deutschen Imperialismus, der heutzutage zum Wehe der Bevölkerungen anderer Staaten eine unheilvolle Machtstellung auf dem europäischen Kontinent einnimmt. Man muss die DDR nicht gemocht haben, um sich zu dieser Erkenntnis durchzuringen. Es gibt einen zutreffenden Satz des ungarischen Marxisten Georg Lukács, der so geht: »Der schlechteste Sozialismus ist besser als der beste Kapitalismus.« Daran war zu erinnern.

Patrik Köbele ist Vorsitzender der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP).