Mittwoch, 15. Juli 2020

Stalin und Hitler als Verursacher des Zweiten Weltkrieges? - Wolfgang Bittner



Das EU-Parlament provoziert Russland und Putin antwortet


Stalin und Hitler als Verursacher des Zweiten Weltkriegs?


Von Wolfgang Bittner

Von den deutschen sogenannten Qualitätsmedien ignoriert oder kurz abgetan, erschien am 18. Juni 2020 in der US-Zeitschrift The National Interest ein langer Essay des russischen Präsidenten Wladimir Putin mit dem Titel „Gemeinsame Verantwortung vor Geschichte und Zukunft“ zum „75. Jahrestag des Großen Sieges“ in englischer Sprache.(1) Am 19. Juni 2020 veröffentlichte die Botschaft der Russischen Föderation in Berlin den Artikel in Deutsch.(2) Im Vergleich zu dem, was von westlichen Spitzenpolitikern sonst so zu hören und zu lesen ist, handelt es sich um ein publizistisches und politisches Glanzstück.

Anlass für diese denkwürdige Veröffentlichung, die ohne Übertreibung als eines der wichtigsten politischen und geschichtlichen Dokumente seit 1945 zu sehen ist, war nicht nur der 75. Jahrestag des Sieges über Nazi-Deutschland. Vielmehr war es die dreiste Provokation durch das Parlament der Europäischen Union, das sich am 19. September 2019 auf Initiative von 18 polnischen EU-Abgeordneten eine Resolution leistete, mit der Russland eine wesentliche Mitschuld am Zweiten Weltkrieg zugeschoben werden soll, und zwar „in der Erwägung, dass vor 80 Jahren, am 23. August 1939, die kommunistische Sowjetunion und das nationalsozialistische Deutsche Reich den als Hitler-Stalin-Pakt bekannten Nichtangriffspakt und dessen Geheimprotokolle unterzeichneten, womit die beiden totalitären Regime Europa und die Hoheitsgebiete unabhängiger Staaten untereinander aufteilten und in Interessensphären einteilten und damit die Weichen für den Zweiten Weltkrieg stellten…“(3) Die historische Unkenntnis und ideologische Befangenheit zahlreicher Mitglieder dieses höchsten europäischen Gremiums zeigt sich an dem Abstimmungsergebnis: 535 Ja-Stimmen, 66 Nein-Stimmen, 52 Enthaltungen.

Der russische Präsident mochte diese Schuldzuweisung nicht auf sich beruhen lassen und antwortete mit einer Abhandlung, die deutlich seine Handschrift trägt. Er beginnt mit einem persönlichen Rückblick auf das Schicksal seiner Familie im Zweiten Weltkrieg und danach: „Man pflegt zu sagen: Der Krieg hat eine tiefe Spur in der Geschichte jeder Familie hinterlassen. Hinter diesen Worten stehen das Schicksal von Millionen Menschen, ihr Leiden und der Schmerz des Verlustes. Stolz, Wahrheit und Erinnerung. Für meine Eltern ist der Krieg die schrecklichen Qualen des belagerten Leningrads, wo mein zweijähriger Bruder Witja starb, wo meine Mutter durch ein Wunder am Leben blieb.“(4)

Für ihn und seine Altersgenossen, so schreibt Putin, sei es wichtig, „dass unsere Kinder, Enkel und Urenkel begreifen, welchen Prüfungen und Qualen ihre Vorväter standgehalten haben.“ Er halte es in Verantwortung gegenüber der Vergangenheit und Zukunft für seine Pflicht, „alles zu tun, um eine Wiederholung der schrecklichen Tragödien zu verhindern“. Deshalb habe er den Artikel über den Zweiten Weltkrieg und den „Großen Vaterländischen Krieg“ geschrieben.

Zu den Ursachen des Zweiten Weltkriegs

Putin geht dann in bemerkenswerter Weise auf die Vorkriegszeit ein – er bezeichnet seine Ausführungen als „Offensichtliches“ –, und das sollte nicht nur den für die unsägliche EU-Resolution verantwortlichen Abgeordneten, sondern allen westlichen Politikern ins Geschichtsbuch geschrieben werden: „Die eigentlichen Ursachen des Zweiten Weltkriegs ergeben sich in vieler Hinsicht aus den Entscheidungen, die zu den Ergebnissen des Ersten Weltkrieges getroffen wurden. Der Vertrag von Versailles wurde für Deutschland zu einem Symbol tiefer Ungerechtigkeit. Tatsächlich ging es um die Beraubung des Landes, das den westlichen Verbündeten riesige Reparationen zahlen musste, die seine Wirtschaft erschöpften. Der Oberbefehlshaber der alliierten Armeen, Marschall von Frankreich, Ferdinand Foch, gab dem Versailler Vertrag eine prophetische Bezeichnung: ‚Das ist kein Frieden. Das ist ein Waffenstillstand auf 20 Jahre‘. Gerade die nationale Demütigung bildete den Nährboden für radikale und revanchistische Stimmungen in Deutschland.“(5)

Damit sei das deutsche Volk in einen neuen Krieg getrieben worden, folgert Putin. Es sei paradox, aber westliche Staaten, vor allem Großbritannien und die USA, hätten direkt oder indirekt dazu beigetragen: „Ihre Finanz- und Industriekreise investierten durchaus aktiv in deutsche Fabriken und Werke, die Rüstungserzeugnisse produzierten. Und unter der Aristokratie und dem politischen Establishment gab es viele Anhänger radikaler, rechtsextremer, nationalistischer Bewegungen, die sowohl in Deutschland als auch in Europa an Stärke gewannen.“

Das Münchner Abkommen

In einem folgenden längeren Abschnitt beschäftigt sich Putin mit der Gründung des Völkerbundes und dem Münchner Abkommen, in Russland die „Münchner Verschwörung“ genannt. Der Völkerbund sei eines der wichtigsten Ergebnisse des Ersten Weltkriegs gewesen: „Auf diese internationale Organisation wurden große Hoffnungen zur Gewährleistung eines dauerhaften Friedens, der kollektiven Sicherheit gesetzt. Es war eine progressive Idee, deren konsequente Umsetzung ohne Übertreibung eine Wiederholung der Schrecken des globalen Krieges hätte verhindern können.“ Doch das Bündnis sei von den Siegermächten Großbritannien und Frankreich dominiert worden und dadurch ineffizient und bedeutungslos geworden.

Wiederholte Forderungen der Sowjetunion nach einem gleichberechtigten, vertraglich abgesicherten System kollektiver Sicherheit seien ignoriert worden, so Putin weiter. „Und im Fall des Münchner Abkommens, an dem neben Hitler und Mussolini die Staats- und Regierungschefs Großbritanniens und Frankreichs teilnahmen, kam es mit voller Zustimmung des Völkerbundrates zu einer Zergliederung der Tschechoslowakei.“ In diesem Zusammenhang betont Putin, „dass sich Stalin im Unterschied zu vielen damaligen europäischen Führern nicht mit einem persönlichen Treffen mit Hitler befleckte, der damals in westlichen Kreisen als ein durchaus respektabler Politiker galt, und ein willkommener Gast in den europäischen Hauptstädten war.“

Auf die Annexion der tschechoslowakischen Gebiete, an der neben Nazi-Deutschland auch Polen beteiligt gewesen sei, geht Putin genauer ein: „Sie entschieden im Voraus und gemeinsam, wer welche tschechoslowakische Ländereien bekommen wird. Am 20. September 1938 teilte der polnische Botschafter in Deutschland, Jozef Lipski, dem Außenminister Polens, Jozef Beck, die Versicherungen Hitlers mit, dass, wenn es zwischen Polen und der Tschechoslowakei zu einem Konflikt bezüglich der polnischen Interessen in Tschechien komme, das Reich sich auf die polnische Seite stellen werde. Der Nazi-Führer gab sogar Hinweise und Ratschläge, dass der Beginn der polnischen Aktionen erst nach der Besetzung des Sudetenlands durch die Deutschen erfolgen solle.“

Polen sei sich bewusst gewesen, so Putin, „dass seine Eroberungspläne ohne Unterstützung durch Hitler zum Scheitern verurteilt gewesen wären“(6). Er zitiert die Aufzeichnung eines Gespräches des deutschen Botschafters in Warschau, Hans-Adolf von Moltke, mit Jozef Beck vom 1. Oktober 1938 über die polnisch-tschechischen Beziehungen und die Position der UdSSR in dieser Frage: „Dort steht geschrieben, Herr Beck… habe sich für die loyale Interpretation der polnischen Interessen auf der Münchner Konferenz sowie für die Aufrichtigkeit der Beziehungen während des tschechischen Konflikts sehr bedankt. Die Regierung und die Öffentlichkeit von Polen würden die Position des Führers und Reichskanzlers voll und ganz würdigen“.

Das sind erstaunliche Aussagen, die durch Archivmaterial belegt werden können. Putin schreibt: „Die Teilung der Tschechoslowakei war grausam und zynisch. München zerstörte sogar jene formellen und zerbrechlichen Garantien, die auf dem Kontinent geblieben waren, und zeigte, dass gegenseitige Vereinbarungen nichts wert sind. Gerade das Münchner Abkommen diente als Auslöser, nach dem ein großer Krieg in Europa unvermeidlich wurde. Heute möchten europäische Politiker, vor allem polnische Spitzenpolitiker, München ‚verschweigen‘. Warum? Nicht nur deswegen, weil ihre Länder damals ihre Verpflichtungen verraten haben und das Münchner Komplott unterstützten, wobei einige sogar an der Teilung der Beute teilnahmen, sondern auch weil es unangenehm ist, sich daran zu erinnern, dass sich nur die UdSSR an jenen dramatischen Tagen für die Tschechoslowakei eingesetzt hat.“

Weiter führt Putin aus, die Sowjetunion habe versucht, auf der Basis ihrer internationalen Verpflichtungen, darunter auch der Abkommen mit Frankreich und der Tschechoslowakei, „die Tragödie zu verhindern“, Polen habe hingegen, „seine Interessen verfolgend, mit allen Kräften die Schaffung eines kollektiven Sicherheitssystems in Europa verhindert“. Am 19. September 1938 habe der polnische Außenminister Jozef Beck dem polnischen Botschafter in Berlin, Jozef Lipski, vor seinem Treffen mit Hitler geschrieben: „…Im Laufe des vergangenen Jahres hat die polnische Regierung viermal das Angebot abgelehnt, sich der internationalen Einmischung zum Schutz der Tschechoslowakei anzuschließen.“

Über die Intentionen der damaligen Großmächte Großbritannien und Frankreich, damals die wichtigsten Verbündeten der Tschechen und Slowaken, schreibt Putin, sie hätten sich dafür entschieden, „auf ihre Garantien zu verzichten und dieses osteuropäische Land zum Zerreißen vorzuwerfen.“ Es folgt eine brisante, aber durchaus stimmige Analyse: „Nicht nur vorzuwerfen, sondern die Bestrebungen der Nazis in den Osten zu lenken, mit dem Ziel, dass Deutschland und die Sowjetunion unvermeidlich aufeinanderstoßen und einander ausbluten könnten. Gerade darin bestand die westliche Politik der ‚Befriedung‘. Und nicht nur in Bezug auf das Dritte Reich, sondern auch auf andere Teilnehmer des sogenannten Antikomintern-Pakts – das faschistische Italien und das militaristische Japan.“

Der Hitler-Stalin-Pakt

In der damals entstandenen Situation hat die Sowjetunion einen Nichtangriffspakt mit Deutschland abgeschlossen, den Hitler-Stalin Pakt, in Russland Molotow-Ribbentrop-Pakt genannt. Aber das war keine außergewöhnliche Handlung oder Schandtat (wie die polnische Regierung in jüngster Zeit mehrmals behauptet hat). Vielmehr war die Sowjetunion das letzte der europäischen Länder, das Derartiges mit Deutschland unterzeichnet hat, und es handelte sich um eine durch Archivmaterial belegte Sicherheits- und Abwehrstrategie der sowjetischen Führung „vor dem Hintergrund der realen Gefahr, mit einem Zweifrontenkrieg konfrontiert zu werden – mit Deutschland im Westen und mit Japan im Osten, wo bereits intensive Kämpfe am Fluss Chalcha stattfanden“. Das „Münchner Komplott“ habe der Sowjetunion gezeigt, „dass die westlichen Länder Sicherheitsfragen lösen werden, ohne Rücksicht auf die sowjetischen Interessen zu nehmen und bei passender Gelegenheit eine antisowjetische Front bilden zu können“.

In der heutigen, von den westlichen Siegermächten beeinflussten deutschen Geschichtsschreibung werden diese Zusammenhänge zumeist verschwiegen oder falsch dargestellt. Putin schreibt dazu, man könne Stalin zu Recht vieles vorwerfen, nicht jedoch einen Mangel an Verständnis der äußeren Bedrohungen für die Sowjetunion, die versuchte, nicht allein gegen das Deutsche Reich und seine etwaigen Verbündeten dazustehen. Im Übrigen habe der Oberste Sowjet in einer Verordnung vom 24. Dezember 1989 die Geheimprotokolle zum Hitler-Stalin-Pakts offiziell als einen „Akt der persönlichen Macht“, der nicht dem Willen des sowjetischen Volkes entsprach, verurteilt.

Man wisse nicht, schreibt Putin, ob es geheime Protokolle und Anhänge zu den Abkommen der anderen Länder mit Nazi-Deutschland gab. Aber heute zögen es diese Staaten vor, „sich nicht an die Abkommen zu erinnern, unter denen die Unterschriften der Nazis und westlicher Politiker stehen“. Nicht zu vergessen sei dabei „die rechtliche oder politische Bewertung dieser Zusammenarbeit, darunter auch der stillschweigenden Kompromissbereitschaft einiger europäischer Politiker mit den barbarischen Plänen der Nazis bis zu ihrer direkten Förderung.“ Zitiert wird der zynische Satz des polnischen Botschafters Jozef Lipski in einem Gespräch mit Hitler am 20. September 1938: „…Für die Lösung der jüdischen Frage werden wir [Polen] ihm… ein schönes Denkmal in Warschau aufstellen“.

Es folgt eine Aufforderung an andere Staaten, den Prozess der Öffnung ihrer Archive, „ die Veröffentlichung bisher unbekannter Dokumente aus der Vorkriegs- und Kriegszeit zu intensivieren“. Russland sei bereit für eine Zusammenarbeit an Forschungsprojekten von Historikern.

Der Zweite Weltkrieg

Im Weiteren geht Putin auf den Zweiten Weltkrieg und die Rolle Russlands bei der Bekämpfung des deutschen Faschismus‘ ein. Er schreibt: „Es war naiv zu glauben, dass Hitler keine weiteren territorialen Ansprüche erheben würde, nachdem er mit der Tschechoslowakei fertig war. Diesmal gegenüber seinem jüngsten Komplizen bei der Teilung der Tschechoslowakei – Polen. Als Anlass diente hier übrigens auch das Erbe von Versailles – das Schicksal des so genannten Danziger Korridors. Die darauffolgende Tragödie Polens liegt voll und ganz auf dem Gewissen der damaligen polnischen Führung, die die Bildung des Militärbündnisses zwischen England, Frankreich und der Sowjetunion verhinderte, sich auf die Hilfe der westlichen Partner verließ und sein Volk unter die Walze der Hitler-Zerstörungsmaschine stellte… Und die militärpolitische Spitze Polens flüchtete bis zum 17. September auf das Territorium Rumäniens und verriet ihr Volk, das den Kampf gegen die Eindringlinge fortsetzte.“

Auch die Rolle Frankreichs und Englands sieht Putin kritisch: Ein „direkter Verrat“ an ihren Bündnisverpflichtungen gegenüber Polen sei nicht zu übersehen, weil sie zunächst nicht in die Offensive gingen. Die Sowjetunion habe abgewartet und sich dem Bündnis Deutschlands, Italiens und Japans verweigert. Die westlichen Länder seien mit den sowjetischen Aktionen, die dem Wunsch nach Sicherheit gedient hätten, einverstanden gewesen. Die russische Armee habe seinerzeit Gebiete bis an die sogenannte Curzon-Linie besetzt, „die nicht zu Polen gehören und die Polen nach dem Ersten Weltkrieg gewaltsam besetzt hatte“ (so der zitierte ehemalige britische Premierminister David Lloyd George).(7) Insofern sei das russische Vorrücken nicht mit dem der Deutschen zu vergleichen. Hitler habe dann die Sowjetunion angegriffen („Unternehmen Barbarossa“), weil ihm klar gewesen sei, „dass gerade die Sowjetunion die Hauptstärke war, die ihm in Europa gegenüberstand, und dass der bevorstehende Kampf im Osten den Ausgang des Weltkriegs bestimmen würde.“ Er sei überzeugt gewesen, dass der Feldzug nach Moskau kurz und erfolgreich sein würde.

Putin fährt fort: „Der Zweite Weltkrieg brach nicht von heute auf morgen aus, er begann nicht unerwartet, nicht plötzlich. Und die deutsche Aggression gegen Polen war auch nicht unerwartet. Es ist das Ergebnis vieler Tendenzen und Faktoren in der Weltpolitik jener Zeit.“ Daher sei es ungerecht zu behaupten, der zweitägige Besuch des Nazi-Außenministers Ribbentrop in Moskau sei der zentrale Grund, der zum Zweiten Weltkrieg geführt habe. Der russische Präsident vertritt die Ansicht, alle führenden Länder hätten seinen Ausbruch „in dem einen oder anderen Maße zu verantworten“, jedes dieser Länder habe „nicht wiedergutzumachende Fehler in der selbstgefälligen Zuversicht begangen, dass man andere überlisten, einseitige Vorteile für sich gewinnen und dem heranrückenden globalen Unheil ausweichen kann.“ Diese Kurzsichtigkeit, der „Verzicht auf die Schaffung eines Systems der kollektiven Sicherheit“ habe Millionen Menschenleben und riesige Verluste gefordert.

Bewahrung des historischen Gedächtnisses

Ausdrücklich betont Putin, er wolle nicht die Rolle eines Richters in der Absicht übernehmen, „jemanden zu beschuldigen oder zu rechtfertigen oder gar eine neue Runde der internationalen Informationskonfrontation im historischen Bereich loszutreten, die Staaten und Völker gegeneinander aufbringen kann.“ Er ist der Meinung, „dass die Suche nach ausgewogenen Bewertungen vergangener Ereignisse der akademischen Wissenschaft mit einer breiten Vertretung namhafter Forscher überlassen werden sollte“, um „Wahrheit und Objektivität“ herzustellen. Ein derartiger Ansatz würde es ermöglichen, „die damals begangenen Fehler nicht mehr zu wiederholen und eine friedliche und erfolgreiche Entwicklung für die kommenden vielen Jahre sicherzustellen“.

Allerdings, so Putin weiter, seien „viele unserer Partner“ nicht zu einer Zusammenarbeit bereit. „Im Gegenteil, um ihre Ziele zu erreichen, erhöhen sie die Anzahl und das Ausmaß der Informationsangriffe gegen unser Land, wollen es dazu bringen, dass es sich rechtfertigt und schuldig fühlt; sie verabschieden durch und durch scheinheilige politisierte Resolutionen. So wurde in der am 19. September 2019 vom Europäischen Parlament gebilligten Entschließung zur ‚Erhaltung des historischen Gedächtnisses für die Zukunft Europas‘ die UdSSR zusammen mit Nazideutschland direkt beschuldigt, den Zweiten Weltkrieg entfesselt zu haben.“ Aber in dieser Resolution, die offenbar Skandale bezwecke und reale Gefahren in sich berge, fehle „jegliche Erwähnung von München“ (also der Rolle Polens nach dem Münchner Abkommen).

Wer den Konsens einer Friedenspolitik bewusst in Frage stelle, zerstöre „die Grundlagen des gesamten Nachkriegseuropas“, schreibt Putin. Es sei eine Gemeinheit, wenn in den Erklärungen zum 75. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs alle Mitglieder der Anti-Hitler-Koalition außer der UdSSR aufgelistet werden. In diesem Zusammenhang stellt er fest, dass es keine Archivdokumente gibt, „die die Absicht der Sowjetunion bestätigen würden, einen Präventivkrieg gegen Deutschland zu starten“. Als abscheulich empfindet er die Ermordung von Gegnern der Erben des Faschisten Bandera und Neonazis in der Ukraine.

Dem opferreichen Widerstand der Sowjetunion widmet Putin einen längeren Abschnitt, der das dramatische Geschehen in dem vom Krieg überzogenen Land verdeutlicht und die für den Sieg über Nazi-Deutschland entscheidenden Leistungen der Roten Armee hervorhebt – frei von anti-deutschen Tendenzen! Die genannten Zahlen sind erschreckend und sollten russophobe deutsche Politiker und Journalisten beschämen: „Fast 27 Millionen Sowjetbürger starben an den Fronten, in deutscher Gefangenschaft, an Hunger oder unter Bombenangriffen in den Ghettos und Öfen der Todeslager der Nazis. Die UdSSR verlor jeden siebten Bürger…“

Putin setzt auf die „Großen Fünf“

Gegen Ende des Artikels geht Putin auf den historischen Revisionismus ein, „dessen Erscheinungen wir heute im Westen beobachten“. Er sei gefährlich, „weil dadurch das Verständnis von den Grundsätzen einer friedlichen Entwicklung grob und zynisch verzerrt wird, die 1945 mit den Konferenzen von Jalta und San Francisco gestiftet wurden“. Die wichtigste historische Errungenschaft der damaligen Zeit liege in der Einigung „auf einen Mechanismus, der es den führenden Mächten ermöglichen könnte, bei allen zwischen ihnen auftretenden Meinungsverschiedenheiten doch im durch die Diplomatie vorgegebenen Rahmen zu bleiben“. Denn die gewaltsame Regelung von Streitigkeiten sei eine ernste Gefahr für die Existenz der Menschheit geworden, und das hätten die Sieger des Zweiten Weltkriegs seinerzeit nach den ersten Atombombenabwürfen begriffen.

Putin ist überzeugt, dass die UNO mit ihrem Sicherheitsrat immer noch ihre Hauptaufgabe erfüllt: die „Verhinderung eines großen Krieges oder eines globalen Konflikts“. Die Forderung, das Vetorecht abzuschaffen, hält er für unverantwortlich, weil die UNO damit das Schicksal des Völkerbundes teilen würde. Es gehe darum, weiter Formen friedlicher Koexistenz und Interaktion zu finden – soweit es den Wunsch und den Willen dafür gebe. Putin setzt dabei auf ein Treffen der Staats- und Regierungschefs der Atommächte China, USA, Frankreich, Großbritannien und Russland und nennt die zu erörternden Themen: die Lage der Weltwirtschaft, Friedenserhalt, Verbesserung der globalen und regionalen Sicherheit, strategische Rüstungskontrolle sowie gemeinsames Vorgehen gegen Terrorismus, Extremismus und weitere Herausforderungen und Bedrohungen.

Dem ist zu entnehmen, dass Putin, der seine Hoffnungen auf Ausgleich und Frieden ostentativ auf den Gipfel der „Großen Fünf“ richtet, nach einer Phase ständiger Zurückweisungen ganz offensichtlich seine Hoffnungen und das Vertrauen in Deutschland als friedenspolitischer Macht verloren hat. Das ist verständlich, dazu haben nicht zuletzt US-affine Politikerinnen wie Angela Merkel, Ursula von der Leyen und Annegret Kramp-Karrenbauer beigetragen, aber auch extrem russophobe Politiker wie Frank-Walter Steinmeier, Norbert Röttgen oder Reinhard Bütikofer, um nur einige von vielen zu nennen.

Immerhin bemüht sich Wladimir Putin, Deutschland als Einflussgebiet der USA nicht bloßzustellen, sondern unter Verwendung von Archivmaterial den Blick auf die Hintergründe des Zweiten Weltkriegs zu lenken, für den Deutschland nicht allein die Verantwortung trägt, Russland schon gar nicht. Insofern ist seine Abhandlung eine Klarstellung, und zugleich ist sie ein friedenspolitisches Dokument von weltgeschichtlicher Bedeutung.


Der Schriftsteller und Publizist Dr. jur. Wolfgang Bittner lebt in Göttingen. 2019 sind von ihm der Roman „Die Heimat, der Krieg und der Goldene Westen“ sowie das Sachbuch „Der neue West-Ost-Konflikt – Inszenierung einer Krise“ erschienen. Siehe auch: https://kenfm.de/im-gespraech-wolfgang-bittner/


Fußnoten:

(1) Siehe: https://nationalinterest.org/feature/vladimir-putin-real-lessons-75th-anniversary-world-war-ii-162982 (20.6.2020)
(2) Siehe: https://russische-botschaft.ru/de/2020/06/19/75-jahrestag-des-grossen-sieges-gemeinsame-verantwortung-vor-geschichte-und-zukunft/ (20.6.2020)
(3) Europäisches Parlament, Bedeutung der Erinnerung an die europäische Vergangenheit für die Zukunft Europas, 19.9.2019, https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2019-0021_DE.html (25.6.2020)
(4) Zitiert nach der Übersetzung der Russischen Botschaft, auch im Folgenden.
(5) Ausführlich zum 1. Weltkrieg, Versailler Vertrag, Aufstieg Hitlers und 2. Weltkrieg: Wolfgang Bittner, Der neue West-Ostkonflikt – Inszenierung einer Krise, Verlag zeitgeist 2019, S. 113-139.
(6) Anfang Oktober 1938 besetzten polnische Truppen das tschechoslowakische Olsagebiet (Teschen), während Deutschland in das Sudetenland einmarschierte.
(7) Im Krieg gegen die durch Bürgerkrieg geschwächte Sowjetunion (1919-1921) hat Polen unter Marschall Pilsudski sowjetische Gebiete im Baltikum, in Weißrussland und der Ukraine annektiert.


Erstveröffentlichung: kenfm.de



Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen